Der Arbeiterführer

Reportage
zuerst erschienen im April 2004 in brand eins
Früher war Klaus Lang in der Leitung der IG Metall. Heute ist er Geschäftsführer eines Stahlwerks. Ein Richtungswechsel? Nicht unbedingt.

Sein ehemaliger Job: Leiter Grundsatz, Koordinierung und Politische Planung der Industriegewerkschaft Metall in der Zentrale in Frankfurt am Main. Er war Chefstratege des ehemaligen IG-Metall-Chefs Klaus Zwickel. „Warum lachen Sie?“, fragt Klaus Lang. Das klinge wie in der DDR. „Ja, ja, die Termini waren ähnlich.“ Er sitzt in einem Konferenzsaal neben seinem neuen Büro und erzählt, was er im Augenblick macht. Nachher wird er mit Betriebsräten verhandeln, morgen besucht er ein anderes Werk. Klingt alles ganz normal für einen Manager. Nur war Lang eben früher Gewerkschaftsfunktionär, ideologisch angehaucht. Vor einem guten halben Jahr hat er die Seite gewechselt. Jetzt ist er Geschäftsführer eines Stahlkonzerns. Dem geht es zwar branchenuntypisch gut, aber das Unternehmen hat Töchter, die Sanierungstarifverträge haben. Gleich als Lang hier ankam, ging es um „die Aussetzung der Auszahlung von Weihnachtsgeld“. Kein gutes Thema unter Kollegen.

Die Georgsmarienhütte am Rande von Osnabrück war, als sie noch zu Klöckner gehörte, ein riesiges Stahlwerk. Mehr als 7000 Menschen arbeiteten hier. Anfang der neunziger Jahre sah es so aus, als wäre der Laden am Ende. Dann kaufte der Manager Jürgen Großmann das Werk für zwei Mark - das Doppelte des von Klöckner verlangten Preises. Großmann schaffte das Undenkbare: Die Georgsmarienhütte (GMH) überlebte, funktioniert und ist heute mit 1200 Mitarbeitern ein saniertes, modernes Stahlwerk. Außerdem kamen nach und nach 40 Tochterfirmen hinzu, die Zentrale der Holding und die des Werks befinden sich in Haus 1, mitten auf dem Gelände. Klaus Lang ist Geschäftsführer Personal und Arbeitsdirektor. Sein Vorgänger war bis Ende Juli des vergangenen Jahres Hermann Cordes, auch ein Gewerkschafter. Cordes war früher Betriebsrat des Werks gewesen.

Lang klingt auch als Geschäftsführer wie ein Gewerkschafter: „Der Weg in die Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft schafft nicht genügend Arbeitsplätze.“ Oder: „Ich war überzeugt, dass die großen Probleme nur in Zusammenarbeit gelöst werden können. Das war in der IG Metall nicht unangefeindet.“ Und auch: „Ich rede mit Leuten.“ Ist das nicht ein Riesenbruch, von der Gewerkschaft in die Geschäftsführung? „Moment“ , sagt er, „das ist ein montanmitbestimmter Betrieb. Das heißt: Der Arbeitsdirektor kann nicht gegen den Willen der Mehrheit der Arbeitnehmerseite eingesetzt werden. Sie finden auch im öffentlichen Dienst viele Leute, die aus der Gewerkschaft kommen. Speziell an meiner Situation war, dass ich 24 Jahre an unterschiedlichen Brennpunkten, aber nie in der Wirtschaftsabteilung tätig war. Ich hatte nie mit Volkswirtschaft oder Betriebswirtschaft zu tun. Die Frage war also, wie ich mich als Apparatschik hier schlagen würde.“ Schließlich: „Es wäre doch schizophren, zu kritisieren, dass ich auf dem Posten bin.“ Einen Bruch sieht er nicht in seiner Biografie. „Ich sehe das als Rollenwechsel, der eine andere Sichtweise mit sich bringt. Die Aufgabe eines Arbeitsdirektors ist es, wirtschaftliche Erfordernisse mit Arbeitnehmerinteressen in Einklang zu bringen.“ Gut, er sehe heute schärfer, dass ein Betrieb, der nicht überlebt, keine Arbeitsplätze sichern kann. Und dass es heute schwieriger ist, so ein Unternehmen am Laufen zu halten.

