Stoff für den Aufschwung

Reportage
zuerst erschienen am 15. Juni 2016 in Die Zeit Nr. 23, S. 25
Fassung des Autors

Einsam liegt der alte Aktenordner auf dem Zehn-Quadratmeter-Tisch im Konferenzsaal von Interspare im Gewerbegebiet Reinbek. Bereit für die Show: Dirk Polchow, Gründer und Geschäftsführer der Firma, hebt ihn bedeutungsvoll an. Eigentlich ist Polchow ein Understatement-Typ. Hamburger Kaufmann in hellblauem Hemd, mit freundlich-unverbindlichem Blick, fast unsichtbarer Brille, ruhiger Stimme. Mit der er nicht viel drum herum redet. Jetzt jedoch präsentiert er den Ordner als Schatz. Deutet auf den beklebten Rücken. „Indonesien“, „ADO“, „354“. Sagt, nein, raunt: „Wir haben die Lochkarten und Zeichnungen.“ Kontrollblick: kam die Bedeutung seiner Worte an? Er öffnet den Ordner, taucht ins Meer der Details. Erklärt. Nur Textilingenieure können noch folgen: vergilbte Durchschläge, handschriftliche Notizen, Kaufverträge, Akten aus den 1980er-Jahren als noch nichts digitalisiert wurde. Zahlen, Kürzel, Worte wie Schussfadenrichtgerät oder Mittenschneideinrichtung. Die technische Zeichnung von fünf Meter Länge hängt inzwischen vom Tisch. Dokumente aus Zeiten ohne Internet. Als Information in Köpfen und Ordnern gespeichert war. Das Know-how auf dem Tisch in Reinbek, es wird gerade in Karaj bei der Firma Payabaf dringend gebraucht, um eine Maschine wieder in Gang zu setzen.

Karaj liegt im Iran westlich von Teheran. Mit der 30 Meter langen Anlage, Polchow nennt sie Spannrahmen, produziert Payabaf dort Vorhänge. Vor dem Spannrahmen steht gerade jetzt Torben Bräuner, einer von Polchows 56 Mitarbeitern. Er ist 20 Jahre alt, stammt aus Hamburg, redet auch so, hat gerade seine Lehre als Außenhandelskaufmann bei Interspare beendet. Nun betreut er die Geschäfte in Pakistan und Iran. Bräuner beugt sich unter die Maschine, sucht die Kenn-Plakette mit der entscheidenden Nummer. Die verrät alle Geheimnisse. Mit der Nummer kann wer in Reinbek nachschauen, was für Ersatzteile passen. Ob sie auf Vorrat sind. Ob welche nachgebaut werden müssen. Was das alles kosten würde. Da ist sie, eine Stentex-Plakette. Bräuner fotografiert sie mehrmals mit dem Smartphone und schickt die Bilder direkt zu Interspare. Die Firma betreut im Iran in 268 Firmen rund 1000 Textilmaschinen. Weltweit sind es etwa 4800, vor allem in Südamerika, den USA, Asien und Afrika. Einige auch in Deutschland. Jetzt wo der Boykott endet, werden es im Iran bald mehr sein. Im Januar hatten die Europäische Union und die USA ihre fast zehn Jahre gültigen Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen den Iran ausgesetzt. Zuvor hatte die Internationale Atomaufsichtsbehörde IAEO in Wien bestätigt, der Iran halte sich an die Vereinbarungen und habe seine Kernbrennstoff-Aufbereitungsanlagen stillgelegt. Der Startschuss für einen Boom, von dem vor allem Hamburgs Hafenwirtschaft profitieren wird: Mitte März hat Irans Staatsreederei wieder den regelmäßigen Verkehr mit Hamburg begonnen. Erstmals seit Mitte 2010. Die „Azargoun“ soll in Zukunft regelmäßig alle vierzehn Tage in Hamburg löschen und laden.

Nach fast zehn Jahren Sanktionen ist der Iran ausgehungert, braucht neue Maschinen, Know-how, Handelspartner.

