Die Suche nach dem alten Mann

Reportage
unveröffentlicht
Fassung des Autors
Moskaus Metro ist schöner als andere, voll Marmor, Edelsteinen, Basalt, Stuck, Statuen und Gemälde. Stalin wollte mir ihr beweisen, dass der Kommunismus sich um seine Leute kümmert und dass er dem Kapitalismus überlegen ist. So entstanden unter der Erde Moskaus Kathedralen des Lichts, gefüllt mit Kunst und Geschichten. Es soll einen uralten Mann geben, der 1934 beim Bau dabei war und noch heute bei der Metro arbeitet: eine wochenlange, am Ende erfolgreiche Suche.

Moskau, in einem der Paläste, in der Metro, Station Ploshchad Revolyutii, an einem Dienstag, 9.40 Uhr, kurz nach der Rush Hour des Morgens. Die Station ist nicht mehr pressvoll, man kann wieder ruhig atmen, einzelne Menschen erkennen. Ploshchad Revolyutii heißt Platz der Revolution. Die Halle wirkt wie eine Kathedrale, doch gleichzeitig kriegerisch. Wohl wegen der dunkelroten Granitplatten am Boden. Dennoch ist die Station heller als hell. Lampen, die von den weißen Kuppeln hängen, werfen von unten Lichtringe auf den Stuck und Helligkeit in die Halle. Die sorgt dafür, dass man die 76 schwarzen Statuen gut sieht. An einer Säule lehnt eine junge Frau, hübsch, groß, die blondgefärbten Haare zu Zöpfen geflochten. Sie schaut auf die Armbanduhr. Hinter ihr kauert eine der Statuen, ein Soldat mit Helm, Maschinenpistole und entschlossen ausdruckstarkem Blick in dem Säulenbogen. Die Station wurde 1938 eröffnet, erinnert an den Kampf der Roten gegen die Weißen, der in den 20er Jahren Millionen Russen tötete, bevor die Kommuinisten den Bürgerkrieg gewannen. Die Statue sieht aus wie ein Sieger.

Platz der Revolution ist die stalinistischste der 165 Stationen der meistbenutzten Metro der Welt. Mit neun Millionen bezahlten Fahrten täglich. 3000000000 Personenbeförderungen pro Jahr. In Moskau sind immer mehr Menschen in der Metro als in New York und London zusammen. Entsprechend die Hektik der Rush Hour. Doch jetzt herrscht Ruhe, man kann sich umschauen, wahrnehmen, Kunst betrachten, sechzig Meter tief in der Erde. Die Statue hinter der Frau, kniet menschengroß auf einem halben Meter hohen Sockel, überragt die Frau. Hinter ihr sieht man das Siegergesicht, den Lauf der Waffe, Macht, Größe, Bedrohung.

Alle zwei Minuten, das ist der Takt, in dem die Moskauer Metro tagsüber fährt, schaut die Frau auf und blickt zur Plattform der Linie 2 aus Süden. Immer wieder. Vergeblich. Er scheint nicht zu kommen. Oh doch, er wird kommen, sagt Galina Milowzorowa, die Stationswärterin, die im Mittelschiff der Station steht. Mittelschiff deshalb, weil die schmuckvollen Stationen, die bis in die 50er Jahre gebaut wurden, wie Kirchen ein grosses Mittelschiff und zwei kleinere Seitenschiffe an den Gleisen haben. Die Stationen sind voll Marmor verschiedener Farben, Halbedelsteinen, glänzenden Metallen, Stuckkunstwerken, Kaskadendecken, Reliefs, Statuen und Mosaiken. Galina Milowzorowa, die Stationswärterin mit dem runden Gesicht, trägt eine freundlich hellblaue Uniform mit kniekurzem Rock. Ein rotes Filzschiffchen sitzt auf ihrem Kopf. Sie hat, wie viele Frauen in dieser Stadt, übertrieben Schminke im Gesicht. Es herrscht Nachholbedarf in Moskau. Ihre Lider glitzern golden. Sie lacht und lächelt oft. Was hier, wo viele so miesepetrig scheinen - gegrüßt wird so gut wie nie - ungewöhnlich ist.

Sie freut sich, von ihrer Station erzählen zu können. Dreizehn Jahre arbeite sie unter dem Platz der Revolution, im Schichtbetrieb. Mehrmals sagt sie, dass die Metro pünktlich die Gehälter gezahlt habe, auch in den Jelzin- und Gorbatschow-Zeiten, als das eher die Ausnahme war. Dass es ein sicherer Arbeitsplatz sei. 35000 Menschen sind bei der Metro Moskaus, dieser gigantischen Jobmaschine, angestellt. Die Statuen sind von Manizer, sagt sie, stehe im Lexikon wichtiger Künstler. Sie wisse den Vornamen nicht. Dushkin heiße der Architekt. Auch bekannt. Sie nickt zu dem blonden Mädchen und sagt: Er wird kommen. Und: „Es gibt übrigens einen Mann, der arbeitet seit den 30er Jahren für die Metro, der war beim Bau dabei, und er arbeitet immer noch.“ Wir rechnen gemeinsam. Die erste Linie wurde 1935 eingeweiht. Selbst wenn er da 15 war, wär er jetzt 85. Der Mann ist Rentner, sag ich. Nein, nein, er arbeite noch.

Matvey Manizer, geboren 1891, gestorben 1966, naturalistischer Bildhauer, gilt als einer der großen sowjetischen Künstler, Vertreter des Sozialistischen Realismus. Schuf viele der Leninstatuen in verschiedenen Städten Russlands. Wer die Augen schließt und versucht, sich Lenin vor Augen zu zwingen, sieht, wenn er denn was sieht, mit höchster Wahrscheinlichkeit eine von Manizer geschaffene Statue. Alexei Dushkin, 1904 bis 1977 war der prägende Architekt der Sowjetunion, zumindest bis er mit 52 Jahren überraschend aufhörte zu entwerfen, weil ihm der offiziell verordnete Minimalismus-Stil nicht gefiel. Zuvor hatte er viele das Stadtbild Moskaus Prägendes entworfen. Zum Beispiel das Spielzeugkaufhaus gegenüber der Lubjanaka, der Zentrale des Geheimdienstes KGB. Es ist fast so groß und auffällig wie die Lubjanka. Dushkin ist der einzige Architekt, der drei Metrostationen plante. Moskaus Metro studieren, heißt hundert Maler, Bildhauer, Architekten lernen.

Jede Station der russischen Hauptstadt ist anders, jede war eine Spielwiese für Künstler. Unter der Erde sollte es heller sein als an der Oberfläche. Das war die Idee Josef Stalins. Und damit die Lasar Kaganowitschs, der in dessen Auftrag die Metro schaffen ließ. Die russische Fachliteratur nennt den Bau oft „Kampf“ oder „Krieg“. Die Metro wurde „gestürmt“, war ein Sieg. Es sollte hell, feierlich hell sein in ihr, egal wieviel Strom es kostet. 50 Lux Helligkeit war Standard in der Metro, am Palast der Revolution jedoch 100 Lux. In jeder anderen Metro der Welt galt damals: 25 Lux ist genug, sonst wird es zu teuer. Alle zu beeindrucken, war das Ziel gewesen. In einem Buch, das zum 70. Jahrestag der ersten Fahrt erschien, heraus gegeben von der Metrobehörde, steht: „Der wichtigste Held der Metro ist das Licht und die Farbe, die sich im Licht manifestiert. Deshalb wurde sehr auf die Beleuchtung geachtet.“ Es hat funktioniert: die vielen schwarzen Bronze-Skulpturen der Station Platz der Revolution sorgen in der Helligkeit für Gefühle der Bedrohung.

Manche Stationen haben babylonischen Stil, welche wirken wie antike Tempel, einige sind klassizistisch, manche ähneln Kirchen, andere Pavillons. Es gibt futuristisch anmutende. Manche haben Bauhaus-Tendenzen. Alle erzählen Geschichte: Park Kultury zeigt Baletttänzerinnen auf papierweißen Marmormedaillons, Theaterproben, lesende Menschen. Belorusskaja, kurz nach dem Krieg eröffnet, den Partisanenkampf in Weißrussland gegen die Nazis und ihre Wehrmacht mit drei Meter hohen Statuen und Bilder, die dem ersten Blick nur Natur zeigen, dem zweiten aber einen Gewehrlauf oder im hohen Gras versteckte Kämpfer. Novoslobodskaja ist beliebt, 1952 eröffnet, „Frieden auf Erden“ ihr Motto.

Zu sehen ist bemaltes Glas, von hinten beleuchtet. Wirkt wie ein Märchenland, wie aus Herr der Ringe. Die Bilder von Pavel Korin, 1892 - 1967, seine Gemälde sind heute wertvoll, Auktionshighlights, wurden in Riga auf buntes Glas gebeizt. Nur dort konnte man das, in Russland nicht. Das Glas zeigt Fantasiepflanzen, Blumenornamente, Seltsames, halb Tier, halb Pflanze. Zu jeder Station gibt es Geschichten. Kiewskaja schildert die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine, man sieht Puschkin mit ukrainischen Bauern auf den Feldern. Andere Bilder zeigen, dass in der Kornkammer der Sowjetunion die Kürbisse unglaubwürdig groß waren. Oder, dass dort Baumwolle wuchs.

Was ein Propagandafehler war: In den 30er Jahren wurde versucht, in den Weiten der Ukraine Baumwolle anzubauen. Das klappte nicht, nach ein paar Jahren wurde das Projekt gestoppt. Zu spät für Wahrheit in der Station Kievskaja. Da gibt es blühende, ukrainische Baumwollfelder zu sehen. Kiewskaja ist eine besondere, mit übertrieben viel Gold, aufdringlich, dass selbst im offiziellen, von der Metrobehörde herausgegeben Buch zum 70jährigen Jubiläum das Wort „vulgär“ auftaucht.

