Das Kind im Manne

Portrait
zuerst erschienen im Juni 2002 in Reader's Digest
Fassung des Autors
Artur Fischer hat Dübel und Technikbaukasten erfunden - und auch mit 82 noch Spaß am Spielen

An der Wand hängen zwei große Plakate des Vereins Deutscher Ingenieure. Benz, Bosch, Dornier, Zuse - 13 Erfinder sind abgebildet und alle blicken sie ernst und getragen in die Kamera. Fast alle. Ganz unten rechts nämlich lacht einer wie das nur kleine Jungs können: frech, verschmitzt und mit unbändiger Lebenslust. Dass Artur Fischer damals als das Foto gemacht wurde um die 70 Jahre alt war, schwächt den Eindruck nicht. Heute ist der Gründer der Fischerwerke 82. Mehr als 1000 Erfindungen und über 5000 Patente weltweit gehen auf sein Konto. Eines gilt für den erfolgreichen Unternehmer aus Tumlingen im Schwarzwald noch immer: eine unbändige Energie.

Wenn der Schwabe redet, dann muss er immer wieder aufstehen. Er holt ein Buch, sucht ein Redemanuskript, bringt einen Baukasten, reicht eine Broschüre, rennt zum Telefon. Seinen Redefluss unterbricht Fischer nur, um bestimmte Kekse aus dem Sortiment auf dem Tisch zu empfehlen. Der Erfinder schildert sein Leben, und jeder Tag, den er erlebt hat, jeder einzelne, bietet mindestens eine Anekdote.

„Als ich klein war, hab ich viel gespielt“, sagt er. Der Bub baut Seifenkisten, weil er unbedingt ein Fahrzeug will. Er schnitzt Flugzeuge und bastelt Propeller. Noch heute hat Fischer Spaß an Fluggeräten. Über seinem Schreibtisch hängt ein kleiner Drahtflieger, der mit einer Schnur an der Decke befestigt ist und seine Kreise dreht. Die Tragflächen sind Sonnenkollektoren, die den Propeller antreiben.

„Früher sind wir mit Stelzen über den Bach gesprungen, aber die Stangen waren zu kurz, also sind wir ´reingefallen“, erzählt er. „Da habe ich gelernt, dass die Stange länger sein muss. Heute springt kein Kind mehr über einen Bach. Und wenn es ein Fahrzeug will, wird ein Bobbycar gekauft oder so was. Fertigspielzeuge können sehr schön sein, aber sie unterlaufen die Kreativität.“ Fischer seht auf und holt eine Packung TiP, ein Spielzeug, das er in den 90ern auf den Markt gebracht hat. TiP besteht aus Kartoffelstärke, die kleinen, bunten Teile sehen aus wie Popcorn. Befeuchtet man sie, kleben sie aneinander, und man kann mit ihnen basteln, bauen, sie zu Figuren formen.

Fischer befeuchtet ein grünes und ein gelbes TiP-Teil. Als er die beiden zusammenklebt, lugt seine Zungenspitze aus dem Mundwinkel und als ein längliches, dünnes Bein fertig ist, zieht ein breites Lächeln über das ganze Gesicht. Während er bastelt, erzählt er, dass er mit Erzieherinnen gesprochen habe, bevor TiP auf den Markt kam. Die hätten gesagt: „Wir haben Kinder, die kommen kaputt in den Kindergarten, sitzen da und machen überhaupt nichts mehr, nichts.“ Mit TiP möchte er Freude schaffen. „Das ist kein Produkt, um reich zu werden.“

Auch die Fischertechnik-Baukästen, das klassische Spielzeug für Jungs, bringen der Firma von jeher kaum Gewinne. Die kleinen Quader mit der Kerbe in der Mitte aller vier Flächen lassen sich zu komplizierten technischen Gebilden zusammensetzen - und sind teuer herzustellen. Über die Jahre hinweg raten immer wieder Mitarbeiter dem Chef, die Produktion einzustellen. Sein Sohn Klaus, der Anfang der 80er-Jahre die Firmenleitung übernimmt und als Betriebswirt - nicht als verspielter Erfinder - das Unternehmen weiterführt und vergrößert, hat deshalb oft Ärger mit dem Vater. Doch der Senior setzt sich durch: Fischertechnik wird weiter produziert. Das Dübelgeschäft, größter Umsatzträger im Haus, muss das Minus der Spielzeugproduktion ausgleichen. Für Fischer eine Investition, die sich rechnet.

„Wir leben in einem Land, das keine Rohstoffe hat, aber Köpfe“, sagt Artur Fischer. „Am größten ist die Kreativität bei Kindern. Denen muss man eine Chance geben, sie auszuleben.“ Spielende Kinder seien „der Boden für unserer Zukunft“. Fischer: „Das setzt sich um in Leistung und damit in Arbeitsplätze.“

Dann geht er in den Nebenraum, wo an der Wand Blitzlichtgeräte, verschiedene Dübel, Spezialbohrer befestigt sind. Seine großen Erfindungen. Stolz führt er sie vor.