„Ich komme hier mit meinen alten Einstellungen gut zurecht, ohne sie abzulegen.“ Zumal er in der Zeit von 1980 bis 2000 bei der IG Metall viele große Änderungsprozesse erlebt habe. Bei Lang ist ein ganz leichter, gemütlicher österreichischer Dialekt zu ahnen. Er floskelt nicht und redet nicht drum herum. Er lächelt oft, wenn er erzählt. Keinerlei Abwehrhaltung ist erkennbar. Seine glaubwürdig vermittelte Haltung ist Ehrlichkeit, Offenheit. Lang, früher ein Mann der harten Sorte, meint: So weit auseinander lägen die Positionen des IG-Metallers und die des Arbeitsdirektors nicht. Das sagt er mehrmals.

Im Interview wirkt er am stärksten engagiert, wenn er von den Mitarbeitern erzählt. Da redet er anders, wirkt gewerkschaftsstolz: „Kaum jemand ist sich dessen bewusst, aber es gibt hier viele Bildschirmarbeitsplätze. Jeder Kollege auf einem Steuerstand im Walzwerk hat einen Bildschirmarbeitsplatz. Auch die Steuerung der Elektroden - Bildschirmarbeitsplätze.“ Stahlindustrie, das sei schon noch archaische Arbeit, Maloche. Jedoch: Diese Jobs würden definitiv unterschätzt. „Es ist harte Arbeit bis heute, ganz unbestritten. Aber sie fordert gut ausgebildete Leute.“ Kranführer zum Beispiel: „Die haben einen Block oder ein Bündel von bis zu zehn Tonnen daran hängen. Das schwankt unwahrscheinlich. Da ist viel Fingerspitzengefühl nötig.“ Erfahrungswissen und Qualifikation seien entscheidend.

„82 Prozent der Leute sind Facharbeiter unter den gewerblichen Arbeitern. Die menschliche Arbeitskraft ist wichtig hier, es kommt mehr auf den einzelnen Menschen an als in den hoch automatisierten Produktionsprozessen der Automobilindustrie.“ Diesen Punkt will er ganz klar machen. Also weitere Beispiele: „Hier wird Stahl in einem Elektro-Ofen geschmolzen. Dafür wird Schrott eingeschmolzen. Und Schrott setzt sehr hohe Erfahrung voraus. Man kann sich nicht nur auf die Händler verlassen. Es darf zum Beispiel kein Kupfer drin sein.“ Auch wichtig: „Die Funkenprüfung beim gewalzten Stahl, der Stahl wird angeschliffen. Die Farbe der sprühenden Funken sagt etwas über den Kohlenstoffanteil.“ Und: „Die Stäbe sind mehr als 30 Meter lang, also werden sie krumm. Sie werden von Rollen gerade gepresst. Die werden von Hand gesteuert, das geht nur mit viel Erfahrung.“ Es gebe übrigens fast kein Auto in Deutschland, das keinen GMH-Stahl drin hat. „80 Prozent unserer Stahlproduktion geht in die Automobilindustrie.“ Lang ist wichtig: “ Modernisierung von Arbeit und Wirtschart findet nicht jenseits, sondern in den alten Industriebetrieben statt.“ Klingt das nicht sehr nach Gewerkschafter? Es gibt keinen Bruch.

Von der Kirche über den Staat zur Gewerkschaft Klaus Langs Leben: „Ich stamme aus der ehemaligen Tschechoslowakei und bin in Österreich aufgewachsen, kam 1964 nach Deutschland, studierte hier Politik, Theologie und Psychologie, habe dann in Wien in Theologie promoviert.“ Über welches Thema? „Das Alte Testament im evangelischen und katholischen Religionsunterricht vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart.“ Er lacht und erzählt. Das Alte Testament wurde oft aktuell genutzt, es gab Fassungen, in denen stand: Gott schuf die Erde und auch das Schwabenland.

1969 wurde Lang Vorsitzender des Dachverbands der Katholischen Studenten und Hochschulgemeinden und Verbände. Das war die Zeit des Aufbruchs. Der Veränderung. Der Erneuerung. Das war seins. “ Theologie der Befreiung“, sagt er. “ Dritte-Welt-Arbeit. Obdachlosenarbeit.“ Aber bald gab es Ärger. „Die Untersuchungskommission der Deutschen Bischofskonferenz hat uns das Recht abgesprochen, uns katholisch zu nennen. Ich war dann anderthalb Jahre arbeitslos. Zu Beginn habe ich das locker genommen, materielle Sicherheit war nicht entscheidend. Ich habe versucht, bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ein kirchliches Thema Fördermittel zu bekommen.“ Doch der Gutachter war strikt gegen ihn. „Im kirchlichen Umfeld hatte ich quasi Berufsverbot.“ Er wirkt stolz.