Die Metro war ein Ausblick auf geträumte Zukunft des Kommunismus. Laut Michail Ryklin, dem Philosophen, lautete das Versprechen: „Bald wird es in Moskau ebenso schön sein wie in der Metro unter seinen Füssen.“ Eine Moskauer Zeitung schrieb 1940: „Und die Zeit ist nicht mehr fern, wo der Passagier, der die granitene Treppe der Moskauer Untergrundbahn emporsteigt, sich in einer neuen Stadt erblickt, ebenso geordnet, komfortabel und geräumig wie die Marmorstadt Metro. Bald wird es in Moskau genauso gut sein, wie es in der Metro unter Moskau ist.“

Komsomolskaja mit einem riesigen Leninmosaik an der Decke, wie er bei der Oktoberrevolution zu den Massen spricht, wirkt pompös. „Klar, gleich nach dem Krieg gebaut, in Zeiten des Aufschwungs, deshalb ist sie so prachtvoll“, sagt Lidia Wassiliewa, eigentlich Dolmetscherin. Aber sie ist mit der Zeit und dem Markt gegangen, bietet nun Metroführungen. Die Nachfrage sei groß.

Sie eilt das Schiff der Komsomolskaja entlang, deutet immer nach oben: „Hier, Fürst Kutusow, Sieger in den Napoleonischen Kriegen. Hier, General Saworow bei einem Feldzug über die Alpen. Kennen Sie Kleist? Marquise von O.? Eben, russische Arme in Italien. Hier, Polenkrieg, 1603, Michael Romanow, der erste Romanow. Hier, Schlacht auf dem Schnepfenfeld am Don. 40 russische Fürsten schlagen die Tataren, 1380. Hier, 1242, noch ein Sieg über die Tataren, Fürst Alexander, Njewa-Schlacht, Sieg über die Schweden. Man denkt doch, Kommunismus, Nationalismus passen nicht. Spätestens im Zweiten Weltkrieg war russischer Kommunismus patriotisch-national.

Die Zeit spiegelt sich in der Metro. Die Stationen der ersten Baufolge waren düster. Die danach hell. Das war Stolz.“ Sie eilt, nächste Schlacht, bis zu Lenins Sieg gegen die Weissen im Bürgerkrieg und Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, die Eroberung Berlins. Man sieht oft Lenin, als Büste, als Mosaik. Man sieht auch einen Engel, der ein Hakenkreuz zertritt.

Andere Stationen wirken ruhiger. Tschechowskaja ist eine Verbeugung vor dem Schriftseller Anton Tschechow, dezent, stilvoll, mit viel Weiß, einem schönen Relief des Mannes, um den es geht. Kein Krieg weit und und breit, kein Lenin, kein Protz. Grigorij Schukow, viermal mit dem Orden Held der Sowjetunion ausgezeichnet, der General, der Stalingrads Verteidigung leitete, der die Rote Armee zum Sieg führte, erzählt in seinen Memoiren von dem „unwiederholbaren, eigentümlichen Stimmungsaufschwung“ als Folge der Metroeröffnung 1935. „Gut, sehr gut, hatten wir zu leben begonnen.“ Die schlechten Zeiten der Zwangskollektivierung und Brutalindustrialisierung schienen vorbei. Dank der Metro.

Der Schriftsteller Lew Kopelew beschreibt in seinem Buch „Und schuf mir einen Götzen, Lehrjahre eines Kommunisten“ die Metro als Psycho-Aufputschmittel, auf das er, der junge, begeisterungsfähige, spätere Regimekritiker hereinfiel. Im Ausland herrschten die Wirtschaftskrise, in Moskau entstand die Metro in all ihrer grandiosen Schönheit. Gut, ja, in der Ukraine waren nach der Zwangskollektiverung Millionen verhungert, aber in Moskau entstand die Metro, das Sinnbild für die kommende Größe.

Aber nicht hier, an der Station Molodezhnaja. Es ist Mittag, Sommersonne scheint, die nördlichen Stationen der Linie 3 liegen an der Oberfläche. In dem grellen Licht wirken sie besonders hässlich. Im Vergleich zu den Stationen im Zentrum unerträglich hässlich. Wer in Arbastskaja oder Smolenskaja, den Schönheiten, eingestiegen ist, empfindet Molodezhnaja als harten Schlag ins Gesicht. Direkt auf die Nase. Schimmel, Rost an großen brutalen Stahlträgern, bröckelnder Putz, Flecken auf weißer Farbe. Keine, null Schönheit.

Hier ist die Moskauer Metro schäbig, abstoßend. Die Stationen, die unter Breschnew und Chrustschow gebaut wurden, waren billig, mussten ständig saniert werden, am Ende könnten sie teuer gewesen ein. Ihr Bau war Sparmassnahme. Molodezhnaja ist nur eine. Kuntesvskaja und Stationen der Linie sechs im Süden - grässlich.

Am nächsten Tag erklärt Nikolai Schumakow warum. Zuvor nimmt er den Plan, zeichnet mit einem rosa Marker die hässlichen Linien. Je weiter man rausfährt, desto schlimmer, sagt er, Chefarchitekt von Metrogiprotans. Die Firma mit 1000 Mitarbeitern wurde aus der Metrobehörde ausgegliedert, plant als Aktiengesellschaft an vielen Orten der früher kommunistischen Welt Tunnels, Metrostationen, Schächte. Er sitzt in seinem modernen, sehr schicken Büro, hinter ihm stehen Perrier-Wasserflaschen, liegen schöne Fotobände auf der Ablage. Es geht darum, Stil zu zeigen. Der Architekt trinkt nur Perrier, zeigt, dass Rußland es nach harten Jahren zu was gebracht hat. Und dass es viel zu tun gibt.

Er macht drei Sachen gleichzeitig, spricht mit der Sekretärin durch die Anlage auf dem Tisch, sucht Bücher, erklärt was. Ständig klingelt sein Handy, seine Telefone. Wer kommt rein, Instruktionen abzuholen. Der stilwillige Schumakow passt zur neuen Zeit. Straßen wie Twerskaja oder Komsomolskaja Prospekt sind Perlenketten aus Designerboutiquen, eine an der anderen, zu hunderten. Jeder französische, italienische oder amerikanische Modename kam mit eigenen Läden und Wahnsinnspreisen. Soviel Juweliere. So teuere Restaurants. Da muss Geld in Moskau sein. Die vielen Limousinen zeigen es. Aber: die Mehrheit der Moskauer fährt Metro. Schumkaow schwärmt von früher: palastähnlich seien die Stationen angelegt worden bis etwa 1958. Wobei schon ab 1954 oder so, Stalin starb 1953, ein Abflachen zu erkennen gewesen sei, zumindest für Fachleute. Die letzten beiden schönen Stationen jedenfalls waren, sagt er, Frunsinskaja und Spativa, beide 58. Danach spartanische Linien oder, wie Moskauer sagen: „arme Linien, asketische Linien“.

„Ja, ja, hässliche kann man auch sagen. Aber das offizielle Wort, es war ja ein Befehl von ganz oben, aus dem Politbüro, war: ab jetzt bauen wir asketische Linien.“ Neue Sachlichkeit, brummt er noch. Verzieht das Gesicht. Kein Protz mehr, ab jetzt asketisch. Aus Geldmangel, denn unter Chrustschow wurde Geld gebraucht für das Wettrüsten. Vor allem aber für  Wohnungsbau. Stalins Nachfolger beschloss: Schluss mit den Wohnungen, in denen mehrerer Familien mit einem Bad leben, den sogenannten Kommunalkas.

Ab jetzt wurden massenhaft die Hochhäuser an Moskaus Stadtrand gebaut, die unsere Wahrnehmung der Sowjetunion dominierten. Plattenbauten oder rechteckige, normierte ziegelverkleidete Blöcke. Einer am anderen. Gleich. Hundert Gebäude, die sich nicht unterscheiden. Hässlich, in der Masse beeindruckend. Von der Station Marino am Stadtrand geht man eine Stunde und kommt nur an solchen Silos vorbei. Nichts anderes, keine Unterbrechung.

Geld für die Metro war nicht mehr da in der Zeit der „Architektur ohne Gesicht“. Schumakow: „eine schlimme Zeit“. Und: „Für die Architektur war das eine wahre Tragödie.“ Er war dabei, immerhin ist er fast 30 Jahre Metroarchitekt. Man könne von Stationen die Psyche des russischen Volkes zur jeweiligen Zeit ablesen.

Die nach dem Krieg gebauten, sind voll berstendem Stolz. Nun gab es Bögen in der Metro, erinnernd an antike Triumphbögen. Die aus den 60er Jahren und 70er Jahren sind deprimierend hässlich. Gebaut wurde in der Zeit viel, man kann ja nicht weit draußen Wohnsilos bauen ohne Massentransport von und zur Arbeit und dem Leben der Innenstadt.

1961 bis 1970 öffneten 31 Stationen, 71 bis 80 noch 27, 81 bis 90 waren es 28. Was ist die neuste Station? Schumakow lächelt richtig stolz und sagt: „Park Pobedy.“ 2003 im Mai eröffnet, zwei Jahre Bau und Planzeit, wie damals, als Kaganowitsch drängte. Auf die Station sind wieder alle stolz, alle empfehlen sie. Schumakow sagt: „Schauen Sie sich Park Pobedy einfach an, unvoreingenommen.“ Und auf dem Weg zur Tür: „Übrigens, es gibt einen 90-jährigen Mann bei der Metro, der war beim Bau der ersten Linie dabei. Er arbeitet, wenn ich es richtig weiß, heute noch.“ Nein, Name oder Adresse wisse er nicht.

Park Pobedy, ein Symbol für ein neues Russland? Bei der Frage lächelt Schumakow einfach weiter und antwortet: „Schauen Sie es sich an.“ Er kann nicht sagen, Park Pobedy ist schön, denn er hat die Station geplant. Ob er stolz sei auf die Metro. Klar, ruft er fast. Er sei da wie alle Moskauer. Spricht von „dieser Moskauer Psyche“. Die Menschen sind stolz auf Ihre Metro, komme, was wolle, waren es immer. Man lernt es als Kind in der großen Stadt, jeden Tag. Fragt man wen, was denn das Gute am Kommunismus gewesen sei kommt als Antwort: die Metro.

