Ganz oben, in Halbhöhenlage
Hilmar Pfister, Jahrgang 1974, Redakteur im Ressort Landespolitik der „Stuttgarter Nachrichten“, wohnt seit kurzem auf dem Killesberg. Er erzählt das im Restaurant des Landtages, erzählt es nebenbei.
Dabei deutet er mit einem kurzen Nicken des Kopfes über seine Schulter lässig nach oben rechts. Killesberg. Er nennt Straße und Hausnummer, wundert sich nicht, dass rasch der Stadtplan auf dem Tisch liegt. Nach ein paar Minuten weiß jeder, dass er nicht wirklich auf dem Killesberg wohnt, eher nahe am Rand. Immerhin fast Killesberg.
Pfister, ein Mann mit Wissen, was hier in Stuttgart zählt, bestätigt, dass oben wenig Fußgänger unterwegs sind, wenn, meist ältere. Wobei: „Ab und zu sieht man Mütter mit Kindern, es könnte sein, dass da jetzt ein Generationenwechsel ansteht“. Die hätten diese schicken Kinderwagen, die man in Stuttgart bisher nur auf dem Killesberg sieht. Also teuer.
Szenenwechsel nach ganz, ganz oben: Nach langem Warten öffnet sich das Tor. Da steht Vera Niefer und lächelt. Stuttgarts 60-jährige Charity-Queen trägt Jeans, hat pechschwarze Haare, große Augen - geradezu südländisch feurig. Sie ist die absolute Umkehrung des Klischees der bruddelnden Kehrwochenschwäbin. Obwohl, verheimlichen wir nichts, als wir den Termin telefonisch vereinbarten, hektisches, schnelles Multitasking passt zu ihr, sprach sie nebenbei noch in einen anderen Apparat und sagte: „Du, Silke, dann können wir ja noch beim Obi vorbeischauen.“ Baumarkt. Vera Niefer. Klasse.
Auf dem dunklen Edelholzboden ihrer Villa gleich neben dem Weißenhof- Tennisclub liegen überdimensionierte weiße Papierbögen mit japanischen Kaligrafien, „Skizzen“, sagt sie. „Ich male eigentlich mit Acryl.“ Auch an den Wänden hängen ihre Arbeiten. „Es geht nicht so um die Sprache, es geht mehr um die Philosophie.“ Sie ist beeindruckend, denn sie kann alles, sogar Hochdeutsch, wenn es sein muss. Jetzt kocht sie erst mal Kaffee.
Die Dame des Hauses ist die Witwe des Mercedes-Chefs Werner Niefer und berühmt für ihre hauseigenen, sauteuren Benefiz-Essen. Diese sind Zentrum der Stuttgarter Partyszene und als solche das perfekte Klischee.
Das Wort „Klischee“ ist absolut wichtig im Zusammenhang mit Killesberg, denn dieser Ortsteil Stuttgarts ist selbst Klischee - Schimpfwort manchmal oder aber ein sehnsuchtsvoll intonierter Stoßseufzer. Und Klischee, weil losgelöst von der Wirklichkeit. Denn seien wir mal ehrlich - so richtig schön ist es auf dem Killesberg nun wirklich nicht. Manchmal mag es hier die Anmutung eines in die Jahre gekommen schwäbischen Neubaugebietes geben, aber sonst? Auf den Straßen kaum Menschen, es fehlen Läden, Cafés und Lebensqualität. Nicht mal ein Supermarkt. Killesberg glänzt nur demjenigen, der seinen (unsichtbaren) Mythos erspürt. Das Image ist der Reiz: Killesberg ist Dauerkult.
Vera Niefer erzählt auf ihrer Couch, blickt dabei in den großen Garten, auf die Halbhöhenlage. Redakteur Hilmar Pfister hatte dieses Wort noch nicht benutzt, denn er wohnt erst seit kurzem nahe dem Killesberg. Vera Niefer aber lebt seit den frühen siebziger Jahren hier. Zum besseren Verstehen für Ortsfremde: „Halbhöhenlage“ ist ein wirklich wichtiges Wort in Stuttgart. Halbhöhenlage gleich Killesberg gleich reich. Noch was für Ortsfremde: Stuttgart liegt in einem Kessel, Halbhöhenlage gibt es also im Norden wie im Süden oder Westen oder Osten. Doch mit Halbhöhenlage ist immer Killesberg gemeint. Das war nicht immer so.
Wer hier was hat, verkauft natürlich nie
Der Killesberg ist als Wohngegend relativ neu. Diese entstand erst nach dem Zweiten Weltkrieg, zuvor gab es hier nur Steinbrüche, die Bauern aus Feuerbach brachen dort gelblich beigefarbigen Schilfsandstein und rötlichen Sandstein für Stuttgarts Prachtbauten. Die Akazienwälder mit den kleinen Tümpeln waren in den zwanziger Jahren Treffpunkte der Freikörperkultur-Anhänger und Endstation von Selbstmördern. In der Nazi-Zeit standen hier die Lager, in denen Württembergs Juden versammelt wurden für den Weitertransport nach Theresienstadt.