Das Erfolgserlebnis gehöre zum Erfinden. „Eben dieses ‚Guck mal, Mama, das hab ich gemacht‘ “. Er macht eine kurze Pause: „Ich habe eine tolle Mutter gehabt, ich verdanke ihr alles. Meinem Vater auch, aber der war eher streng.“ Georg Fischer arbeitet als Dorfschneider von Tumlingen, als der Sohn zur Welt kommt. Mutter Pauline ist sehr gläubig. Weil sie darauf besteht, verlässt Artur 1936 die Hitler-Jugend. „Das war ganz einfach, ich habe danach keine Probleme gehabt. Fertig.“ Jeder hätte das machen können, hier in der Gegend. Hätte.

Eine Lehre in einer Stuttgarter Kunstschlosserei markiert den Eintritt ins Berufsleben. Seine Bewerbung auf eine Zeitungsanzeige, in der ein Betrieb „einen fleißigen Lehrbuben aus christlicher Familie“ sucht, hat Erfolg gehabt. Nach der Ausbildung bleibt er noch ein Jahr als Geselle, dann meldet er sich zur Luftwaffe. Artur Fischer will fliegen - doch er ist zu klein, um Pilot zu werden. Aber der Junge kann reden. So lange, bis man die eineinhalb Zentimeter ignoriert, die ihm zum Mindestpilotenmaß fehlen. Doch während der Ausbildung wird Fischer mit seiner Brille erwischt, die er zum Lernen aufhat. Aus der Traum. Der junge Mann wird Techniker bei einem Jagdgeschwader, bildet andere Techniker aus und bewährt sich als Improvisationsweltmeister, vor allem beim Reparieren von Flugzeugen.

Zum Ende des Krieges gerät er in englische Gefangenschaft, aus der er fliehen kann. Im Februar 1946 ist Fischer wieder in Tumlingen. Und wird Erfinder. „Alles war trostlos“, erinnert er sich. „Es ging darum, das traurige und triste Leben zu verbessern, das der Krieg hinterlassen hatte.“ Fischer hat trotz schwieriger Umstände Spa0 am Leben. Auf einem Foto der Fußballmannschaft des Sportvereins Tumlingen-Hörschweiler aus dieser Zeit ist er leicht zu erkennen: Er ist der, der lacht.

„Es herrschte Not, und die machst erfinderisch“, erzählt der Senior weiter. Streichhölzer sind knapp, aber Strom gibt es, Heizdraht auch. Also entwickelt Artur Fischer einen Glühanzünder. Es folgt ein elektrischer Webstuhlschalter, robust, verschleißarm und zuverlässig. Seine Entwicklungen sind praktisch, keine Spinnereien. Wie der Synchronblitz: 1948 kommt Fischers Tochter Margot zur Welt. Eine Fotografin soll Bilder machen, aber die Mansardenwohnung der Fischers ist zu dunkel. Das Abbrennen des Magnesiumblitzes an der Deckenlampe aber hätte diese wohl in Brand gesetzt. Fotografieren mit Blitz ist zudem Glückssache: Blitz und Fotoapparat müssen gleichzeitig ausgelöst werden, was viel Fingerspitzengefühl erfordert. Der Tüftler legt los, und ein Jahr später gibt es Synchronblitze: Ein einziger Knopfdruck löst Kameraverschluss und Blitz aus.

DAs ist der Beginn einer Erfolgsstory. Auf den Synchronblitz folgt eine ganze Palette Weiterentwicklungen, darunter die mehrfach einsetzbaren Blitzwürfel. Dann entwirft Fischer den Dübel aus Nylon, der bald ganz Deutschland zusammenhält und in alle Welt geliefert wird. Für einen Wäscheproduzenten erfindet er spezielle Kleiderbügel für Dessous. Für die Fassadentechnik entwickelt Artur Fischer Zykon. Mit dieser Dübelvariation - sie beißt sich im Beton fest - lassen sich tonnenschwere Dinge an Wänden befestigen.

„Wenn Sie bei jeder Entwicklung anfangen zu rechnen, was Sie damit verdienen, dann können Sie gleich aufhören“, meint Fischer. „Anfangs geht es nur um die Idee. Es muss klar sein, dass das, was man macht, anderen nützt.“ Wie der Fischer-Dübel dem Handwerker. „Das Jetzt-hebt’s-Erfolgserlebnis, das ist wichtig“, sagt sein Schöpfer. Dann befeuchtet er 82-Jährige sein letztes TiP-Teil und klebt es an. Fertig! Fischer zeigt seine grün-gelbe Giraffe - mit jungenhaftem Grinsen und einem Blick, der sagt. „Guck mal, das hab‘ ich gemacht.“

Artur Fischer

Der Erfinder kommt am 31. Dezember 1919 in Tumlingen zur Welt. 1948 gründet er sein Unternehmen. Noch im gleichen Jahr erfindet er den Fotoblitzer. Es folgt der Blitzwürfel „Cube“. Die Blitzgeräte vertreibt Fischer zusammen mit der Firma Agfa unter dem Namen „Agfa-Lux“. 1958 bringt er den S-Dübel aus Nylon auf den Markt, 1965 den Konstruktionsbaukasten. 1980 übergibt er die Geschäfte an seinen Sohn und konzentriert sich auf das Fischer-Forschungszentrum. Die Unternehmensgruppe mit Stammsitz in Waldachtal-Tumlingen beschäftigt heute weltweit 3300 Mitarbeiter und produziert sieben Millionen Dübel am Tag. Fischer trägt den Titel Professor und auch das Bundesverdienstkreuz.