Die ersten Stationen wurden eröffnet als „unterirdische Gegenwelt zum grauen Moskauer Alltag“ oder, die Bezeichnung taucht häufig in russischen Büchern auf, als „unterirdische Paläste des Volkes“. Immer wurde sie von der großen sowjetischen Propagandamaschine mystifiziert, als „sozialistisches Lebensideal“. Geld spielte bei deren Bau keine Rolle. Der Staat, das ganze Land, finanzierte sie, obwohl das, formell betrachtet, eigentlich Sache der Stadt Moskau gewesen wäre. Doch Stalin hatte das Motto ausgegeben: „Das ganze Land für die Metro.“ 540 Betriebe lieferten zu.

Die Sowjetunion war in einer wirklich schlechten Phase, Millionen Menschen verhungerten, die Lebensbedingungen hatten sich seit der Revolution verschlechtert. Es ging darum, etwas zu schaffen, auf das alle stolz sind. 850 Millionen Rubel wurden bis 1935 für die ersten beiden Linien mit 13 Stationen und 11,2 Kilometer Strecke ausgegeben. Damals eine unvorstellbare Summe. Aber: Geld durfte keine Rolle spielen, es ging um etwas Großes. Und um Schönheit.

Die Metro war, so der Historiker Dietmar Neutatz vom Ost-Europainstitut der Heinrich-Heine-Uni in Düsseldorf in seinem 678-Seiten-Buch über den Metrobau, „Prestigeprojekt der 30er Jahre schlechthin“. Geld spielte wirklich keine Rolle. Laut des stenografischen Mitschriebs der Politbürositzung vom 14.5.1931 sagte Stalin. Es muss ein Plan her für eine Metropolitan. „Frist: 3 Monate.“ Weiter: „Als Hauptverkehrsmittel die Metropolitan betrachten, unverzüglich damit beginnen, alle anderen oberirdischen Linien an ihr orientieren.“

Die Bauarbeiten begannen Mitte Dezember 1931, ganz bescheiden: „Wir stellten die ersten sieben Arbeiter ein. Irgendwo kauften wir ihnen Pelzjacken und Filzstiefel. Dann schickten wir sie graben“, so der Ingenieur Ilja Katcen, dessen Buch über den Metrobau 1946 auf Deutsch in der Sowjetischen Besatzungszone erschien. Handaushub war normal. Das Tempo zäh. 1933 der Plan nur zur Hälfte erfüllt. Noch immer gab es Arbeiter, die barfuss gruben. Die Schichten wechselten die Gummistiefel bei jeder Übergabe, Schuhgrößen spielten keine Rolle.

Aber inzwischen wurde gehetzt. 75000 Menschen schufteten 1934 in Schichten rund um die Uhr auf den Metrobaustellen. Die „glichen in dieser Zeit einem Schlachtfeld.“  Neutatz: „Es sind diese Monate, die mit ihrem Heroismus und der Aufopferung das überkommende Bild vom Bau der Moskauer Untergrundbahn gepräft haben, wie es von der sowjetischen Propaganda gepflegt, von der Literatur übernommen wurde und sich bis heute im Bewußtsein der Bevölkerung verfestigt hat.“

Das Bild von Männern mit nacktem Oberkörper, die bis zur Hüfte im Wasser stehen, doch mit Pickeln auf Stein hauen, wurde zu dem Bild der Metrobauer. Zu den Helden kamen die Sobotniks, hundertausende, um am Samstag und Sonntag freiwillig, unbezahlt zu malochen.

Viele Kinderbücher, die den Bau der Metro als ein Märchen präsentierten, sorgten von Anfang an dafür, dass die Metro als Wunderwerk erlernt wurde. Noch heute ist sie die wahrscheinlich sauberste der Welt, denn die Moskauer bekamen von klein auf eingetrichtert: in den Palästen des Volkes darf kein Abfall sein. Es gab früher keine Abfalleimer, heute nur wenige. Doch die Metro ist sauber, nirgendwo klebt ein Kaugummi. Der ganze Bau war eine Propagandaschlacht, die dafür sorgte, dass die Metro von den Russen als sakrales Bauwerk wahrgenommen wurde. Stalin bezeichnete sie „als die Schule des neuen Menschen“ oder als „Schmiede des neuen Menschen“.

Es ging darum zu zeigen, Kommunismus ist besser als Kapitalismus. Die Metro musste „die beste und schönste der Welt werden“. Jede Station musste anders aussehen. Neutatz: „Das stalinistische Regime schaffte es in erstaunlicher Weise, seine Herrschaft zu festigen, sich Rückhalt zu verschaffen und große Teile der Bevölkerung zum Mitmachen zu veranlassen oder zumindest einen massenhaften Widerstand hintanzustellen, obwohl sich gleichzeitig die Lebensbedingungen drastisch verschlechterten und dem Volk für ein ein fragwürdiges Aufbauprogramm unmenschliche Opfer abverlangt wurden. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zum Nationalsozialismus, der zur Legitimierung seiner Herrschaft darauf verweisen konnte, daß sich die Lebensumstände breiter Bevölkerungsteile nach der Not der Wirtschaftskrise verbessert hatten. In der Sowjetunion Stalins war das Gegenteil der Fall. Die Kernstücke der Stalinschen Politik – Kollektivierung der Landwirtschaft und forcierte Industrialisierung – stürzten das Land in wirtschaftliches Chaos, verursachten eine Hungersnot und erlegten Millionen von Menschen Entbehrungen auf.“

Die 36 Mosaike der Station Majakowskaja haben den Titel: ein Tag in der Sowjetunion. Wenn man zu den Gleisen, auf denen die Züge in Richtung Süden fahren, schaut, gilt: links an der Decke geht die Sonne auf, der knallblaue Himmel schimmert durch die Zweige von Kirschbäumen, am Himmel sind Flugzeuge. Rechts geht die Sonne unter. Der Künstler Alexander Deineka hat aus einen Tag in der Sowjetunion einen Tag in der Luft der Sowjetunion gemacht.
Deineka, 1899 bis 1969, wichtiger sowjetischer Maler, sozialistischer Materialismus, Vorzeigekünstler, Mitglied vieler Kommissionen und Akademien.

Seine in Mosaike verwandelten Gemälde zeigen in den Kuppeln Hochspringer, Turmspringer, Fallschirmspringer, Skispringer, Motorflieger, Segelflieger, einen Signalmaat im Mast, immer einen frischen blauen Himmel. Und immer Individuen, Persönlichkeiten. Mag sein, dass es in der Masse der Sowjetunion Unschönes gab, aber wenn es unter so einem schönen Himmel und man losgelöst in der Luft war, kann es nicht so schlimm gewesen sein.  

Es gab, deuten die Bilder an, Ausweichmöglichkeiten. Deineka wusste genau, was er wie malte, um einer Darstellung eines Tages in der Sowjetunion unterschiedliche Botschaften mitzugeben. Man kann Majakowskaja, die Station mit den Stahlträgern und dem vielen Radonit, einem seltenen Halbedelstein, als Flucht sehen, als innere Immigration, als Ode an die Freiheit, als Bejubeln der Sowjetunion oder das genaue Gegenteil. Ohne damals in Gefahr zu kommen. Jeden Tag gesehen von mindestens 50000 Moskauern.

Die Zahl ist die Durchschnittszahl, die Moskaus Metrobehörde ermittelt hat für eine Station. Majakowskaja liegt mitten in der Stadt, hat also eine höhere Frequenz als der Durchschnitt. Vor allem, sie liegt an der Twerskaja.

Hier sind die Restaurants, die Discos, die Fitnessstudios, die Cafes, hier ist an den Wochenenden viel Leben. Freitagabend bis weit nach Mitternacht tobt die Rush Hour. Und was für eine. Zwei etwa Zwanzigjährige, sie sind angetrunken, wollen mit einem Ticket durch die Zugangssperre, die dafür sorgt, dass Schwarzfahren fast unmöglich ist. Was bei umgerechnet nicht mal 30 Cent pro Fahrt, egal wie lang und wohin, auch sinnlos ist. Die Sperre sorgt für romantische Momente. Eine der schönsten Liebeserklärungen in Moskau, man sieht sie täglich, geht so: er geht vor, schiebt seine Mehrfahrtenkarte in den Schlitz, legt sein Ticket auf das Metall, geht durch die Barrikade, die schnalzt zu.

Sie lächelt, nimmt deas Ticket, schiebt es rein, geht durch, küsst ihn. Oft auch anders herum, sie zuerst, er nach ihr. Ein Moskauer Ritual. Was die zwei betrunkenen Jungs jetzt machen, ist anders. Der erste schiebt sein Ticket rein, die Barriere geht runter und beide drängen los. Sie sind schnell, kommen durch, bevor die Barriere wieder hochschnallt, aber die Frau im Wärterhäuschen hat sie gesehen, drückt den Knopf. Der tiefe Signalton ertönt.

Die Stationspolizistin, die keine drei Meter weg stand - die Jungs haben sie vorher gesehen und angelacht - hebt ihren Schlagstock in
die Luft und eilt fuchtelnd herbei. Die Jungs drehen sich um, die Frau haut ihnen leicht auf die Hintern. Erst dem einen, der dreht sich zurück, küsst sie auf die Wangen. Sie haut dem anderen auf den Po, auch der umarmt sie, küsst sie links und rechts. Die Polizistin lächelt, ruft dem ersten was zu. Der dreht sich wieder um, sie klopft ihm wieder auf den Hintern, muss sich dafür weit strecken.