Die Besitzer der Textilfirmen haben während des Embargos nichts investiert, jetzt aber müssen sie: die großen Märkte in den Nachbarländern stehen ihnen bald offen. Die Iraner selbst haben Konsumheißhunger und, wenn es klappt mit dem Neustart, auch Geld ihn zu stillen. Vor allem: Die Regierung des Irans hat allein der Textilindustrie 450 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt, mit dem Auftrag Jobs zu schaffen. All das heißt: neue Maschinen und längere Laufzeiten der alten. Was für Interspare heißt: Aufträge.

Die Iraner wollen Maschinen vor allem aus Deutschland, erzählt Norbert Eisenmenger, Vorstand der Deutsch-Iranischen Handelskammer in Hamburg. Seine Prognose: Iranische Firmen kaufen deutsche Maschinen, um auf den neusten Stand zu kommen. Konsumprodukte eher weniger. Deutsche Maschinen würden Iraner denen aus Russland, USA und China vorziehen. „Aus historischen Gründen“, sagt der Kammerpräsident. Zu den 136 Mitgliedern des Vereins gehören auch ein paar Firmen aus Österreich, der Schweiz, Holland, „einfach weil Geschäfte mit dem Iran fast immer über Hamburg laufen“. Iranische Banken hatten sich in Hamburg angesiedelt, nicht in Frankfurt. Aktuell sind es vier. Nur eine davon hat eine Filiale in der Bankenmetropole am Main.

Hamburg hat mit London die größte iranische Gemeinde in Europa. „Vorher waren schon ein paar Iraner da, aber 1958 ging es richtig los, da kamen die Teppichhändler. Sieht man noch heute in der Speicherstadt an den Lagerhausschildern. Schwerpunkt war lange der Teppichhandel und Trockenfrüchte, Pistazien, Rosinen. Später Maschinen.“ Heute noch ist Hamburg weltweit wichtigster Umschlagsplatz für Perserteppiche. Viele andere Handelshäuser hätten Geschäfte im Iran gemacht. Hunderte, so Eisenmenger. Die Verbindung sei eng: „Auf dem Friedhof in Ohlsdorf gibt es eine iranische Ecke. Wenn ich U-Bahn fahre, höre ich oft Farsi.“ Die Sprache der Iraner. Er sei sich sicher, es leben mehr als die offiziell genannten 20.000 Iraner in Hamburg. „Viele haben deutsche Pässe und werden statistisch nicht mehr als Iraner erfasst.“

Viel Zeit hat er nicht für Informationen. Bei der deutsch-iranischen Handelskammer herrscht wieder Hochbetrieb. Sie berät Firmen in Zollfragen, veranstaltet Seminare, In-house-Schulungen bei Firmen, organisiert Bonitätsauskünfte aus dem Iran, vermittelt Übersetzer, Anwälte, Agenten. Noch gibt es viel abzuklären, noch gibt es keine Ausfallbürgschaften. Aber: „Es geht endlich los. Nachholbedarf, großer Nachholbedarf.“ Die letzten Statistiken von 2014 sagen: Deutsche Firmen verkauften Waren für 2,38 Milliarden Euro in den Iran. 2005 war es noch doppelt so viel. Als nächster Handelspartner folgt Italien in der 2014er-Iran-Statistik mit 1,1 Milliarden Euro.

Die Einnahmen von Interspare aus dem Iran sind in der Statistik enthalten. Weil Textilmaschinen nicht mal „Dual Use Status“ hatten. Es war absolut klar, dass sie nicht für Waffenproduktion eingesetzt werden können. Sanktionen gab es keine für Interspare. Es gab Verwaltungskram, viele Formulare in der Sanktionszeit aber wenig Probleme. Nur eine Mühe. Es war schwer, fristgerecht bezahlt zu werden. Das Geld kam immer. Irgendwann. Die Iraner sehen sich als faire ehrliche Geschäftsleute. Seien sie auch, sagt Polchow. Viele Firmen sind Familienbetriebe, die würden ticken wie der deutsche Mittelstand. Meist kam das Geld irgendwann aus einer Wechselstube in der Türkei oder von einer Firma in iranischem Besitz in Kanada, die mit dem eigentlichen Geschäft nichts zu tun hatte. Von wo auch immer, das Geld kam.

