Sarajevo – Jugend ohne Jugend

Reportage
zuerst erschienen am 1. Oktober 1998 in Die Weltwoche Nr. 40, S. 80-83
Sie leben noch. Aber es fehlen ihnen ein paar Jahre, wichtige Jahre. Während des Krieges in Bosnien waren sie ausschließlich mit dem Überleben beschäftigt. Sie gingen kaum in die Schule, die Mädchen hatten kaum mit Jungen zu tun, die Jungen kaum mit Mädchen. Sie haben viel verpasst, sind deshalb noch naive kleine Kinder. Sie haben zu viel erlebt und sind deshalb abgeklärte alte Männer und Frauen. Jetzt wollen sie alles nachholen, sie wissen aber nicht genau was, die Jugendlichen von Sarajevo, denen der Krieg die Pubertät gestohlen hat.

Alma

Alma ist achtzehn und nicht nur schön, sondern wunderschön. Sie ist lebenshungrig, tanzwütig, Nightlife-süchtig; von seltsamen Mächten getrieben, hinaus- und unterzugehen im Vergnügen. „Leben, ich will leben, ohne Langeweile.“ Sie brauche „Fun, Fun, Fun“ und „Schönheit, denn Schönheit ist nach einem Krieg besonders wichtig“.

Manchmal, plötzlich und unvermittelt, ist Alma zwölf, naiv, unsicher, unwissend, ein Kind im Körper einer Frau, fehl am Platz in der richtigen Welt. Dann sagt Alma: „Ich singe gerne!“ Und singt los, mitten in einem vollen Café. Oder sie sagt:

„Ich versteh’ das nicht“ und schaut ihr Gegenüber hilflos an. Da fehlen Alma die fünfeinhalb Jahre, die sie in Kellern verbracht hat oder flach auf dem Boden in der Zwei-Zimmer-Wohnung, in der sie mit ihren beiden Schwestern und der Mutter während des Krieges in der Altstadt lebte.

Als Granaten einschlugen, Heckenschützen mordeten und Alma, wenn sie es mal wagte, durch die Schlitze der vernagelten Fenster hinauszuspähen, jedes Mal neue Leichen auf der Straße sah. In diesem Krieg wurde aus dem Kind eine Frau. Als Hunger herrschte und Trinkwasser und Brennholz holen ein Todesspiel war, in diesem Schrecken wurde sie zur Schönheit. Sie war von ihrer alleinerziehenden Mutter und ihren Schwestern vorbereitet, aber „als ich das erste Mal meine Periode bekam, hatte ich Angst, ich dachte, es hätte mit dem Krieg zu tun, sei eine Verletzung“.

Sie schwankt zwischen Selbstsicherheit – „Ich glaube, ich bin nicht hässlich; meine Schönheit ist wichtig für mich, ich brauche sie“ – und Unsicherheit: „Ich habe keinen Freund, ich weiß nicht, ob ich Jungs überhaupt gefalle.“ Sie sagt das, steht auf und geht los. Es ist ein grandioser Auftritt, Alma schreitet mit ihrem perfekt einstudierten Model-Gang, einen Fuß exakt vor den anderen setzend, über die Terrasse. Bei einer leichten Drehung des Kopfes nimmt sie wahr, dass von den fünf Männern im Café vier ihr nachschauen. Der fünfte versucht, in das Gesicht der Frau, die ihm gegenüber sitzt, zu blicken. Die nimmt ihn nicht wahr, sie schaut Alma nach.

„Ich hatte fünf Jahre keine Freundin, sah und sprach keine Jungs, war nicht in der Schule.“ Alma hat die sechste Klasse beendet, ging danach einmal die Woche zur Schule - „wenn keine Granaten fielen“. Sie arbeitet seit kurzem im „Joy-Café“. Alles Geld, das sie nicht ihrer Mutter gibt, geht für Klamotten drauf. „Kleider sind für mich wichtiger als Essen. Ich will etwas ausstrahlen.“ Was? „Na, dass der Krieg vorbei ist, Schönheit, Leben.“

Gerade hatte sie ihren ersten Auftrag als Model. Bald wird der Spot im bosnischen Fernsehen gezeigt: Alma, hinter einer Glastheke, gibt der Kundin Räucherwurst und lächelt in die Kamera. „Ich werde Mannequin!“ Sie sagt das so, wie ein fünfjähriger Junge sagt: „Ich werde Lokomotivführer!“ Alma kann nur Bosnisch. „Ich muss Englisch lernen und Italienisch und vielleicht Französisch und Deutsch, Sprachen, die man braucht, um als Model arbeiten zu können, und ich muss meiner Mutter helfen, die kaputte Wohnung herzurichten.“

