Hüter der Halme

Portrait
zuerst erschienen im April 2005 in BMW-Magazin, S. 35-39
Chris Kennedy pflegt den Rasen des Wentworth Clubs

Chris Kennedy schaut in die Sonne. Seine Augen sind schmal, seine Lippen auch, sein linker Mundwinkel hängt lässig nach unten. Er hat die Hände in den Taschen, steht am Loch 15 auf dem West Course des Wentworth Golf Club und sieht Clint Eastwood ähnlich, wirkt nur einiges jünger als der Hollywood-Star. Kennedy ist 57, spricht einen strengen schottischen Dialekt, kommt sehr handfest, sicher, bodenständig daher. Erklärt, wie oft während der BMW Championship der Rasen hier gemäht wurde: „An manche Flächen mussten wir in der Woche 28-mal ran, teilweise mit Handmähmaschinen, die sind sanfter. Viel Arbeit.“ Er spricht ruhig, kein bisschen angeberisch, obwohl er stolz auf das Gras hier sein könnte. Erzählt wie ein Handwerker, ohne Schnörkel. Der Grasphilosoph in Chris Kennedy kommt erst viel später zum Vorschein.

Der Greenkeeper des Wentworth Golf Club in Virginia Water, in der Grafschaft Surrey, westlich von London, einer wirklich renommierten Adresse, wohnt direkt auf dem Clubgelände, kennt hier jeden Quadratzentimeter und könnte, wenn er denn wollte, über jeden was sagen. Macht er aber nicht, keine Zeit, er müsse sich heute auch um seine richtige Arbeit kümmern. Heute Nachmittag sei wichtig, sagt Kennedy. Er lächelt. „Jeder Nachmittag ist wichtig.“ Er ist der Chef der 44 Männer, die 880 Acres, 3561184 Quadratmeter Grasfläche, hüten von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends. 880 Acres, das sind drei Achtzehn-Loch-Plätze, ein Neun-Loch-Platz samt Driving Ranges, einige Putting Greens und noch ein paar Rasen-Tennisplätze.

Zwei wirklich große Turniere finden in Wentworth jährlich statt: die BMW Championship im Rahmen der europäischen PGA Tour und das World-Match-Play-Einladungsturnier für Golf-Profis. Die Golfwelt schaut auf Wentworth, wenn diese Wettbewerbe live im Fernsehen übertragen werden. Außerdem wird hier das ganze Jahr durch gespielt, 2500 Mitglieder hat der Club. Die Greenkeeper haben einiges zu tun. Kennedy kennt sich aus mit Gras, deutet auf einen Fairway, sagt „Bent-Fescue“ und meint damit die Grassorte. Ein Rough folgt, er sagt „Rye“, zupft ein paar Halme und erklärt die Besonderheiten von Rye. Beschreibt, was den Rye hier, in dieser etwas feuchteren Gegend des Grounds, von dem Rye weiter hinten, wo mehr Sonne hinkommt, unterscheidet.

Chris Kennedy geht ins Detail, immer sehr faktenreich. Tut so, als sei das alles erlerntes Wissen, mehr nicht. Er macht den Job seit 1989 in Wentworth, kümmert
sich aber schon seit 1963 um Golfplätze. Geht nun in die Knie, deutet auf kleine Granulatteile, von denen jeder andere denken würde, es sind Wassertropfen,
denn das Green hier wird gerade gesprengt. Was Chris Kennedy nicht stört. Er kniet sich hin, lässt den dünnen Strahl des Sprengers über sich ziehen, sagt dazu: „Das ist nur dünn gesprüht, fast schon Schaum, und ich trage wasserfeste Sachen.“ So ist er.

Kennedy hat ein kleines Korn auf der Fingerspitze, schaut es an und zählt auf, „also, darin sind Vitamine, Kalzium, Magnesium – das ist kein Witz“. Erzählt von der letzten Messe, auf der er war: Neues Gras aus Amerika wurde vorgestellt, neues aus Neuseeland, aus Wales, aus Schottland. Erzählt vom Rasen-Forschungszentrum in Bingley, West Yorkshire, und fasst irgendwann die ganze Grasgeschichte so zusammen: „Das ist inzwischen, als würdest du ein Auto kaufen, die machen richtig tolle Prospekte.“ Ist es eine Wissenschaft? Er überlegt. „Für die schon, für mich ist es immer noch gesunder Menschenverstand, Erfahrung, Arbeit mit der Natur und Arbeiten mit dem Wetter.“ Ist es heute schwieriger als früher? „Es gibt mehr Grassorten, die Ansprüche sind höher, aber eigentlich geht es nur darum, gut Golf spielen zu können.“

Kennedy spielt seit 1958, fing im Alter von elf Jahren an, radelte jeden Tag zum Dumbreck Club bei Glasgow. Hat heute Handicap 9, hatte mal 5, brummt: „Ich hab zu  wenig Zeit zum Spielen, komme fast nur im Winter oder im Urlaub dazu.“ Er war gerade drei Wochen in Irland, es hat Tag und Nacht geregnet, was ihn scheinbar überhaupt nicht stört. Nun atmet er durch und sagt dann in einem entspannten Tonfall, er sei froh, sich für Golf entschieden zu haben. Denn damals, in Glasgow, wo er aufwuchs, kickte er auch bei den Rangers in der Jugend, sehr erfolgreich. Er hätte Profi werden können, entschied sich aber für Golf. Habe er nie bereut. Vielleicht liegt es an der Familie, sein Vater ist 91 Jahre und geht dreimal die Woche 18 Löcher.