Doch da rennt er weg, hin zu den Rolltreppen. Die Polizistin fällt fast. Alle lachen. Einige Leute innerhalb der Barrieren und außerhalb klatschen. Mehrere Jungs kommen hinzu, drehen der Polizistin ihren Rücken zu. Inzwischen sind die Mädchen, mit denen die Jungs unterwegs sind, da. Sie sprechen kurz mit der Polizistin, lachen. Der Junge, der noch da ist, bekommt von seiner Freundin einen Klaps auf den Hintern. Es ist Freitagabend, Spaßzeit.

Der Eingang der Station, Vestibül genannt, ist voll. An der Majakowskaja ist viel los. Nur manche Umsteigestationen dürften noch mehr Frequenz haben, 179500 Ein- und Aussteiger hat die Metrobehörde beispielsweise an der Station Vykhino gezählt.

Donnerstag. Wieder Station Ploshchad Revolutyii, diesmal gegen Mittag, vor der Mittags Rush Hour. Galina Milowzorowa, dieselbe Stationswärterin, ist da. Sie sagt, dass zwei Tage zuvor der Freund des blonden Mädchens gekommen ist. „Ein bisschen Warten gehört dazu“. Es sei normal, in Moskau zu spät zu kommen. Was nicht an der Metro liege, „auf keinen Fall an der Metro“, sondern an den Straßen oben, den Massen von Menschen. Offiziell hat die Stadt neun Millionen Einwohner, in Wirklichkeit mehr. Manche sprechen von zwölf Millionen.

Alle Russen kommen nach Moskau, hier ist Arbeit, Geld, Zukunft. Es ist wie damals, als die Metro gebaut wurde, als die Leute vom Land in die Stadt drängten und Arbeit brauchten. Die Metro war damals eine Beschaffungsmaßnahme, die dem Kommunismus zu überleben half. Was wäre passiert mit unzufriedenen Massen ohne Arbeit? Heute kann man sich nicht einfach registrieren lassen. Um bei den Polizei-Kontrollen durchzukommen, braucht man eine Registrierung, die quasi auch Arbeitserlaubnis ist.

Das Geschäft mit den falschen aber doch echten blüht. Die Behörde gibt keine, also ruft man die Nummern auf den Abreisszetteln, die in den U-Bahn-Waggons kleben, an. 600 Rubel, etwa 22 Euro und man hat eine Registrierung für ein halbes Jahr. Kommt man aus der Ukraine, aus Kasachstan, Weißrussland, und viele kommen von dort in die gelobte Stadt, kostet es mehr. Man erhält keine offizielle, aber eine auf offiziellem Papier mit offiziellem Stempel und unterschrieben von demjenigen, der auch die offiziellen unterschreibt. Gut genug, jede Kontrolle zu überstehen, aber eben befristet. Und damit eine Fälschung. Dank der weißen und gelben Zettel mit dem selbstklebenden Rand, die innen in den Metro-Waggons über den Türen sind, weiß man, wo man anrufen muss.

Wenn es die Metro nicht gäbe, sagt die Frau, die aus Perm stammt und anonym bleiben muss, weil sie so eine Registrierung hat, ihre 17te, sie lebt seit knapp neun Jahren hier.

Seit den Anschlägen gibt es in der Metro weniger: Es spielen kaum noch Musiker. Zigaretten werden seltener zum Verkauf angeboten. Kaum noch Zeitungen. Ganz selten sieht man Frauen, die an den Übergängen Blusen auf Drahkleiderbügel mit Band an die Marmorwand kleben. Wenn man sie sieht, weiß man, sie haben Polizisten bestochen. Wie die Frauen die batteriebetriebenes Kinderspielzeug über den Granitboden huschen lassen.

Es hat sich viel geändert, die Metro ist kein echter Markt mehr. Im Februar 2004 explodierte eine Bombe tschetschenischer Terroristen an der Station Autosawodskaja, 39 Tote, 140 Verletzte. Eine Tafel mit allen Namen der Gestorbenen erinnert, täglich stehen frische Blumen vor den goldenen Buchstaben. Sechs Monate später explodierte eine Bombe in der Station Rischskaja, neun Tote, dreißig Verletzte. Das hat die Metro verändert. Aber da sind immer noch die Imbissstände, alle betrieben von einem Joint-Venture der Metro und Pepsi Cola. Die Werbefirma Olymp, bei der man die Plakatflächen entlang der vielen langen Rolltreppen buchen kann, gehört der Metro.

Die Firma, die Theater-, Balett-, Konzert-Karten, im kulturwütigen Moskau ein großes Geschäft anbietet, ist eine Metro-Tochter. „Die Geschäfte laufen gut“, sagt Nina Wolodina, „und es ist angenehme Arbeit, man ist unter Leuten“. Sie arbeitet an einem Tisch am Übergang der Ringstation Taganskaja zur Station Marksistkaja an der Linie 8 vor weißen Wänden, fünf Meter über sich in einer Kuppel ein Ölbild der roten Sowjetfahne, erleuchtet durch ein gemaltes Feuerwerk. Es sei ein schöner Arbeitsplatz.

Sagt auch Ludmilla Gratschjowa, die den Passfotoautomaten an der Station Sportiwnawskaja im Vestibül betreibt. „Viele Menschen, das ist wie Fernsehgucken.“ Als wir gehen, ruft sie: „Nein, es ist besser.“ Marija Kucherenko, die an der Station die Ticketautomaten im Blick hat und auf den Knopf drückt, wenn wer versucht, ohne zu bezahlen durch die Absperrung zu kommen, mag ihren Arbeitsplatz: „Schichtzulagen, Aufstiegschancen, Sicherheit des Gehalts, was wichtig ist.“

An einer Wand hängt ein Werbeplakat: Die Metro sucht Mitarbeiter, bietet 5400 bis 6300 Rubel Monatsgehalt für Rolltreppenkontrolleurinnen, 200 bis 230 Euro. Nicht so viel. „Es geht, man kommt schnell in andere Gehaltsklassen.“ Reinigungsleute, die nachts und am frühen Morgen die Stationen putzen, bekommen 8000 Rubel, knapp 300 Euro. Die Stationswärterinnen auch. Die Zeitungsautomaten, die ersten in den 30ern kamen aus Berlin, werden von der Metro betrieben. Frei arbeiten die Frauen, die Unizeugnisse oder Arbeitszeugnisse anbieten. Ein grosses Geschäft in Zeiten der Marktwirtschaft. Früher brauchte man weniger Zeugnisse, heute muss man einiges vorzeigen. Zeugnisverkäuferinnen gibt es, trotz der Anschläge, bereits wieder viele.

Die Metro lügt auch, ist kein wahrhaftes Bild der Stadt. Denn in der Metro sind vor allem junge Leute. Alte Menschen, die keine Treppen gehen können, gibt es nicht. Die Metro sortiert aus. Zwar könnten sie die Rolltreppen nutzen, um nach unten zu fahren, aber wenn sie umsteigen müssten, und umsteigen muss man, denn die Metro hat einen Ring im Zentrum, von dem man auf die verschiedenen Radiallinien, die Zulieferer, umsteigt, umsteigen muss man über Gänge und Treppen. Für alte Menschen oder für Behinderte ist das unmöglich, selbst, wenn wer helfen sollte. Nichts zu machen, die Moskauer Metro sortiert. Wenn man auch fragt: Ja, klar, in der Metro bekommst Du keinen Querschnitt der Bevölkerung. Aber auch oben, in der Stadt, ist es so: alte Menschen bleiben zuhause, nur, wenn Du noch laufen kannst, kannst Du raus. Moskau ist eine brutale Stadt.

 „Die Stadt ist voll“, sagt Galina Milowzorowa, und sie sagt das stolz. Sie habe ihren Mann übrigens nicht in der Metro kennengelernt und sich auch so gut wie nie mit ihm hier verarbredet. Sagt sie und lacht, weil sie weiß, das ist ungewöhnlich für ein Paar in Moskau. Es gibt wenige Bänke in den Metro-Stationen. Aber wenn es welche gibt, sitzen Pärchen darauf. Sie deutet zu einer anderen Statue: an der mit dem gebückten Arbeiter, der einen Presslufthammer in den Boden rammt, steht ein Mann mit einem Blumenstrauß. Rote Rosen. „Sie wird kommen.“ Wir lachen.

Auch an dem Bogen mit der Scharfschützin, die den Rücken in die Wölbung presst, ihr Gewehr an die linke Brust lehnt und mit der rechten Hand den Orden an ihrem Kragen berührt, steht eine Frau und liest ein Taschenbuch. Er wird kommen. „Übrigens, den alten Mann, der noch arbeitet, gibt es, er war beim Bau der ersten Linie dabei. Ich hab mich erkundigt.“ Da, aus einem der acht Wagen der Linie zwei, steigt ein junger Mann. Er und das Mädchen sehen sich im selben Augenblick. Beide lächeln. Die Wärterin auch. Das ist etwas Besonderes in Moskau, denn in dieser Stadt ist ein grimmiger Blick Normalität. Sie küssen sich. Was offiziell verboten ist, Küssen kostet 500 Rubel, knapp 20 Euro.

Die Stationswärterin sieht den Kuss, dreht sich um, geht weg. „Naja, es ist auch verboten, mit einer Bierflasche Metro zu fahren“, sagt sie, „aber alle machen es.“ Ja, oh ja, bestätigt sie, „das hier ist die schönste Moskauer Metrostation.“ Aber mit der Aussage kann man nicht viel anfangen, jede Stationsleiterin sagt das über ihre Station, immer mit viel Überzeugung, manchmal fast mit Liebe in der Stimme. Und jedesmal denkt man: sie könnte recht haben. Es ist schwer, sich eine Lieblingsstation rauszupicken.