Die Idee Interspare hatte Polchow, als er während seines dualen Studiums in Maschen bei der Textilmaschinenfabrik Artos, später Babcock arbeitete. Für die war extra eine Autobahnauffahrt gebaut worden, damit die bis zu 40 Meter langen Anlagen schnell zum Hamburger Hafen kamen. Es war nun mal Boom. Aber Polchow ahnte schon dessen Ende. Diesen geradezu tragischen Aspekt des Made in Germany: Deutsche Spannrahmen waren zu gut. Sie hatten keine Halbwertszeit, waren für die Ewigkeit gebaut. So robust, dass Kunden keine nachkaufen mussten. Nach und nach gingen Firmen mit großem Namen insolvent: Artos, Babcock, Krantz, Hacoba, Müller, Haas, Famatex, Stentex. 50 Jahre nachdem sie ihre Qualitätsprodukte ausgeliefert hatten, 15 Jahre nachdem sie die Fabriken schließen mussten, ziehen ihre Maschinen heute von Fabrik zu Fabrik durch die globalisierte Welt. Den geringsten Lohnkosten hinterher. Eine Maschine, die mal in Deutschland stand, dann in der Türkei, dann in Indonesien, steht heute in Vietnam oder in Bangladesh oder eben im Iran.

Als Polchow Anfang der 90er Jahre in einem McDonald’s an der Eiffelstraße im Hamburger Süden spät nachts, seine Idee hatte, war die nicht wirklich groß. Er ahnte, dass der Boom nicht ewig laufen würde und dass billige chinesische Maschinen eine Konkurrenz werden könnten. Klar war nur, die Dauerläufer brauchen immer Ersatzteile. Er wurde Ersatzteilhändler. Das Geschäft lief auch gut und dann kam der von ihm geahnte Zusammenbruch, der aus seiner Idee eine geniale machte. Die kleine Firma Interspare wurde Liebling der Insolvenzverwalter. Sie machte den großen, wenn auch für sie nicht teuren Schritt, übernahm nicht nur jedes Ersatzteil, das sie kriegen konnte, sondern jeden Aktenordner, die Kundendateien und Lochkartensätze aus Insolvenz-Massen. Dazu Wartungsverträge und Monteure von den alten toten Firmen mit dem guten Ruf, die jetzt teilweise als Freiberufler für Interspare arbeiten. Polchow baute eine Halle „voller Ersatzteilen, die erst nach zehn, fünfzehn Jahren wichtig wurden.“

Plötzlich kamen neue Verdienstmöglichkeiten zum Teilehandel dazu weil die Textilfirmen begannen umzuziehen. Jeder Umzug war ein Auftrag für Interspare. „Die kamen alle zu uns, weil wir die Dokumentation haben, die Pläne, das Know-how.“ Die Globalisierung brachte Aufträge. Und als die Textilhersteller anfingen, den Antrieb ihrer Anlagen umzurüsten, um Öl durch billigeres Gas ersetzen zu können, ging das nur mit Interspare-Know-How. Früher wurde mehr Baumwolle verarbeitet, jetzt mussten die Maschinen justiert werden für Kunststoffgarne. Zum umstellen brauchte man Interspare. Und: „Rückgewinnungsanlagen wurden wichtiger“. Nur mit Interspare machbar.

Polchow spielt seine Rolle herunter. Sagt, es war Zufall oder Glück, „war nicht so geplant“, irgendwelche Sätze, die seine Idee, seine Leistung kleiner machen. Er stamme aus der Hamburger Bronx, sagt er, südlich der Elbe. Eigentlich habe er nur raus wollen, in die Welt fliegen. Deshalb die Idee. Aber selbst mit der war er nicht sicher, erst als sein späterer Geschäftspartner Carsten Kalek sagte, „klingt gut, lass uns das machen“, legten sie 1993 los.