Elma

Elma sitzt auf der uralten Couch im Wohnzimmer mit dem Blick auf die sogenannte „Sniper Alley“, die Scharfschützenallee, und drückt ihren kleinen, zerzausten Teddy an ihren Busen. Zwei Sätze wiederholt sie unüberhörbar oft: „Ich will und kann nicht planen!“ ist der eine, „ich bin sehr optimistisch!“ der andere. Die Zwanzigjährige mit den schwarzen Haaren und den Kulleraugen macht gerne auf jünger und verzieht die schönen, ungeschminkten Lippen zu einem Schmollmund: „Ich will nicht über ernsthafte Dinge reden. Jetzt ist Popmusik angesagt oder etwas, über das man lachen und kichern kann.“

Dann ist sie plötzlich ganz erwachsen und doziert über ihr Regredieren: „Ich war im Krieg drei Jahre mit meiner zwölfjährigen Schwester in Zagreb bei einem Onkel. Ich war fünfzehn, als wir dort ankamen, und musste ihre Mutter sein. Von einem Tag auf den anderen. Ich trug alle Verantwortung, ich musste stark sein. Ich war eine gute Mutter. Aber jetzt ist das vorbei. Wir leben wieder bei den Eltern, und ich bin wieder Tochter und sehr zufrieden mit meinem Leben.“

Doch sofort schränkt sie ein: „Manchmal falle ich in dunkle Gedanken. Aer das ist doch normal, wenn wichtige Jahre deines Lebens kaputtgemacht wurden.“ Dann lacht sie laut und sagt: „Ich habe keine Traumata, ich bin sehr optimistisch, es macht Spaß, jetzt und hier zu leben. Sarajevo ist eine tolle Stadt.“ Sie dreht sich einmal um sich selbst auf dem von Granatsplittern beschädigten Kopfsteinpflaster in der Fußgängerzone. Dann ruft sie „Juuuuuhhhh!“ Dreht sich erneut und sagt: „Man muss für alles offen sein, dann spürt man die Aufbruchsstimmung, das Neue. Natürlich, viele haben kaum Geld, aber sie wollen Spaß, das macht das Leben hier so spannend.“

Elma hat keinen Freund und hatte bisher noch keinen, „das wäre mir zu früh“. Sie studiert Geschichte an der Universität Sarajevo. „Dabei wird mir bewusst, dass die Menschen immer wieder Fehler machen, sie lernen aus der Geschichte nichts.“

Sie war das erste und das letzte Kriegsjahr in Sarajevo. „Ich hatte viel Angst, ich wollte nicht sterben, ohne etwas erlebt zu haben.“ Sie lacht, rennt voraus, dreht sich zurück und ruft: „Ich denke nicht mehr an den Krieg, ich bin sehr optimistisch.“ Sie gehe jeden Abend aus. „Nachholbedarf. Ich muss tanzen, das ist eine gute Methode, negative Energie los zu werden.“ Sie fängt auf der Straße an zu tanzen, zu einer Musik, die nur in ihrem Kopf ertönt. Sie quietscht vor Vergnügen und bekräftigt einmal mehr: „Ich bin sehr optimistisch, und jetzt lasst uns tanzen gehen.“

Amel

Amel, achtzehn, ist cool, ultracool. Der Junge ist an Zynismus kaum zu überbieten. „Es ist sehr lustig, nach mehr als fünf Jahren Pause wieder mit dem Leben anzufangen, ein gutes Gefühl, macht wirklich Spaß, selbst wenn du nur aufs Klo gehst.“

Der Start war gut. Sein älterer Bruder hat ihm, „weil wir im Schutzkeller wirklich nichts anderes zu tun hatten“, perfektes Englisch beigebracht. Amel hat jetzt eine Job als Dolmetscher bei der MPRI, der amerikanischen Söldnerfirma, die Bosniens Armee wieder kriegstauglich drillt. „Die Soldaten zerlegen Maschinenpistolen und bauen sie wieder zusammen. Oder sie legen sich unter Fahrzeuge und kleben irgendwas dran. Ein Ami steht dabei, weist sie an, ich übersetze, was er sagt: Ein echt cooler Job.“ Amel verdient 1500 Mark. Das ist dreimal mehr als seine Eltern zusammen verdienen.