Tatjana Solowjowa, Vorsteherin der Station Kiewskaja, findet, „Kiewskaja ist die schönste, auch ganz objektiv, nicht weil ich hier arbeite. Hier stimmt alles, zur Arbeit gehen, besser, mit der Metro zur Arbeit fahren, ist ein Vergnügen.“ Ihre Schichten: sie arbeitet von 8 Uhr bis 20 Uhr, mit einigen Pausen, schließlich sind sie zu zweit hier unten. Dann 48 Stunden Erholung, dann von 20 Uhr bis 8 Uhr. „An der schönsten Station Moskaus.“ Ihr Mann und ein paar ihrer Verwandten die auch für die Metro arbeiten, fänden das auch, obwohl sie an anderen Stationen arbeiten.

Wichtig für ihre Arbeit sei: „Disziplin, streng sein, ohne das geht es nicht, pünklich sein.“ Es gebe viele Sonderzahlungen, viel Urlaub, Erholungszentren für die Kinder, Sanatorien, ein metroeigenes Krankenhaus. Es ist wie eine Familie.“ Sie macht eine Pause, „ja, es hat sowas von den guten alten Zeiten.“

Kollegin Gavrilina Tatjamwik führt in das Reich der beiden, ein kleiner Raum am Ende der Station. Neun Bildschirme zeigen, was draußen passiert, „in der Rush Hour muss man draußen stehen“. Aber die Bildschirme helfen sehr. „Die gibt es seit fünf Jahren, früher war die Arbeit anstrengender.“ Es gibt eine Mikrowelle, einen elektrischen Wasserkocher, vier Stühle mit Lederpolstern. Und diesen Tisch mit den Telefonen: zwei rote, ein grünes, ein schwarzes, ein helles. Not-Telefone, eines direkt zur Miliz, eines zum Streckenleiter.

Es dauert Tage, eine Wärterin zu finden, die nicht nur zufrieden spricht. Sonja Filatowa an der Station Kropotkinskaja sagt, sie arbeite nur noch hier, weil, sie zuckt die Schultern: „Wo wartet man auf uns?“ Ihr drücke es auf das Gemüt, unter der Erde zu sein und zu sehen, wie tausende von Leuten vorbei eilen, nach oben, ins Licht zu gehen. „Zumindest im Sommer.“

Maria Koralewa, Polizistin der Station Novokuznezkaja, wo den Helden des Krieges gedacht wird, denen aus Odessa, Leningrad, Stalingrad, sieht schmuck aus in der blauen Uniform, dem blauen Käppchen auf dem Kopf, der schwarzen Pistolentasche und dem Schlagstock am Gürtel, der Signalkelle in der einen und dem Schminktäschchen in der anderen. Sie sagt: „An den Lärm gewöhnt man sich. Man ist unter Leuten.“ Die Leiterin der Station, Lidia Afonina, ist eine Quasselstrippe, will alles über Metros in Deutschland wissen. Ob ich auch welche in anderen Ländern kenne? Sei Moskaus wirklich die schönste? Ja, gut, habe sie sich gedacht. Sie sei stolz, hier zu arbeiten. „Die Metro ist unser Reichtum.“

Die Metro war der einzige grosse Bau in Rußland, bei dem so gut wie keine Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Einige Deutsche, meist Kommunisten, geflohen vor den Nazis, arbeiteten mit auf der größten aller großen Baustellen im Kommunistischen Reich. Einen amerikanischen Ingenieur gab es in leitender Funktion. Die Arbeitsmoral war höher als anderswo: „Die Exklusivität des Baus“ sorgte dafür. Viele der sonst in der Diktatur des Proletariats geltenden Regeln wurden außer Kraft gesetzt.

Laut Statistik arbeiteten weniger Parteimitglieder als auf anderen Baustellen. Nach der Planungsphase hatte es von ganz oben die Anweisung gegeben: keine politischen Säuberungen bei der Metrostroj, der zuständigen Planungsbehörde, durchführen! Woanders wurden Intellektuelle auf Systemtreue untersucht. Wegen falscher Worte oder weil dein Vater Kulake, also mal Landbesitzer war, wurdest Du schnell Systemschädlingen und ins Gulag befördert. Metrostroj war eher die Kuschelecke. Eine Säuberungswelle ganz am Anfang hatte die Behörde quasi gelähmt, sie aller Planer beraubt, zum Stillstand geführt. Also wurden die aus der Haft entlassen, wieder angestellt und von da an galt: es muss möglichst schnell gebaut werden, keine Zeit für Politik.

Beim Metrobau galten andere Regeln. Metrostroj bezahlte mehr für Material als andere Betriebe, die genauso auf Schubkarren, Zement, Holzdielen oder Stahl angewiesen waren. Also wurde, Angebot und Nachfrage, Metrostroj bei in Zeiten der Knappheit bevorzugt. An normalen Arbeitstagen und –nächten kamen 1200 Bahn-Waggons mit Material in Moskau nur für den Metrobau an. Normale Arbeitstage waren oft auch Sonntage und Samstage. Es ging schließlich um Tempo.

Zweimal wurde der Eröffnungstermin verschoben. Stalins Lieblingsdatum, der Jahrestag der Oktoberrevolution 1934, wurde verpasst. Noch ein Verschieben wäre propagandaschädlich gewesen. Am 14. Mai 1935 wurden die ersten beiden Linien eröffnet. Zuvor war der Druck stark. Er kam von Kaganovitsch. Stalins Kämpfer. Der treuste Helfer. Stalin ließ seinen ältesten Sohn erschießen. Wie alle, die ihm, wenn auch nur eingebildet, irgendwie hätten gefährlich werden können. Hunderttausende wurden hingerichtet. Von seinen engen Helfern überlebten nur wenige und alle waren immer in Gefahr.

Ausnahme: Kaganowitsch. Der hatte in der Ukraine mal befohlen, 16 Dörfer zu zerstören, um die Kollektivierung der Bauern zu beschleunigen. 35000 Todesurteile trugen seine Unterschrift. Er war loyal. Immer an der Seite Stalins, im Politbüro, im Sowjet der Stadt Moskau, als Metrobauer. Er bekam die Tobsuchtsanfälle, wenn was nicht funktionierte. Er schrie „Marmor statt Stuck“. Sein Stellvertreter war Nikita Chrustschow. Beide bekamen den Lenin-Orden für ihre Leistung beim Metrobau. Chrustschow erzählt in seinen Memoiren, 95 Prozent seiner Arbeitszeit habe er damals der Metro gewidmet. Kaganowitschs Rolle beim Bau wurde „ähnlich mystifiziert und mythologisiert wie Stalins Rolle für den gesamten Sowjetaufbau“, so Neutatz.

Ein Beispiel: „Als Kaganowitsch und Chrustschow im Schacht arbeiteten spielte dazu ein Orchester Marschmusik. Kaganowitsch tauchte übrigens just zu dem Zeitpunkt auf, als nur noch achtzig Zentimeter bis zur Vereinigung der Schächte 7 und 8 fehlten. Gemeinsam mit Chrustschow bewältigte er persönlich den Durchbruch.“

Chrustschows Lieblingsthema waren die Rolltreppen. Damals gab es keine in Rußland. Sie waren überall auf der Welt neu, rar. Die Metrostationen, teilweise sechzig Meter tief, brauchten welche. Die Sowjets meldeten sich bei beiden einzigen Rolltreppenfirmen der Welt, kündigten Käufe an. In Wahrheit wollten sie möglichst viele technische Informationen sammeln, Broschüren. Die Firma Otis verlangte, weil sie ahnte, was vor sich ging, für eine Rolltreppe den zwölffachen Preis. Die deutsche Firma Karl Flohr beschwerte sich bei der Russischen Botschaft in Berlin.

Die Sowjets bauten ihre Rolltreppen allein, setzten sich aus den wenigen ergaunerten Informationen Pläne wie ein Puzzle zusammen. Neutatz: „Mit größter Mühe gelang es den Russen, die Rolltreppen zu konstruieren. Die Montage erfolgte in höchster Eile im Dezember 1934 und Januar 1935, ohne dass man die Einzelteile vorher hatte erproben können. Die Montage wurde Tag und Nacht von Chrustschow überwacht. In der Konstruktion hatten die Russen die westliche Technik kopiert, in den Dimensionen hatten sie sie übertroffen: Die Rolltreppen der Station Kirowskaja waren mit sechzig Meter die längsten und schnellsten der Welt.“

Ein Vortriebsschild zum Tunnelgraben wurde in England bestellt und bezahlt, danach eins zu eins nachgebaut. Immer wieder. Die ersten Wagons, die eingesetzt wurden, waren Kopien eines Musters, das Siemens kostenlos geliefert hatte, als Werbung für einen Großauftrag, den es nie geben sollte.

In der Bauphase waren die Grabungsschächte wie kapitalistische Profitcenter organisiert. Jeder Chef verwaltete eigene Etats, ganz entgegen der üblichen Planwirtschaft. Es galt ein Nur-ein-Chef-Prinzip. Damals wurden alle anderen Betriebe und Baustellen von einem Duo geleitet,
einem Fachmann und einem Politfunktionär. Oft gab es sogar einen dritten Chef, den Gewerkschaftsvertreteter. Nicht bei der Metro. Ein Chef nur.

Die Gewerkschaft wurde völlig entmachtet, gegen alle ideologischen Regeln galt: „kein kleinbürgerlicher Demokratismus“. Die Metrobauarbeiter trafen sich oft zwei Stunden vor Beginn ihrer Schicht, zogen durch die Stadt, nahmen jedes Brett und jedes mögliche Ausrüstungsteil. „Wir stahlen alles, was uns in die Hände geriet“, berichtete ein Chefingenieur bereits 1934. Unter den Augen der Polizei. Der war gesagt worden, beim Metrobau gelten andere
Regeln. Es wurden besonders hohe Löhne bezahlt, die Arbeiter quasi mit Geld gehalten. Metrobauer bekamen Stücklohn, verdienten ein Viertel mehr als andere Bauarbeiter.