Lang fand einen Job in der Pressestelle des Bundesministeriums für Forschung und Technologie. “ Das war die Zeit der Anti-AKW-Bewegung.“ Eine Faustregel besagt, dass einer, der in den wilden Siebzigern für Obdachlose und die Dritte Welt gekämpft hat, auch gegen Atomkraft war. Aber nicht Lang. Er war zuständig für den „Bürgerdialog Kernenergie“. Den hat er „unter Einbeziehung der Antis“ gestartet. Er lächelt. „Gut, es war schon ein durchsetzungsorientierter Dialog der Bundesregierung.“ Schön gesagt. Ja, findet er auch. Er lächelt wieder. „Ich habe versucht, das fair und offen zu gestalten.“ Niemand sei über den Tisch gezogen worden, in den Broschüren des Ministeriums seien auch Atomkraftgegner zu Wort gekommen.

Ende 1979 wurde er stellvertretender Leiter der Pressestelle und aktiv in der ÖTV. Dann kam das Angebot der IG Metall. Er sagt, er habe nie einen Hammer in der Hand gehabt. In der Gewerkschaft „gab es Diskussionen“. Seine Berufung war „damals eine Revolution. Darf das einer, der von außen kommt? Darf das ein Theologe?“ Er durfte und wurde Leiter der Tarifabteilung. Nach einem Jahr waren alle Bedenken zerstreut. „Drei Themen haben die Zeit bestimmt. Die 35-Stunden-Woche in der Metall- und Elektroindustrie, die Tarifreform 2000 und die Übertragung des Tarifsystems auf die neuen Bundesländer.“ Wie er davon erzählt und vieles voraussetzt, was Gewerkschafter nun mal wissen, wirkt Lang wie ein Gewerkschaftsfunktionär. „Die größte deutsche Arbeitszeitverkürzung aller Zeiten verlief völlig unproblematisch. Die Verhandlungen fanden in Berlin im alten FDGB-Haus und in einem Lkw-Werk in Henningsdorf statt. Von 44,5 Stunden, der formellen Arbeitszeit in der DDR ging es auf 40 Stunden.“ Seit 1986 war er mit Zwickel für die Tarifpolitik zuständig. 1993 wechselte er nach Franz Steinkühlers Rücktritt mit Zwickel an die Spitze. Der Begriff „Bündnis für Arbeit“ stammt von ihm. „Zwickel sprach über eine gegenseitige Vereinbarung zwischen der Bundesregierung, den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden. Der hieß Solidarpakt oder Sozialpakt. Aber das Wort Pakt klingt schlecht. Wir haben tagelang diskutiert. Es ging um einen griffigen Terminus.“ Nachts um drei Uhr, als er allein an seinem Schreibtisch in der Gewerkschaftszentrale saß, fiel er ihm ein: Bündnis für Arbeit.

Die Regierung wechselte. „Es war ein zwiespältiges Verhältnis zur Bundesregierung.“ In der Gewerkschaft war eine Zukunftsdebatte entfacht. „Es ging um dringend notwendige Reformen der IG Metall im Programm und im Erscheinungsbild.“ Gut, gibt er zu, „die Gewerkschaft braucht ein gewisses Maß an Geschlossenheit. Aber auch eine Diskussionskultur.“ Als Zwickel ging, gehen musste, „sah ich das ganz pragmatisch. Für mich war klar, dass ich was anderes machen muss.“ Doch, so einfach war das.

Szenenwechsel. Hamburg, an der Alster, direkt neben dem Hotel Atlantic, im Büro von Dr. Jürgen Großmann. Ihm gehört Georgsmarienhütte, er leitet sie selbst. Er sagt: „Wir sind ein montanmitbestimmter Betrieb. Das bedeutet, die Gewerkschaft hat das Auswahlrecht für den Arbeitsdirektor.“ Der mehr als zwei Meter große Großmann legt provokant nach: „Wir haben uns Klaus Lang nicht ausgesucht.“ Er grinst. Und sagt: Lang ist sehr lebenserfahren, hochintelligent, hat eine super Auffassungsgabe. Er habe schnell gelernt und sei kein Prinzipienreiter. „Intelligenz ist durch nichts zu ersetzen.“ Lang habe sich pragmatisch in die Firma reingedacht. Alle sind zufrieden. Die Wellenlänge sei gleich. „Früher hat er theoretisch und ohne Eigenverantwortung gehandelt, jetzt arbeitet er in Eigenverantwortung. Seine Sicht ist ganz klar: Wenn das Schiff flott ist, geht es der Besatzung gut. Das hat er schnell verstanden.“ Die Unterschiede seien gar nicht so groß. Deshalb sei es gang und gäbe, dass Leute von der Gewerkschaft in die Industrie wechseln.

