Rache ist süß
[71] Ein Mann und zwei Frauen in Kitteln weiß wie Schnee stehen an einem der acht glitzernden Metallbottiche in einer Werkhalle in Essen: Sie programmieren die Maschinen, die Lebensmittelkleber dosieren, mischen, rühren. Die Chemie-Produktions- und Handelsgesellschaft (CPH) ist überall in der Welt dabei, wo Etiketten auf PET- oder Glasflaschen geklebt werden. Der Mittelständler produziert in vier Ländern und beliefert über 80. Die Mitarbeiter in Weiß kontrollieren gera- de besonders genau, prüfen jedes Detail. Denn sie mischen einen Extrakleber, einen ganz speziellen für einen speziellen Markt: für Malaysia, das Boomland, das keine Standardware aus Deutschland akzeptiert. Zollvorschriften zwingen die CPH-Manager, ihre Rezeptur abzuwandeln. Die Behörden wollen das so, sonst bleibt der Markt verschlossen.
Willkommen in der Welt des Protektionismus. Zoll, Steuern, Quoten, Export- und Verarbeitungssubventionen, Marken- und Namensjustizgefechte sind die Klassiker der Marktzutrittsbarrieren. Sie sind alt, wurden lang von den Industriestaaten eingesetzt und feingeschliffen, dann nach und nach abgebaut. Doch in jüngster Zeit tauchen die Handelshemmnisse wieder auf, als Mittel der Schwellenländer, die versuchen, ihre eigenen Märkte zu schützen. Vertauschte Rollen: Die früheren Opfer werden zu Tätern.
Früher rügte die Weltbank in Washington, Verfechter des freien Welthandels, regelmäßig die EU, veröffentlichte immer wieder wissenschaftliche Untersuchungen: Europa, kritisierten sie, schotte seinen Binnenmarkt mit allerlei unfairen Tricks ab und benachteilige Entwicklungsländer. Bis heute sorgt die EU dafür, dass beispielsweise Kaffeebohnen zollfrei in die Festung Europa kommen und hier von europäischen Firmen wertvoll geröstet, gemischt [72] und gepackt werden können. Sobald sich aber wer in den Herkunftsländern an der wahren Wertschöpfung versucht, also rösten, entkoffeinieren, mahlen oder vakuumverpacken will, wird der Handel mit Europa teuer. Dann sind Zölle fällig, die klettern, je weiter der Kaffee verarbeitet ist. Die EU bietet ihren Kaffee- und Schokoladenfirmen einen geschützten Markt. Rohkakao darf zollfrei in die EU. Für Kakaobutter aus Brasilien sind 7,7 Prozent Zoll fällig, für die nächste Verarbeitungsstufe Kakaomasse 9,6 Prozent. Für fertige Schokolade gibt es ein kleines Kontingent mit 43 Prozent Zoll. Ist das ausgeschöpft, steigt der Zollsatz, und brasilianische Schokolade wird endgültig zu einem Luxusgut.
Das Centre for Economic Policy Research veröffentlichte noch 2011 im Auftrag der Weltbank eine Studie, nach der die EU den freien Weltwarenverkehr behindere – auch wenn die Behörden offiziell verkünden: „Grundsätzlich ist die Einfuhr von Waren der gewerblichen Wirtschaft in die EU genehmigungsfrei zulässig.“ Die Liste der Ausnahmen ist allerdings lang, 167 DIN-A4-Seiten. Schwellenländer haben die Tricks inzwischen gelernt. Worunter sie früher litten und noch immer leiden, das können sie jetzt auch – mit Folgen für Exporteure. impulse zeigt drei Beispiele.
Der Fall CPH: Rezept inakzeptabel
Wenn auf Bier- und Colaflaschen, Joghurtbechern oder Käsepackungen Etiketten kleben, ist meist CPH dazwischen. Die Firma, 1982 von Gerwin Schüttpelz gegründet, hat 300 Mitarbeiter und Werke in Portugal, Russland, der Ukraine und, das größte, in Essen. „Jede Sekunde werden weltweit 10 000 Flaschen mit CPH- Klebstoff etikettiert“, sagt Schüttpelz. Kunden sind Coca-Cola, Pepsico, Nestlé, Heineken, Carlsberg, Danone und Zigarettenhersteller.
Sein Problem in Malaysia ist eine Zollvorschrift, die festlegt, dass Lebensmittelklebstoff nicht mehr als 49 Prozent Reisstärke enthalten darf. Wenn doch, sind 25 Prozent Zoll fällig. Wenn nicht, keiner. Der normale CPH-Etikettenklebstoff, mit dem in fast 100 Ländern der Erde geklebt wird, enthält aber 51 Prozent Reis- stärke. Also muss bei CPH in Essen zusätzlich gearbeitet werden, wenn wieder eine Klebstoffbestellung aus Malaysia reinkommt.
Das Land könnte zwar Nahrungsmittel nach Europa liefern, kann es sich aber nicht leisten, weil die EU keine Zollschranken mehr hat, sondern Zollmauern. „Die EU ist restriktiv“, sagt Rolf Langhammer, Professor am Institut für Weltwirtschaft in Kiel. „Im Agrarbereich gibt es viele EU-Barrieren.“ Für Reis aus Malaysia müsse der Lieferant „Zölle, die wertmäßig im drei- stelligen Bereich liegen“, zahlen. Das würde den Reispreis mindestens verdoppeln. Einigen Ländern gesteht die EU Quoten zu, sodass sie etwas Geld verdienen können. Nicht aber Malaysia. Das Boomland ist zu einem Konkurrenten geworden. Da gelten die strengen Regeln.