Polchow faltet den Plan mit hunderten lineal-geraden Tuschestrichen, Winkeln, Zirkel-gezogenen Halbkreisen auf. Er deutet auf eine Reihe kleiner Rechtecke oben halbrechts. „Zehn-Feld-Anlage, jedes Feld zwei Meter. Normal sind Drei-Meter-Felder. Die Anlage wurde so konstruiert, damit sie in einen Container passt. Sie konnte in Deutschland weit vormontiert werden.“ Deshalb schneller aufgebaut werden. Er malt auf, wie die Teile platzsparend in einen Container passen.

Die Informationen, die Torben Bräuner aus dem Iran durchgemailt hat, sind verarbeitet. Gleich wird der wieder anrufen. Er steht noch immer in Karaj, aber diesmal bei der Firma Mersedes, wieder vor einem Spannrahmen, zu dem bald alle Informationen auf dem Tisch in Reinbek liegen werden. Bräuner führt in der Fabrikhalle ein Fachgespräch mit dem Besitzer von Mersedes, sie benutzen Worte wie Kluppenteil, Tastenröllchenachse, Abnadelschutzhebel oder Sperrklinkenachse. Sie verständigen sich mühsam. Immer wieder ruft wer in der Fabrikhalle Leute herbei zum Übersetzen. Kommt wer mit Kleinteilen angerannt. Sie schrauben Platten von der Maschine, um ins Innere zu schauen. Bräuner schickt mit seinem Smartphone Fotos von Teilen direkt zu seinem Chef. Der Basar ist eröffnet. Da bahnt sich gerade das nächste iranisch-deutsche Geschäft an.

Polchow packt alles wieder in den Ordner, sagt: „Das ist die Maschine, die früher in Deutschland das Finishing der Ado-Gardinen gemacht hat, die mit der Goldkante. Die wurde Ende der 90er-Jahre nach Indonesien verkauft. Von dort kam sie in den Iran. Dort hat sie laut unseren Papieren den zweiten Besitzer.“ Und bald neue Tastenröllchenachsen und Kluppenteile. Polchow geht mit dem Ordner voran in die große Halle neben dem Bürogebäude. Hochlager voller Ersatzteile und eine Empore voller Hochregale. Polchow stellt den Ordner an seinen Platz. Da sind zehntausende Ordner. Er zeigt auf die Schuber in den brusthohen Bibliotheksschränken. Darin sind Millionen Karteikarten. Millionen Lochkarten. Informationen über Textilmaschinen. Nebenan errichtet Interspare, das Iran-Geschäft wird wachsen, eine zweite große Halle. „Wir bauen inzwischen auch Ersatzteile nach.“ Ja, hat gerade die Firme den ersten neuen Spannrahmen verkauft, Made in Reinbek nach Holland. Das Image von Spannrahmen Made in Germany sei so gut, „das muss man nutzen“.

Im Zentrum von Teheran, im Büro von Mohammad Moravej Hosseini. Ein Tempel der Macht, groß, hell, viel Marmor, ein Foyer wie ein Turm mit acht Ecken. Moravej besitzt vier Teppichfabriken und ist Vorsitzender des Iranischen Textilarbeitgeberverbands. Er lässt Tee servieren und erzählt: Gestern habe er mit dem Minister gesprochen. Das Wirtschaftsministerium wolle der Textilbranche 450 Millionen US-Dollar zur Verfügung stellen. „Wir müssen die Kapazitäten verdoppeln. Es gibt 300.000 Arbeitskräfte in unserer Industrie. Die Idee des Ministers ist 500.000. Wir haben eine hohe Arbeitslosigkeit.“ Der Iran hat eine kapitalistische Planwirtschaft. Die nächsten vier Jahre gingen 4,5 Millionen Menschen von der Uni in die Arbeitslosigkeit. „Wir haben einen Riesenhunger nach Maschinen. Wir wollen deutsche Maschinen. Wegen der Qualität. Wir haben Geld genug, das eingefroren war.“ Wir, das sind offiziell 9818 Textilfirmen, dazu kämen noch viele, die nicht gemeldet sind. In den meisten stünden deutsche Maschinen. Er lächelt und sagt: „Wir mögen die Engländer nicht und die Amis nicht.“ Bald werde er nach Hamburg fliegen. „Es geht wieder los“.