Zukunftswünsche? „Klar, ein Job bei der UNO, die zahlen 1800 Mark.“ Nein, nein, er habe keine wirklich wichtigen Pläne, keine Träume. „Fünf Jahre in Sarajevo im Krieg und du hast eines gelernt: Plane höchstens bis morgen, nicht weiter. Die nächste Granate könnte alles ändern.“ Also habe er keine Probleme damit, dass die Amis wahrscheinlich nicht mehr lange hier sein werden und  sein Superjob verloren gehen könnte.

„Ich habe gelernt, jeden Morgen aufzustehen mit dem Gefühl, das könnte mein letzter Tag sein, also genieße ich ihn, auch wenn ich in der Nacht davor viel zu spät ins Bett bin.“

Keine Träume? „Keinen einzigen, ich wünsche mir nur, dass es heute in der Disco lustig wird.“ Und wo will er in fünf Jahren sein? „Darüber denke ich nicht nach.“ Tatsächlich? „Naja, vielleicht würde ich gerne mal durch die Welt ziehen, an jedem Tag in einer anderen Stadt sein. Aber das wäre ein Scheißaufwand mit den Visa.“

Vielleicht verpasst du was? Quatsch, mein Leben ist mir gestohlen worden, und ich habe es wieder eingefangen.“ Also doch ein paar Träume? „Nein! Wie willst du träumen, wenn du nicht weißt, was heute Nachmittag passiert? Ich trinke jetzt noch einen kalten Orangensaft, weiter will ich nicht vorausdenken. Ich habe gerade ein tolles Leben und will es mir nicht mit Nachdenken vermiesen.“

Emilia

Die Augen! Emilia ist zwanzig, aber sie hat die Augen einer Frau, die alles gesehen, alles erlebt hat. Sie sind dunkel, haben eine seltsame, nicht zu bestimmende Farbe, sie sind tief in den Höhlen und drum herum ist die Haut fast schwarz. Emilia sieht aus, als hätte sie seit Wochen nicht mehr geschlafen, als hätte sie ununterbrochen gesoffen und geraucht. Das sind keine Augenhöhlen mehr, das sind Krater.

„Ich habe gut geschlafen“, sagt sie, schnappt sich die Gitarre und klimpert „Horse with no name“. Melancholie und Tristesse erfüllen das kleine Zimmer. Musik habe ihr viel geholfen während des Krieges. „Wir haben eine Zeitlang fast nur im Keller gelebt, da wurde viel gesungen. Jetzt geht es darum, gut zu leben.“ Sie gehe möglichst oft aus. „Sarajevo hat ein tolles Nachtleben. Alle wollen sich amüsieren. Die jungen Leute hier sind hungrig.“

Abends im „Café Internet“, dem derzeit hippsten Platz in der Stadt, ist Emilia hellgeschminkt. Doch trotzdem beherrschen die dunklen Augenränder ihr Gesicht. Sie sitzt am Tisch und wirkt plötzlich ganz jung, als wäre sie ein kleiner, naiver Teenager. Die Füße stampfen den Takt der Musik, die Hände sind in Bewegung, und die Frau, die so tiefsinnig schauen kann, lacht und kreischt und zirpt kindlich: „Ja, ich bin schizophren. Manchmal fühle ich mich alt und wissend, ich bin zwanzig und habe gehungert und gefroren, ich habe den Tod oft gesehen. Einmal schlug eine Kugel neben mir ein, als ich wie Wasser holte. Manchmal fühle ich mich wie ein kleines Kind, mir fehlt etwas, das Erwachsene haben, obwohl ich erwachsen bin.“

Emilias Mutter ist Serbin, war während der serbischen Belagerung in der Stadt, „deshalb kann ich dieses Serben-, Kroaten-, Bosnier-Zeug nicht nachvollziehen, das ist alles sinnlos“.  Emilia studiert Kinderpsychiatrie an der Universität Sarajevo. „Es wird ein perfekter Beruf für mich, Kindern zu helfen, die keine Eltern mehr haben.“

Haris

Haris ist siebzehn. Der Krieg hat ihn kaputt gemacht. Er überlebte, unverletzt, aber psychisch ist der Junge angeschlagen. Stundenlang merkt man davon gar nichts, wirkt er normal, vernünftig, gefasst. Dann Plötzlich wird er komisch, wirklich komisch. Er kichert grundlos. Oder er sitzt da und schweigt, reagiert nicht. Man kann ihn ansprechen, berühren, Haris ist nicht da. Manchmal drängt er, ein Einzelkind, zu seiner Mutter, klammert sich an sie wie ein Baby.