Zwar spielte Chris Kennedy fortan nur noch Golf, kein Fußball mehr, nichts anderes, dennoch musste er nach einiger Zeit feststellen: „Ich bin gut, aber nicht gut
genug, um Profigolfer zu werden“. Aber er wusste sicher: Golf ist es. Also managte er den Pro Shop, wurde Golftrainer, kümmerte sich um das Gras und lernte vor allem in dem Bereich viel dazu. Er wurde Golfclub-Manager, hat ein paar Zertifikate, was er fast verächtlich sagt. „Es ist doch ganz einfach: Man wird besser, wenn man das regelmäßig macht, es geht vor allem um Erfahrung.“ Als sie ihn nach Wentworth holten, hatte er schon Haggs Castle gemanagt und Cowglen. Sie holten sich einen großen Namen.

Als er ganz jung anfing, war da etwas, das er „one on one“ nennt, die Älteren haben es ihm erklärt, ihre Erfahrungen weitergegeben, ihr Wissen, und er bekam nach und nach das besondere Händchen. „Ich bin reingewachsen. Heute gibt es fast schon richtige Unis dafür, mit modernen Lehrmethoden, richtiger Unterricht. Es ist eine Industrie geworden.“ Er erklärt nun das Bewässerungssystem, „computerized“, mit vielen Feuchtigkeitsmessstationen. „Wir versprühen eine halbe Million Gallonen Wasser pro Nacht, im Schnitt, immer von 9 Uhr abends bis 5 Uhr morgens, ganz fein. Wenn es regnet, nichts, aber eine halbe Million Gallonen im Schnitt.“ Eine Gallone sind 4,55 Liter. „Man denkt, es regnet viel hier, aber wir brauchen immer noch viel Wasser.“ Er deutet auf das Green, perfektes Gras, „hart erarbeitet“, obwohl, schränkt er ein, hier sei ein Klima, das es leicht mache, nicht zu feucht, genug Sonne, nicht zu kalt.

Er lächelt. Chris Kennedy deutet auf ein anderes Green, sagt „Bent/Poa annua“, so heißt diese Grassorte, diese spezielle Art stamme aus Schottland. Er buchstabiert „B-e-n-t, p-o-a, a-n-n-u-a“ dann sicherheitshalber. Rupft ein paar Halme und erklärt sie. Er ist kein Schwätzer, aber er kann fünf Minuten über ein paar Grashalme sprechen. Erzählt noch mal von der Grasmesse, die jährlich stattfindet, von dem Forschungszentrum, das er regelmäßig besucht. Das Gras ändere sich ständig, man müsse es an das Klima anpassen, und das ändere sich ja auch.

„Wenn man heute mit sagen wir vor zehn Jahren vergleicht, gilt: Viel mehr Luftfeuchtigkeit, die Nächte sind wärmer als früher, hier hat es die letzten fünf Jahre
im Januar geschneit, früher nicht so häufig. Letzten Januar lag hier sieben Tage Schnee. Also ändern wir das Gras, auch das Timing, wann was gemacht wird. Es geht bei der Arbeit auch um Details.“ Pottasche darauf, manchmal Sand, da gibt es viele verschiedene Sorten.
Wasser eben, der ökologische Vitamin-Kalzium-Magnesium-Dünger.

Einmal sagt er: „You never master the art of golf“, aber das mit dem Gras, das sei beherrschbar. Man lerne einen Ground auch nach und nach kennen, bekomme
das Gefühl, „du musst die kalten Stellen kennen und die feuchten, du musst wissen, wo wie viel Sonne durchkommt“. Alles Erfahrung.

Später, am Loch 18 des East Course, kniet er wieder hin, rupft ein paar Halme aus, schaut sie lange an und antwortet nicht auf Fragen. Antwortet einfach nicht. Plötzlich steht er auf, gibt die drei Halme – es sind genau drei, genau gleich lang, genau eine Farbe, ein sattes Grün – weiter, sagt immer noch nichts, schaltet
sein Handy an und telefoniert, sehr schottisch, unverständlich für Nicht-Schotten. Etwas ist ihm aufgefallen, ist nicht perfekt.

Er sieht nun noch mehr aus wie Clint Eastwood mit der blauen Schirmmütze und den grauen Schläfen. „Manchmal ist es eine reine Gefühlssache, Instinkt vielleicht, du spürst es einfach, du weißt es.“ Was? „Hier speziell an diesem Hang? Etwas zu viel Sonne in den letzten Tagen. Wäre mir ohne das Gras nicht
aufgefallen, es kann nicht viel mehr gewesen sein.“ Das Green wirkt wie eine grün gestrichene glatte Fläche, man sieht aus fünf Meter Entfernung keinen einzelnen Halm, so dicht und satt steht es. „Ja, man erkennt es als Laie wohl nicht. Erfahrung, wie gesagt. Darum geht es hier.“