1934 begann die große Säuberungswelle Stalins. Was Anfang der 30er passierte, war nur ein kleines Vorspiel gewesen. Sergei Kirov, nach Kaganowitsch Stalins zweiter treuer Gefolgsmann, war von einem Unbekannten erschossen worden. Wobei das Attentat wohl nur ein willkommener Anlass für Stalins Terror war. Viele alte Revolutionäre, die Helden von früher, fielen dem Regime zum Opfer. Alte Helden waren plötzlich tot. Nachfolger waren Stalin allein, Kaganowitsch noch und noch die Metroarbeiter, die überall mystisch verklärt präsentiert wurden.

Verschiedene Gemälde und Statuen in den Stationen zeigen sie als Speerspitze des russischen Proletariats. Das auf Fließen gemalte, riesengroße Bild am Übergang der Ringstation Kievskaja zur Kievskaja Radialstation zeigt Metrobauarbeiter bei der Arbeit und wirkt wie ein Leni-Riefenstahl-Film.

 „Räume des Jubels“ nennt der Philosoph Ryklin die Metro, beschreibt sie als symbolische Architektur wie den Turmbau zu Babel, als „ästhetisch wie kulturell vollkommenes Bauwerk“ und als „ideales Bauwerk des Sozialismus“. Ryklin hat den „Metrodiskurs“ der Moskauer untersucht und beschrieben. Das bedeutet, die Art wie über die Metro gedacht und gesprochen wird. Wobei Ryklin feststellt, der Diskurs, die Beziehung der Moskauer und zu ihrer Metro „trägt unzweifelhaft paranoide Züge“.

Seiner Meinung gab Lasar Kaganowitsch in seiner immer wieder zitierten Rede vom 14. Mai 1935 bei der Einweihung der Metro, die Richtung vor. Er bündelte, was zuvor über die Metro als Propaganda verbreitet worden war, überhöhte alles noch einmal und lieferte das Schema, das in der ganzen Zeit des Kommunismuses galt und noch heute wirkt. So oft wurde wiederholt, was er damals sagte, dass es sich in den Köpfen aller Russen festfraß. Nach Kaganowitsch wurde die Metro auch benannt. Bis 1955, als Kaganowitsch, Stalin war tot, in Ungnade fiel, hieß die Moskauer Metro „Metro mit Namen Kaganowitsch“. Nun wurde sie zur „Metro mit Namen Lenin“. Der Zusatz wurde 1991 aus den Schriftzügen gestrichen. Doch laut Metrobehörde heißt sie offiziell noch so.

Kaganowitschs Rede: „Die Moskauer Metro übersteigt bei weitem die üblichen Vorstellungen von einem technischen Bauwerk. Unsere Metro ist ein Symbol der in Bau befindlichen neuen sozialistischen Gesellschaft. Sie fußt und funktioniert auf Grundlagen, die denen der kapitalistischen Gesellschaft entgegengesetzt sind.“ Die Bahn sei perfekt in allen Details. Das Licht unter der Erde heller als das Tageslicht. Sie funktionierte als Symbol gut. Die kanadische Kunsthistorikerin Annie Gerin von der Universität Ottawa beschreibt die Metro Moskaus als ein „social engineering project“. Es ging darum, „Kollektivstolz“ wachsen zu lassen. Und ein Gefühl von sozialer Zugehörigkeit, dieses: das ist unsere Metro.

„Die Metro bot günstigen Massentransport, vor allem aber sollte sie konkrete, sichtbare Beispiele dafür bieten, wie das Leben in einem voll blühenden Kommunismus werden würde. Die Metro wurde schnell ein Zeichen für die sowjetische Genialität, Kreativität und kollektiver Reichtum.“ Während des Zweiten Weltkriegs, als deutsche Truppen, 30 Kilometer vor Moskau standen, wurde an der Metro weitergearbeitet. Als Zeichen. Es gab Hoffnung, spornte an.

Die Wehrmacht bombardierte Moskau. Eine halbe Million Menschen flohen täglich in Stationen und Tunnel. 217 Kinder wurden dort geboren. Die Metro wurde Moskauern ans Herz gebombt. In der Station Majakowskaja tagte der Sowjet, hier fand der Festakt zum 24sten Jahrestag der Oktoberrevolution statt. In Mjasnitzkaja, heute Tschitye Prudy, war der Generalstab. In Belorusskaja das Luftwaffenkommando.

Natalija Potapowa ist Funktionärin, stellvertretende Leiterin des Komitees der Stadt Moskau für kulturelles Erbe, was etwa einem deutschen Amt für Denkmalpflege entspricht. Ihr Büro sieht auch so aus wie man sich das vorstellt bei diesen ersten, oberflächlichen Informationen. Es riecht nach Behörde und ihre eine Sekretärin kommt um 15.40 Uhr rein und sagt, dass sie jetzt geht. Um 15.55 Uhr die zweite. Natalija Potapowa, die Chefin, hat Jura studiert, dann Kunstgeschichte und hat ihren Traumjob gefunden. Den macht die Mitfünfzigerin jetzt schon lange, sie kennt sich aus im Behördenwesen und in der Metro.

Aber irgendwie läuft das Interview anders als vorhergeahnt: Rund, gemütlich, humorvoll, fragt sie: „Kennen Sie Leonid Utjosow?“ Sie weiß natürlich, dass ein Nicht-Russe den eher nicht kennt. „Er ist der Gründer des sowjetischen Jazz“ in den 30er und 40er Jahren. Während sie es sagt, lächelt sie ironisch. Aber später zeigt das Lexikon, es stimmt, Utjosow war einer der populärsten Musiker. Einer seiner größten Erfolge war „Das Lied des Pferdekutschers“. Das Lied ist fast so bekannt wie die „Ballade über die Kindheit“ von Wladimir Wyssotzki.

Der war so etwas wie der Dylan der Sowjetunion, konnte keine Platten veröffentlichen, aber die Lieder gingen auf Tonband herum, waren Schätze. In der „Ballade über die Kindheit“ erzählt er von der Freiheit unter der Erde, in der Metro, mit den Anspielungen auf die Bauzeit, den Hinweisen, dass wer für die Metro arbeitete, besser leben konnte und vor allem sicherer war vor Verhaftungen und Hinrichtungen. Und dass die Metrostationen, ja die Paläste, eine Alternative zu den schlechten Wohnbedingungen waren, „38 Zimmerchen und ein einziges Klo“, sang Wyssotzki. Metro gleich Freiheit, war die Hauptaussage des Liedes. Im Winter beheizt, im kurzen, heißen Moskauer Sommer kühl.

Doch Natalija Potapowa erzählt vom Lied des Pferdekutschers in der Innenstadt. Wie er sich bei der Arbeit freut auf die Heimfahrt, in der Metro. Und morgens auf den Weg zur Arbeit. Natalija Potapowa sagt: „Er nimmt die Linie 1, von Sokolniky bis Park Kultury, die war damals ganz neu, das Lied ist von 1936 oder so, kurz nach der Eröffnung. Sämtliche Stationen werden in dem Lied aufgezählt.“ Erst sein Hinweg zur Arbeit, dann sein Heimweg: Sokolniky, Krasnoselskaja, Komsomolskaja, Lubjanskaja und so weiter. Die Frau mit der lustigen Ausstrahlung singt die Stationen nicht in ihrem mit Kunstbüchern überfüllten Büro, hat jedoch etwas Swing in ihrer Stimme beim Aufzählen.

Sie ist baff, als ich ihr von Duke Ellingtons „Take the A-Train“ erzähle, dem Swing-Klassiker, etwa aus der gleichen Zeit, über eine U-Bahn-Fahrt in New York. Wirklich? fragt sie. Dann: aber die Moskauer Metro ist doch die schönere, oder? Vielleicht sei Take the A-Train schöner, aber dass die Metro Moskaus schöner ist als alle anderen, darauf könne man sich doch einigen, oder? „Das ist ja schon die Idee gewesen, bevor der Bau begann. Man musste zeigen, dass im sozialistischen Land die Metro die schönste der Welt ist. Früher waren die Paläste der Herrscher über der Erde, dann kam die Idee: Paläste unter der Erde, Volksbauten, also Paläste für alle. Es ging darum, eine feierliche Atmosphäre zu schaffen.“

Sie, ganz Kunsthistorikerin, überhaupt nicht Juristin, erklärt, dass man anhand der Metro und der Entstehungsdaten der einzelnen Stationen viel lernen kann. Den Weg vom Konstruktivismus oder auch vom Art Deco zur Avantgarde und zurück zu klassischen Formen, viel über den sozialistischen Materialismus. Über die Geschichte, den jeweiligen Zustand des Landes. Zum Beispiel: Einige der Moskauer Metro-Stationen wurden ja umbenannt. Kropotkinskaja hiess früher Dvorets Sovetov, Palast der Republik, Volkspalast. Aber der wurde ja nie gebaut, nur die Station dazu. Also wurde die Station, die quasi als Eingang zu dem geplant gigantischen Gebäude gedacht war, anders entworfen. Und Stationen in den 50ern verschämt umbenannt.