Einmal die Woche darf er bis zehn Uhr ausgehen. Aber er geht nicht. Er hat keine Freunde und große Schwierigkeiten mit Menschen zu reden. Er schaut zur Wand wenn er spricht, kann stundenlang Blickkontakt vermeiden. Haris mit der Riesenbrille ist klein und schmächtig. Aber seine Bizepse sehen aus als würde er sie trainieren.

Sechzehn Monate ohne Unterbrechung war er in der Zwei-Zimmer-Wohnung in der Altstadt, die direkt im Schussfeld der serbischen Heckenschützen lag. Sechzehn Monate, kein einziges Mal ging er vor die Tür. Zweimal hat er es versucht. Beim ersten Versuch kam er nicht weit: Er rannte los, täuschte auf dem schmalen Flur einen Ausfall nach links an, stürmte aber rechts an seiner Großmutter und seinem Vater vorbei. Seine Mutter, eine resolute, drahtige Frau, erwischte ihn im Treppenhaus, packte ihn. Sie fielen die Treppe runter. Die Mutter gab ihm Ohrfeigen, damit er wieder vernünftig werde. Er hat sich später bei ihr dafür bedankt.

„Manchmal war es ruhig, keine Granaten, keine Schüsse, dann haen wir uns im Hausflur mit den Nachbarn getroffen. Kein Licht. Wir saßen im Dunkeln und haben gemeinsam geträumt.“

Besonders unerträglich ist Haris die Geschichte mit der Granate. Er kann sie nur bruchstückhaft erzählen, ein paar Sätze hier, ein paar in einer halben Stunde, ein paar am nächsten Tag. Das war, als seine Eltern ihn wieder rausließen, weil die Frontlinie sich verschoben hatte und ihr Viertel weniger beschossen wurde.

Er geht Wasser holen in der Brauerei. Im Hof steht der Tankwagen. Haris stellt sich an, wartet eine halbe Stunde bis seine Kanister endlich gefüllt werden. Ab und zu hört er Granaten in der Luft, ab und zu Einschläge. Er schleppt das Wasser heim, nimmt zwei neue Kanister und geht wieder los. „Als ich in den Hof komme, liegen dort Leichen, ich sehe Blut fließen, einige Leute schreien am Boden. Der Laster ist weg, sein Metall ist über den Hof verstreut. Ich bin heimgerannt.“

Haris ist stolz darauf, dass er die Kanister mit zurück nahm. Und er ist stolz auf seine Bizepse. „Dabei sind sie gar nicht so groß, wie sie einmal waren.“ Nein, er trainiere nicht. „Das kommt vom Wasserholen In jeder Hand ein Kanister mit zehn Liter Wasser, zehnmal am Tag, da bekommst du Muskeln.“ Träumst du, Haris? „Meine Träume wurden mir weggenommen, ich habe nur noch Alpträume.“ Hast du Ziele? „Ich will einen Beruf, der uns Geld bringt. Ich würde meiner Mutter gerne etwas Schönes schenken.“ Er geht jetzt wieder zur Schule, obwohl es ihm sinnlos vorkommt, aber seine Mutter will es so. Harris schweigt, dann: „Zum Glück bin ich psychisch nicht krank.“ Eine Minute nachdem er das gesagt hat, hupt draußen ein Auto. Haris duckt sich blitzschnell und reißt die Augen dabei weit auf. Er kommt zitternd wieder hoch und beantwortet keine Frage mehr.

Dschanala    

Dschanala ist achtzehn und verkauft Eis im Park an den Quellen der Bosna, einem idyllischen aber überfüllten Ausflugsziel. Wie viele junge Frauen in Bosnien ist sie manchmal kindlich naiv, dann abgeklärt erwachsen.