Das erste, was hier sichtbar für alle passierte, war die Reichsgartenschau 1939. Doch das stimmt nicht wirklich, denn 1797 war Goethe hier. Oder doch nicht? Er soll, so ist in Stuttgart überliefert, später gesagt haben, er habe „hier erlebt, was ich später in Rom gelebt habe.“ Schiller wanderte hindurch, die Inspiration für „Der Spaziergänger“ könnte am Killesberg gewonnen worden sein. Warum nicht? Hier gab es Bäume, Felder, Weinberge, das passt schon. Zum Killesberg gehört auch, mit Blick auf Stuttgart, die Weißenhofsiedlung, errichtet ab 1927. Der Bebauungsplan stammt von Mies van der Rohe, Le Corbusier entwarf das Doppelhaus Rathenaustraße 1 - 3. Die Häuser und die Tafeln davor bekommen nun ab und zu Besuch von Architekturtouristen, doch die wenigen Bildungsbürger wissen sich leise zu benehmen.
Es kam nach dem Krieg auch die Messe dazu, das hässliche Ding, das später die reichen Menschen in Halbhöhenlage zu einer dauerprozessierenden Klagegemeinschaft zusammenschweißte, die litten, wenn es am Wochenende zu Massenaufläufen von Fleischern, Bäckern, Friseurinnen aus ganz Deutschland kam. Die nahmen der Halbhöhenlage natürlich viel Charme und mussten ertragen werden von den Bewohnern. Zugegeben, die Stuttgarter Messe litt auch unter den Menschen der Halbhöhenlage, die sich gute Anwälte leisten konnten. Das hat seit 2007 ein Ende, die Messe ist in die Nähe des Flughafens gezogen.
Vera Niefer erzählt, dass sie heute mit ihren Enkeln in den Höhenpark gehe, „Tazzelwurm“ fahren. So heißt das kleine, schmalspurige Bähnle ein paar hundert Meter entfernt von hier. Was nicht einmal sie weiß, ist - kurzer Szenenwechsel! -, dass VfB-Stuttgart- Meistertrainer Armin Veh hier auch wohnt. Also der Veh sitzt mit einem Manager von Ehrmann-Joghurt in der „Linde“, im Restaurant von Jörg Mink. In Möhringen, Achtung! Möhringen ist nicht Killesberg, eher die andere Seite oben am Rand des Kessels. Mink ist Stuttgarts Sternekoch, der sie alle kennt. Er schweigt wie ein Grab, nennt keine Namen. Und Veh, Neu-Killesberger, nickt nur auf die Frage, ob es denn stimme, dass er hochgezogen sei. Oberste Geheimhaltungsstufe: in Halbhöhenlage!
Der Killesberg macht jeden Zugezogenen zu einem echten Stuttgarter. Alle Ärzte der Landeshauptstadt, die es zu einem Professor vor dem Doktortitel gebracht haben, sind schon da. Die Liste der Vorstandsmitglieder oder Vorstandsvorsitzenden ist lang, die Namen der Firmen bekannt.
Vera Niefer nennt die bekannten Stuttgarter Namen in ihrem Wohnzimmer, erwähnt Willi Weber, Zampano von Michael Schumacher. Taucht ab in die Vergangenheit, deutet in diese Richtung, in jene, dann wieder dahin, bei jedem Namen in eine andere. „Piech“, Klar. „Theodor Heuss.“ Ja. Sie nennt einen anderen Namen, wartet auf den fragenden Blick, sagt dann triumphierend „ein BASF-Gründer.“ Aha. „Dinkelacker.“ Logisch. Es fällt der Name eines Intendanten, es folgt noch einer und noch einer. „Mangolds.“ Daimler, Debis, deutsch-russisches Irgendwie. Die ersten Volkswagen- Käfer wurden 1936 in dem Haus der Familie Porsche zusammengebaut, nur ein paar Straßen weiter. Vera Niefer schweigt. Sagt dann plötzlich: „Frau Schrempp.“ Da meint sie die erste, wir sind wieder im Jetzt und Hier. Der Kaffee ist ausgetrunken, die Killesberg-Bewohnerliste noch lang. Das schönste Haus in Halbhöhenlage habe „der Commerzbank-Chef“. Vera Niefer hat Geschmack, das Bankiershaus in dunklen Steinen wirkt wie Stil pur und liegt noch ein paar Meter weiter oben. Sie fühle sich „sauwohl“ hier. Und wieder sagt sie „Halbhöhenlage“.
Die alten Hallen der Messe stehen noch, aber es herrscht endlich Ruhe. Und ein rasanter Preisanstieg. Früher schon war Wohnen am Killesberg teuer, teuerer als rational nachvollziehbar. „Wer hier was hatte, hat natürlich nie verkauft, nur vererbt“, sagt Vera Niefer. „Man kann jeden Preis verlangen, jeden.“ Aber man verkauft nicht, wenn man sich am Killesberg festgebissen hat. Wie Vera Niefer, die gleich zum Baumarkt fahren wird. Also wieder runter in den Alltags-Kessel, immer die lange Straße hinab und vorbei an dem Haus, in dem Hilmar Pfister jetzt wohnt. Es liegt recht weit oben, beinah schon in Halbhöhenlage.