„Ich kann das verstehen“, sagt Schüttpelz. „Das Land will seinen Agrarsektor schützen, die machen nichts anderes als die EU.“ Also mischen seine Mitarbeiter Klebstoff nur für Malaysia mit mehr Kasein, einem aus Milch gewonnenen Protein. In Malaysia gibt es keine Milchbauern, also keine Schutzmaßnahmen für sie. Und CPH hat ein neues, drei Personen starkes Team, die „Abteilung für Rezepturanpassung“.
Der Fall Ritter Sport: Name belegt
„Brasilien“, sagt Alfred Ritter, Chef des Schokoladenherstellers Ritter Sport in Waldenbuch bei [73] Stuttgart. Er schüttelt den Kopf, schaut in die Statistik auf seinem Schreibtisch. In 92 Länder verkauft der Mittelständler Schokolade, setzte im vergangenen Jahr 330 Mio. Euro um, im Inland 9,9 Prozent mehr als im Vorjahr, im Ausland 10,4 Prozent. Der Auslandsanteil beträgt 35 Prozent. „Wir wollen vor allem im Ausland wachsen, weil in Deutschland die Einzelhandelsketten unsere Margen drücken“, sagt Ritter. „Mehr Umsatz im Ausland würde uns unabhängiger machen.“
Brasilien ist ein wachsender Markt mit einer neuen Mittelschicht, ein großes Land voll potenzieller Ritter-Sport-Esser. „Wir wollten natürlich nach Brasilien“, sagt Ritter. „Das ging aber nicht.“ Ritter Sport scheiterte an juristischen Spitzfindigkeiten. Ritters Problem ist die Firma Conservas Ritter in Cachoeirinha, die Marmelade in Gläser und Blechdosen füllt. Der Name Ritter ist also belegt in Brasilien.
Der schwäbische Schokoladenmacher versuchte, seine Marke dort dennoch zu etablieren. Reisen, Gespräche, Telefonate und Mails mit Außenhandelskammern, Kanzleien, Botschaften, Beratungsfirmen folgten. Immer wie- der hörte Ritter: „Warum sollen wir euch da helfen? Wir dürfen ja nicht mal unseren Zucker nach Europa liefern.“ Brasilien produziert Rohrzucker, der darf quasi nicht in die EU. Quoten verhindern das. Aus Rohrzucker machen Anbieter in Brasilien Bioethanol, das nur in die EU darf, wenn Exporteure 60 Prozent Zoll zahlen. „Ein ganz fieser Zoll“ sei das, sagt Langhammer vom Institut für Weltwirtschaft, weil er in Euro pro Liter berechnet werde, nicht wie sonst üblich nach dem Wert der Lieferung. Europa schützt so deutsche Zuckerrübenanbauer.
Der Fall Enercon: Tochter weg
Stefan Knottnerus-Meyer, Chefjustiziar bei Enercon, einem der größten Hersteller von Windenergieanlagen der Welt, sagt: „Brasilien ist geklärt. In Indien haben wir ein viel größeres Problem.“ Mit seinen Werken und Handelsniederlassungen ist Enercon in aller Welt vertreten und setzte im vergangenen Jahr 3,7 Mrd. Euro um. Auf den Firmenschildern steht immer „Enercon“, nicht aber in Brasilien, dort steht Wobben Windpower, nach Aloys Wobben, dem Gründer.
Der Name Enercon ging nicht, weil es in São Paulo ein Ingenieurbüro gibt, das Enercom heißt, mit einem m statt einem n. „Die Firma hat keine 20 Mitarbeiter und wollte viel Geld von uns, damit wir uns dort Enercon nennen dürften, so wie überall auf der Welt“, sagt Knottnerus-Meyer. Zu teuer! Ein neuer Name musste her. Knottnerus-Meyer findet den Zweitnamen Wobben Windpower nicht gut, er verwässere die Marke. „Aber“, sagt er, dies sei „die einzige Lösung“ gewesen. Und ein kleines Problem verglichen mit dem in Indien.
Dessen Regierung fordert seit Jahren eine Marktöffnung für arbeitsintensive Dienstleistungen. Die EU blockt, Indien blockt zurück, öffnet seinen Markt nicht für Industrieprodukte aus Europa. Firmen müssen schon auf dem Subkontinent produzieren, was Enercons Riesenproblem wurde. Enercon ging früh nach In- dien, baute Werke mit einem Partner vor Ort, so wollte es damals das Gesetz. Der entzog „uns mit fadenscheinigsten Gründen die geschäftliche Kontrolle, stiehlt jetzt sogar unsere Patente“. Ein Patentgericht in Chennai unterstütze den Ex-Partner dabei. Die Richter waren „protektionistisch“, sagt der Jurist. Sie entzogen die Tochter „unserer Kontrolle – und zwölf Patente“. Joint Venture, Marke und Technik seien gekapert. Jetzt gibt es in Indien weiter die Firma Enercon. Mit Enercon aus Deutschland hat sie nichts zu tun.