Auf die Frage nach ihrem Traum, ihrem Lebensziel antwortet sie: „Ich träume von einem Job für den Winter, zur Not putze ich.“ Das ist doch aber kein Traum! Den Einspruch versteht sie nicht. „Ein Job ist Geld ist ein Traum.“ Warum? „Na, ich brauche Geld zum Ausgehen. Mir wurden fünf Jahre genommen, jetzt will ich ausgehen, tanzen, ich will schöne Kleider kaufen.“ Doch im Laufe des Gesprächs stellt sich heraus, dass sie nicht ausgeht, sich keine schönen Kleider kauft, obwohl sie im Moment Geld verdient. „ich bleibe daheim, weil ich viel Zeit für mich brauche. Zum Stabilisieren. Ich sitze und schaue aus dem Fenster. Das hilft mir.“

Jungs? Sex? Sie kichert. „Ich habe Angst vor Jungs. Ich kann mich an Spielkameraden erinnern, dann habe ich jahrelang keinen Jungen gesehen. Und als ich wieder welche sah, war alles anders. Ganz seltsam. Ich brauche viel Zeit für mich selbst.“ Was war früher denn so anders? „Alles, ich bin älter und werde nervös, wenn ich mit Männern rede.“

Dschanala kommt aus einem Gebiet, das im Krieg von den Serben erobert wurde, viele Nachbarn starben, zwei Cousins, ein Onkel ebenfalls, die Familie floh nach Sarajevo. Inzwischen wohnt Dschanala mit ihren Eltern und der jüngeren Schwester in Hidscha. „Das ist nicht weit von Sarajevo. Man kann abends in die Stadt. Eine schöne Stadt, nachts ist viel los.“ Hat sie gehört. Doch wie gesagt: Ausgegangen ist sie dieses Jahr noch nie. „Ich mach das nicht gerne. Ich fühle mich unwohl unter Leuten.“

Als Eisverkäuferin hat sie mit viele Menschen zu tun. „Manchmal habe ich Angst. Aber ich will arbeiten. Mein Traum ist es, von niemandem abhängig zu sein und für mich selbst zu sorgen. Träume? „Model, das wäre ein Traum.“

Vedo

Vedo ist ein Showman, ein Sprücheklopfer. „Ich möchte kreativ sein, ich muss kreativ sein“, sagt der Neunzehnjährige und erzählt, dass er Theater spielt, dass er Gitarrist von „Runaway Corp“, einer Grunge-Band ist. „Ich bin kreativ, um meine Kriegserlebnisse zu verarbeiten. Ich geb’ dir nachher eine Kassette mit meiner Musik.“

Die Kassette gibt es wahrscheinlich nicht. Drei Tage später ist sie jedenfalls noch nicht aufgetaucht. Vedo hat inzwischen fünfmal Wendungen gebraucht wie „ich hol’ sie gleich“ oder „ich bring’ sie nachher mit“. Genau das gleiche wiederholt sich mit den Bildern von der Theateraufführung, in der er mitgespielt hat. Ein Freund erzählt heimlich, dass Vedo einen Zwei-Minuten-Auftritt ohne Worte hatte und dass das Stück nur einmal aufgeführt wurde.

Im Krieg ging Vedo auch Wasser holen. Er marschierte über die Scharfschützenallee, den Berg hoch, und kurz vor dem Hydranten knallte der Scharfschütze los. „Ich hatte ein XL-T-Shirt an. Es war beim Laufen aus der Hose gerutscht. Ich ging in Deckung. Das T-Shirt wehte hinter mir her. Als ich heimkam, entdeckte meine Mutter, dass ich hinten ein Einschussloch im T-Shirt hatte. Ich habe es aufgehoben, ich zeige es dir nachher.“ Er zeigt es nicht, obwohl er es noch dreimal ankündigt.

Vedo hat immer das Gefühl, etwas bieten zu müssen, Kriegsgeschichten, möglichst existentialistische Sprüche, Tiefschürfendes, Provokantes. „Wir haben uns nicht um den Krieg gekümmert, wir, die Band, wir haben geprobt.“ Oder: „man kann in einem Krieg viel für sein späteres Leben lernen“. Der Junge steht unter Druck. Er sagt: „Wir alle reden nicht gerne über den Krieg, wir wollen die harten Zeiten vergessen.“ Und dann sprudelt er los, erzählt vom Krieg und hört nicht mehr auf. Vedo schafft es, die Frage nach Träumen und Zielen zehnmal zu ignorieren. Den Satz: „Vedo, ich glaub’ dir das nicht“, nimmt er nicht wahr. Er erzählt von seinem Freund Eldo, der im Krieg beim Wasserholen erschossen wurde. Später stellt sich heraus, dass keiner aus der Clique Eldo kannte. Am nächsten Tag antwortet Vedo: „Eldo? Häh?“ Dann referiert er über „Humor, eine wichtige Sache, um im Krieg den Verstand zu behalten.“