Er wählt Langs Nummer in Georgsmarienhütte. „Wir suchen gerade IG-Metall-Funktionäre, die Arbeitsdirektoren wurden. Moment, ich schalte auf Lautsprecher.“ Dann legen die beiden los. Unter anderen nennen sie: Ralph Labonte, früher Zweigbüro der IG Metall, heute Arbeitsdirektor ThyssenKrupp. Klaus-Peter Henning, vormals Zweigbüro, heute AD ThyssenKrupp Nirosta GmbH. Dieter Henning, vormals Zweigbüro, dann AD Henrichshütte, Thyssen AG, jetzt Rentner. Heinrich Grönhoff, vormals Zweigbüro, dann MAK, dann AD MHP Mannesmann Präzisrohr GmbH. Horst Neumann, Vorstand IG Metall in Frankfurt am Main, dann AD Rasselstein, dann ThyssenKrupp Elevator, jetzt Audi. „Gilt das bei der Gewerkschaft eigentlich als Karriere oder als Verrat?“, will Großmann von Lang wissen. Na ja, antwortet der lachend, „das ist zwiespältig. Oft wird mehr Geld und ein ruhigerer Job unterstellt.“ Wenn die wüssten!

Gesundheit, Ausbildung, Sicherheit: Langs Aufgaben sind gewerkschaftsnah Lang ist jetzt unter anderem zuständig für Ausbildung und Weiterbildung für alle, vom Geschäftsführer bis zum Werksarbeiter. Entlohnung. Arbeitszeitfragen. Arbeitssicherheit. Unfallverhütung. Gesundheitsvorsorge. Werksschutz. Werksfeuerwehr. Und das ist vermutlich nicht alles. Bei dem Gespräch in der Georgsmarienhütte kam sehr deutlich eine Art Stolz auf das Werk durch. Lang ist erst ein halbes Jahr hier, aber wenn er von dem supermodernen, 1993 gebauten Lichtbogenofen spricht, klingt es, als hätte er den selbst mitgebaut. Wenn er sagt, „wir sind der bedeutendste Hersteller von Langprodukten, Stäben und Halbzeug aus Qualitäts- und Edelstahl“, klingt er zufrieden.

Er erklärt, dass in den beiden vergangenen Jahren die Walzstraße modernisiert wurde. „In Georgsmarienhütte wurden in den vergangenen zehn Jahren insgesamt 150 Millionen Euro investiert.“ Inzwischen arbeiten für die 40 Betriebe der Holding rund 8900 Mitarbeitern. Lang steht auf, geht zu seinem Schreibtisch, holt eine Grafik und erklärt die einzelnen Firmen. Er mag, dass die Leute stolz auf ihre Firma sind, die „hohe Identifikation ist wichtig bei der Bewältigung der alltäglichen Probleme. Die heutige gute Situation lebt auch davon, dass der Großmann etwas riskiert hat. So selbstverständlich war es nicht, dass hier alles gelingt“. Großmann sei eine „originäre Persönlichkeit, die es geschafft hat, die Leute mitzureißen“. Und die Beschäftigung ist stabil geblieben.

Richtig stolz ist Lang auf die Ausbildungsquote: „Wir haben mit neun Prozent die höchste Ausbildungsquote in der Stahlindustrie und machen allen Auszubildenden Übernahmeangebote.“ Der Durchschnitt in der deutschen Stahlindustrie sei sechs Prozent. Bei der Georgsmarienhütte arbeiten zurzeit 108 Azubis. Die eigene Berufsbildungsgesellschaft bildet auch für andere Firmen aus und macht ab und zu Berufsbildungsmaßnahmen für das Arbeitsamt. Die Arbeitslosenzahl läge übrigens in Osnabrück bei zehn Prozent, eine gute Zahl für Norddeutschland. Er nennt das bayerisch-baden-württembergische Verhältnisse. Er klingt gleichzeitig wie ein Gewerkschafter und der Vorstand eines gesunden Unternehmens. Und bekräftigt: „Ich sehe da keinen Bruch.“