Wenn man genau hinschaut, so Natalija Popatowa, kann man in der Metro viel über Russland lernen. Schauen Sie die Linien weiter draußen an, die hässlichen. „In der Periode der einfachen Stationen waren viele unzufrieden. Die Moskauer waren einfach dran gewöhnt, eine schöne Metro zu haben. Die Stationen in den 60ern waren ein Schock. Es hat auch nicht getröstet, dass jeder wusste, dafür wird großzügiger Wohnraum gebaut.“ 

Die Metro, das war wohl sowas wie der Zirkus in Rom, eine Art Brot und Spiele für die Massen. „Wann immer eine Station eröffnet wurde, war das ein Großereignis für alle. Die Leute wollten was zu sehen haben, und sie bekamen es geboten. Die Tradition der Führungen in der Metro existierte immer.“

Sie kann über jede Station sprechen. Immer weiß sie, wer dort was machte, an welcher Station er noch war, was er noch so geschaffen hat. Irgendwann mal stoppt sie, schaut fragend, sagt: „Vielleicht kann das ein Nicht-Moskauer oder ein Nicht-Russe nicht nachvollziehen, aber die Metro ist das erste sowjetische Märchen.“ Ob sie eine Lieblingstation hat? „Klar, einige.“ Sie lacht. Es gebe viele schöne. „Das Tolle ist ja, dass es keine Norm gab, dass die Künstler freie Hand hatten. Sie bekamen eine Thematik vorgegeben und dann haben sie losgelegt.“

Kagnowitsch hatte doch Entscheidungsgewalt? „Glaub ich nicht, das liest man oft, aber das war kein Künstler, kein Architekt. Künstler hatten freie Hand.“ Sie zählt Namen auf, Faworskij, Lansere, Gernrich, Jefinow und und und. Ordnet sie den Stationen zu, kennt jede Zuordnung auswendig, muss nur einmal nachschauen bei etwa 20 Stationen, die sie aufzählt. Sie gerät in rauschhaftes Schwärmen. „Jeder, der Rang und Namen hatte, hat an der Metro mitgewirkt.“

Im Altrussischen ist rot und schön ein Wort. Roter Platz bedeutete auch Schöner Platz. Das hat sich geändert, aber die Sowjets haben es aufgegriffen und Rot zu ihrer Farbe gemacht. „Man sieht das überall. Die Station Krasnye Vorota bedeutet ja Rotes Tor. Das gab es damals schon nicht mehr, aber der Name blieb, die Station bekam viel roten Marmor. Ach ja, es war immer sowjetischer Marmor, aus Sibirien, Mittelasien, aus dem Kaukasus. Kievskaja hat 15 verschiedenen Sorten.“

Übrigens, es gebe einen Mann, der arbeitet bei der Metro, ist über 90 Jahre alt, war schon in den 30er Jahren dabei. Wirklich? Ja, ganz sicher, sie habe über den mal was gelesen. „Der kann sicher Sachen erzählen. Ich meine, der war mit Stalin in einem Wagon.“ Nein, sie wisse nicht mehr.

 

Natalija Potapowa irrt wohl, was die künstlerische Freiheit der Künstler beim Bau angeht. Steno-Protokolle in den Archiven sagen: im Juni 1934 bestätigte Kaganowitsch die Entwürfe für sechs Stationen und zwei Vestibüle, also die oberirdischen Zugangshallen und erteilte den Architekten Anweisungen für die Überarbeitung der restlichen Entwürfe. Er machte Änderungsvorschläge und beriet die Architekten. Die Stationen sollten trotz konstruktionsbedingter Ähnlichkeiten nicht eintönig wirken. Im August 1934 bestätigte er einige der neuen Entwürfe, einige lehnte er aber erneut ab und gab den Architekten neue Anweisungen.

Mal wieder bei Valentin Blolotov, 78 Jahre alt, seit 61 Jahren bei der Metro und nun Leiter des Metromuseums an der Station Sportinskaja: ob er was über den Mann wisse, der 90 Jahre alt ist oder so und noch immer für die Metro arbeite? „Ja klar, den gibt es, ich hab ihn ein paarmal gesehen, er ist Elektriker. Ich kann mal schauen, wie er heißt.“ Er sucht und findet nichts. „Es gibt ihn, irgendwo muss der sein.“ Aber erst seine eigene Geschichte. Ja, er hat seine Frau bei der Metro kennengelernt.

Er kann sich an ein paar Eröffnungen von Metrostationen erinnern, zu denen ihn sein Vater mitnahm. Als Jugendlicher arbeitete er in einer Fabrik, aber er wollte Maschinenführer werden, nur das. Wurde Maschinenführerassistent. Er arbeitete sich hoch. Kam nach Prag, denn die Moskauer Metrofachleute waren am Ende so was wie Botschafter, lehrten in vielen kommunistischen Städten, wie Metro geht. Jetzt ist er schon sieben Jahre Leiter des Metromuseums. Sagt: „Wir brauchen keine Geschichtsbücher für Moskau, wir haben ja die Metro.“ Und, es täte ihm leid, er könne nicht helfen, der Name des alten Mannes falle ihm nicht ein. Er sei ja auch alt. „Aber es gibt ihn.“

Als Trost erzählt er von den Berliner Wagons. Im Krieg fehlten Wagons, weil die Betriebe Waffen produzieren mussten. Es wurden neue Linien eröffnet, Station um Station, die Stadt wuchs, die Metro war überlastet. Die russische Armee beschlagnahmte also in Berlin die U-Bahn-Wagen. „Viel Arbeit, die hatten eine andere Spurbreite. Mit extremem Aufwand passten wir die Achsen an. Die Wagen waren schmaler. Links und rechts fehlte ein Fußbreit. Also haben wir an die Bahnsteige, es war ja nur eine Linie, die 5, Holzdielen gemacht. War nicht schön. Zum Glück nur kurz, dann wurden wieder Wagen hergestellt.“

Interview mit Dimitrij Gaew im Gebäude der Metrobehörde, gleich neben der Station Prospekt Mir, dem Meer des braunen Marmors. Er ist der Chef der Metro, hat 1990 als Stellvertreter angefangen und gerade zehnjähriges Chefjubiläum als oberster Herr der Metro. Monate dauerte es, einen Termin bei ihm zu bekommen. Er ist eine ganz große Nummer. Sieht auch so aus, trägt ein kurzärmeliges weisses Hemd, eine schwarze Krawatte. Hat einen großen Schreibtisch, auf dem man tanzen könnte. Wirkt mit seinen großen Händen und den dicken Armen bullig, wie man sich einen harten Funktionär vorstellt. Ab und zu lächelt er, aber er lächelt kalt. Raucht viel.

Er kann Politikerphrasen: Die Klassik der Metro werde bewahrt werden, aber man müsse mit der Zeit gehen. Die Metro ist die Visitenkarte der Stadt, des Landes, ein Anzeiger der Entwicklung. Er kann die Zahlen: 170 Stationen, 165 echte und 5 der leichten Metro, ein billig gebauter Zubringer über der Erde. An 35 Stationen wird gerade gebaut. Die Metro trägt 56 Prozent der Transportlasten der Stadt. 38 Prozent der Bevölkerung fährt kostenlos, Rentner, Schüler. Die Metro ist ein großer Arbeitgeber: 35000 Menschen, dazu die Zuliefer, die Tochterfirmen. Früher galt: pro Kilometer Metro arbeiten 130 oder 140 Leute, heute sind es 201. Später nachgerechnet: 275 Kilometer mal 201 sind 55275, die Metro ist eine Jobmaschine. Eine Milliarde Dollar pro Jahr gibt sie aus, Geld der Stadt, des Landes als Zuschüsse, selbst verdientes. Das Gehaltsniveau sei gut, zwar stehe die Metro da nicht mehr auf dem ersten Platz wie früher, aber unter den ersten zehn sei sie schon noch. „Wir haben viele Bewerbungen. Wir bilden viele Leute aus.“

Einmal sagt er: „Die Metro ist bequem, mehr muss man eigentlich nicht sagen.“ Und: „es hat wer gesagt, man brauche keine Geschichtsbücher in Moskau, alles ist an den Wänden und Decken zum lernen.“ Auf die Frage, ob er Metro fahre, will er nicht antworten, auf die Nachfragen auch nicht, am Ende des Interviews kommt raus: er hat eine Limosine. Er habe nur wenig Zeit. Auf dem Weg zur Tür erzählt er von dem alten Mann, der über 90 ist, noch bei der Metro arbeitet und damals bei Stalins erster Probefahrt dabei war. Wirklich? Wo finde ich ihn? „Ewgenja Sergewna wird Ihnen die Telefonnummer geben.“ Drei Tage später hat sie die gefunden.

Es gibt ihn. David Singerowitsch Fengerut sitzt an seinem Esstisch in seiner Wohnung nahe der Station Sportinskaja. Auf dem Balkon steht ein Stepper, „wenn ich in Rente gehe, werde ich da täglich darauf laufen“. Zwei Ein-Kilohanteln liegen auf dem Boden. „Die benutze ich jetzt schon“. Der Raum ist klein, wird dominiert von einem riesigen Fernsehgerät, einem grossen Radio auf Holzstelzen, einem vollgepackten Bücherregal hinter Glas. Auf dem Tisch steht die zweite 500-Gramm-Wodkaflasche.

Er schenkt immer nach, sich selbst wenig, mir schüttet er immer voll. Ruft irgendeinen Spruch. Zum Beispiel: „Auf die Metro!“ oder „Auf die neue Zeit!“, hängt immer „aber leermachen“ dran. Es ist kurz vor Mitternacht. Und ja, der Mann ist 91 Jahre alt, „doch, doch, geboren am 12. Juli 1915, in Odessa.“ Fengerut ist also Ukrainier. War ein Kind in Zeiten der Hungersnöte. Vater starb im Bürgerkrieg.

Er fing mit 14 an zu arbeiten, in einem Stahlwalzwerk in Mariopol. „Zwei deutsche Firmen waren da, haben das Werk aufgebaut, uns ausgebildet. Hitler und Stalin waren ja anfangs so.“ Er verschränkt seine Zeigefinger. „Es war im Bürgerkrieg völlig zerstört worden. Ich hab drei Jahre da gearbeitet, bis 1932, hab viel von den Deutschen gelernt. Am Ende war ich Elektromonteur. Der Betrieb musste mich an andere ausleihen, weil ich derjenige war, dessen Maschinen immer liefen. Hab ich von den Deutschen.“

Er sagt sein einziges nicht-russisches Wort: „Profis.“ Weiter russisch: „Die waren klasse, haben mittags am Arbeitsplatz gegessen. Sowas kannt ich nicht. Sparte Zeit. Ich bekam einen Orden später, weil meine Maschinen nie kaputt waren.“ Kam auf die Uni, studierte Elektrotechnik, ein Jahr lang. So etwas gab es vorher nicht, der Kommunismus hat ihm ein Studium möglich gemacht. Er sieht jünger aus, obwohl, nein, man sieht, dass er alt ist. Er wirkt jung, weil er zappelig und hektisch ist. Er redet zu laut, vielleicht hört er schlecht. Hat Humor, springt irgendwann mal auf, macht die Stereoanlage an, um seine Lieblingsmusik vorzuführen. Morgen früh um 7 Uhr muss er im Depot an der Station Park Kultury sein, seinem Arbeitsplatz. „Nein, kein Witz“, sagt er. Er ist der Leiter des Depots. Wagons werden gereinigt, Druckluft, Wasser, kontrolliert, gewartet.