Später meint er unvermittelt: „Vielleicht kommt die Band groß raus. Du solltest Dir mal die Kassette anhören. Ich bring sie heute Abend mit.“

Lejla

Lejla, zwanzig, hat Abitur. Die Eltern gingen gerade noch rechtzeitig nach Deutschland. Kurz bevor Sarajevo eingekesselt war, kam die Familie in Brandenburg an. Lejla ist clever, spricht perfekt Deutsch, hat einen Abi-Notendurchschnitt der mit einer Eins beginnt und hatte, drei Wochen nach der Rückkehr, die berüchtigte Aufnahmeprüfung der Kunstakademie Sarajevo bestanden.

„Wahrscheinlich habe ich hier viel Lebenserfahrung verpasst. Es herrscht Anarchie in Bosnien. Wer stärker ist, gewinnt. Aber ich habe das Gefühl, ich komme zurecht.“ Sie hätte nicht zurückkehren müssen, die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in Deutschland war ihr sicher. „Ich wollte hierher. Ich war ein paar Tage zur Probe da und habe gespürt: Sarajevo ist voll von Lebenslust. Hier ist wirklich etwas los.“ Und sie will dabei sein.

„Ich bin natürlich Außenseiterin. Im Krieg war ich nicht hier, das wirft mir zwar keiner vor, aber ich habe das immer im Hinterkopf.“ Rasch hat sie gemerkt, wer ihr traut und wer nicht. „Wer dir seine Erlebnisse erzählt, ist dein Freund. Wer nicht, will Distanz.“

Lejla malt Ölbilder. Erfolg als Malerin wäre ihr Traum. Noch sind ihre Bilder ein Mischmasch aus verschiedenen Stilen ohne viele persönliche Eigenheiten. Aber das könne  sich ja noch ändern. Wenn nicht, „werde ich Dolmetscherin oder irgendwas anderes. Hier ist Aufbruchszeit. Wenn du dich jetzt reinhängst, kannst du mitgestalten und mitverdienen. Es wird viel passieren in Sarajevo. Ich möchte dabei sein. Das ist doch ein Ziel.“

Faris

Ist Faris auf Drogen? Er sitzt da, grinst dümmlich vor sich hin, beteiligt sich nicht an Gesprächen, scheint weit, weit weg. Er ist achtzehn und hat gerade einen Job als Model geschmissen, Klamotten vorführen, „ein Scheißjob, schlecht bezahlt“, grunzt er, als er aus seinem Nirwana auftaucht. Zur Zeit hängt er nur rum, hat tagsüber nichts zu tun.

Seine Stimme scheppert, und ständig zieht er die Nase hoch, als wäre er erkältet. Dabei ist es draußen seit Wochen mindestens dreißig Grad. „Ich mag die – schnief – Situation hier. Schnief. Ich bin zufrieden hier. Schnief. Ich gehe jeden Abend aus. Schnief. Ich würde gerne auf die Schule gehen. Aber mir fehlen fünf Schuljahre.“ Danach ist Faris wieder für eine Stunde geistig abwesend.

Draußen auf dem Basketball-Platz mitten in der Plattenbausiedlung spielt er nicht mit. Er legt sich ins Gras und scheint zu schlafen. Oder meditiert er? Seine Augen sind offen, aber sie sehen nichts. Faris ist irgendwo anders. Wo? Beim zweiten Mal reagiert er. „Keine Ahnung. Nein, ich träume nicht. Ich versuche, nicht zu denken.“ Das war es dann wieder für die nächsten zwei Stunden.

Im Café bestellt er Wasser und Kaffee. Das Wasserglas fällt ihm um, Wasser fließt über den kleinen Tisch. Faris reagiert extrem langsam, das Wasser läuft ihm über die Beine. Später schüttet er sich etwas Kaffee auf das T-Shirt und merkt es nicht. Und noch viel später sagt er einen Satz ohne Schnief: „Was willst Du träumen, wenn du nicht weißt, was heute noch alles passiert.“