„1933 hab ich vom Bau der Metro gehört. Ein Freund hatte eine Tante in Moskau.“ Er schildert es wie einen Goldrausch. Metro, da muss man hin, das ist die Zukunft. „Der Freund, seinen Vornamen weiss ich nicht mehr, ich werde alt, sein Familienname ist Tkatschenko, er starb im Krieg, ging vor, ich ein paar Wochen später hinterher. Ich liebe Technik, aber damals habe ich sie noch mehr geliebt. Ich wollte zur Metro. Vergiss die Uni, hab ich mir gesagt. Ich will dabei sein. Zuerst wurde ich bei einem Versuchsbau eingesetzt, da wurden Maschinen getestet.“

Er habe sich als Elektriker hervorgetan. Als die erste Probefahrt war, kam sein Chef und sagte, Du fährst mit. So saß er im selben Wagon wie Kaganowitsch und Stalin bei der ersten Fahrt die je eine Metro in Moskau machte. „Das war eine Auszeichnung. Kaganowitsch erklärt Stalin die Druckluft-Doppeltüren, steckt einen Fuß nach draußen, als sie zugeht. Will zeigen, dass es ungefährlich ist. Tut nicht weh, sagt er. Aber er hat Probleme, den Fuß reinzuziehen. Stalin befiehlt, unten in die beiden Türen kleine Ausschnitte reinzusägen, damit keiner seine Füße einklemme.“

Es ist nach Mitternacht, der Fotograf ging betrunken heim. Fengerut wird langsam ungeduldig: „Warum, junger Mann, warum diese Frage? Zum vierten Mal fragst Du mich ob ich Rentner bin. Nein, ich arbeite, ich will nicht Rentner sein.“ Ja, sagt er, andere hören früher auf, aber wer nicht aufhören wolle, müsse nicht. Er sei sowas wie eine Institution. 1938 geheiratet, Clara Timofinowa, „sie hat so gut getanzt, ich hab von ihr tanzen gelernt“. 1990 ist sie gestorben. „Sie konnte so gut tanzen.“

Er steht auf, zieht die Dometscherin mit, drückt auf eine Taste des CD-Players. Südamerikanischer Samba. Los geht es. Mir ruft er zu: „Schenk ein.“ Zu ihr: „Hey, Kleine, ich führe.“ Er leitete in den 30er Jahren und 40er Jahren zwei Strecken, Teatralja bis Sokol und Revoluze bis Kievskaja, zuvor war er Elektriker an der Station Park Kultury. „Die Metro ist mein Lebenslauf.“

Im Krieg wurde er in einer Kaserne untergebracht. „Ich hatte ein Auto zu Verfügung.“ Zuständig für Wasser, Strom, Lüftung. Rennt los, holt einen Orden, „die Rote Fahne bekam man nicht einfach so“. Er kann sich an deutsche Bombenangriffe erinnern, „wie an der Station Beloruskaja Wasser die Rolltreppe runterlief, weil oben Leitungen getroffen waren“. Sagt, Du schläfst auf der Couch. Die 27jährige Dolmetscherin in seinem Doppelbett. Und morgens um 6 Uhr macht er, wie immer, Frühstück. „Los, hoch, ich muss zur Arbeit“, ruft der 91jährige wie ein Wecker. Beim Kaffee gibt er den Tipp: Schau Dir Park Pobedy an. „Wie früher.“

Am nächsten Tag wieder zu Valentin Blolotov, dem Museumsleiter: „Ja, stimmt, die erste Generation der Wagons hatte unten so kleine Löcher in den Türen, Stalin hatte das befohlen. Ich kann mich an die noch erinnern, da war ich ein Kind. Wir haben irgendwo Fotos.“ Ach ja, Park Pobedy, gut, liege etwas abseits, aber sei wichtig, „die Rückkehr, wissen Sie, jahrelang wurde nur gespart. Schauen Sie die Stationen an, peinlich. Es fehlte Geld, auch jetzt noch. Wir bräuchten noch Strecken und Stationen und die Leute wollen keine billigen, hässlichen mehr. Schauen Sie sich Park Pobedy an, das ist sowas wie ein Symbol, wieder etwas Großes, ein Versprechen.“

Park Pobedy, das neue Versprechen, eine Endstation. Sieht aus wie eine Allmachtsfantasie. Gross, kaum Leute drin. Zu hell. Zuviel Marmor. Ein Symbol der Grösse. Darüber ist der riesige Museumsbau, der an den Großen Vaterländischen Krieg erinnert, ein bisschen auch an den Sieg über Napoleon, aber vor allem mal an den Grossen Vaterländischen Krieg gegen Deutschland. Liegt in einem Park, an dessen Rand ist der Abgang zur Station. Zur Station? Nein, zu den zwei Stationen. Es sind zwei. Jede hat ein Bild vom neuen Staatskünstler Tsereteli.

So war es zu lesen. Lesen! Die Moskauer lesen soviel. Was auch mit an der Metro liegt. In den fahrenden Waggons ist es so laut, daß man sich kaum unterhalten kann. Also schlafen die Moskauer in der Metro oder sie lesen. In jedem Wagen sind vierzig Sitzplätze. In einem Buch steht, es seien 44. Einen halben Tag fahre ich Metro und zähle Sitze. 40, nie 44.

Sie sind immer belegt. Auf mindestens zwanzig sitzt wer, der liest, Bücher vor allem, seltener Zeitschriften, ganz selten Zeitungen. Was daran liegt, daß es so gut wie immer voll ist. Von den 80 und mehr Menschen, die stehen, hat jeder dritte ein Buch vor den Augen, Zeitungen würden nicht funktionieren. Wieder in der Station Palast der Revolution. An der Statue der Frau mit Kopftuch, die links eine Sichel und rechts ein Ährenbündel hält, steht eine Frau und schminkt ihre Lippen, kontrolliert übertrieben oft in ihrem kleinen Taschenspiegel. Die Stationswärterin sagt, er wird kommen.

Marmor! Soviel Marmor! Eine Liste aus einem der Bücher, die gerade erschienen sind, weil die Metro 70 Jahre alt wurde: heller Marmor aus dem Koelga Steinbruch in Karelia, ebenfalls heller Marmor aus dem Steinbruch von Ufa im Ural, Marmor von der Krim, fleischroter Marmor aus dem Silieti Steinbruch, schwarzer Davalu-Marmor mit weißen Adern aus Armenien und so weiter. Das sind ein paar beliebige Beispiele aus der langen Marmor-Liste. Die so lang ist wie die Granit-Liste, die Quarz-Liste, die Halbedelstein-Liste.

Park Pobedy. Park des Sieges. Das neue Versprechen. Neues Symbol geträumter Größe. Eine Endstation. Wirkt einschüchternd. Sieht aus wie eine Allmachts-Fantasie, mit der sich Psychologen beschäftigen sollten. 80 Meter tief in der Erde, nicht 60 Meter wie die Machtträume der 30er Jahre. Nein, 80 Meter. Die Rolltreppen sind, Superlativ war Pflicht, 136 Meter lang. Darüber der Museumsbau, der an den Großen Vaterländischen Krieg erinnert, in einem Park. Die Station. Eröffnet 2003, geplant von Nickolai Schumakow von der Metrogiprotans. Die Station? Nein, zwei Stationen. Zwei Riesentunnel, länger, höher, mit edlem Schachbrettboden. Dazwischen majestätische Treppen.

In jedem Tunnel ein Werk von Zurab Tsereteli, Mitglied von Gremien und Institutionen, Medienstar, Ordensträger, Freund des ehemaligen Bürgermeisters. Seine Bilder in Park Pobedy auf Emaille reflektieren Licht, scheinen wie Sonnen. Nur Helden darin. Wirken, als würden sie den Betrachter gleich anspringen. Sind aus der Perspektive von unten gemalt, wirken groß und mächtig. Drohend. Viel rot, gelb, braun. Eine Anmutung von Comicstrip, wegen der Farben und dem entschlossenen Blick des Kämpfers. Und wegen der Zahl 1945, die unter dem Bild steht, wie bei Comics eben.

Ein Soldat auf einem Sockel hat ein kleines Kind auf dem linken Arm. Es drückt seinen Kopf an dessen Schulter. In der rechten hält der Kämpfer das Schwert. Dahinter brennt Berlin, sieht man den Sieg im Großen Vaterländischen Kriegs.

Die 1,80 Meter große bullige Frau in der blauen Uniform hat goldene Augenlider, sie wirkt gefährlich. Mit der möchte ich nicht im Ring
stehen. Sie könnte aus dem Bild kommen, ist die Leiterin der Station, erklärt ihre Orden. Dunaenka Lubow, Fahrdienstleiterin 1. Klasse. Die einzige Stationschefin mit drei Schulterstreifen, die ich gesehen habe. Ich sah viele. Sie fragt: „Beeindruckt?“

Ja.

„Es freut mich, dass Sie bemerkt haben, dass das eine schöne, große Station ist. Sie ist neu. Keine von früher, eine neue.“ Sie führt den Kontrollraum vor, mit acht Leuten, in den anderen Stationen waren es zwei oder drei Leute. „Park Pobedy ist besonders.“

Ein Symbol? „Ja, man ahnt, wo es hingehen kann.“ Was? „Die Entwicklung der Metro.“ Der Metro? „Und des Landes. Park Pobedy ist ein Versprechen. Das versteht man aber nur als Russe.“