Der Herr Premierminister, fern der Heimat

Portrait
zuerst erschienen im Mai 2001 in brand eins
Johannes Seiger ist Premierminister von Sealand. Er lebt im Exil in Trebbin, das liegt im deutschen Reich, denn die Bundesrepublik gibt es nicht. Er zahlt keine Steuern. Und wer ihm widerspricht, bekommt ein Todesurteil. Wahnsinn? Vielleicht. Aber es funktioniert.

Johannes Seiger, ein Premierminister, allerdings einer im Exil, steht in der Tür einer ehemaligen Hühner-Farm in Trebbin, in Brandenburg, nahe Berlin. Neben sich an der Wand ein großes Schild, auf dem steht: Diplomatische Vertretung der Principality of Sealand. Er ist noch nicht bereit für das Interview, ist noch im glänzenden Jogging-Anzug. Beppo, der Golden Retriever, bettelt und tänzelt herum. Entschuldigung, wir sind ein bisschen zu früh. Robert Hülshorst, Seigers Butler, Faktotum, sein Justiziar, sagt: „Lieber zu früh als zu spät, sag ich da.“ Hülshorsts Sprachschatz besteht nur aus Schablonen, er sagt nie etwas Eigenes, nur auswendig gelernte Floskeln. Das Gelände, oh je, heruntergekommen, schuttplatzartig, ärmlich, eine eingezäunte Industriebrache: die Außenstelle des Fürstentums Sealand in Deutschland.

Seiger braucht nur ein paar Minuten, um sich passend anzuziehen: dunkle Krawatte, blaues Hemd, schwarze Hose. Beppo wedelt freudig umher. Der Hund trägt sicher ein bisschen zu dem dichten Geruch bei, der herrscht. Aber vor allem sind es die Hühner, die hier mal lebten und starben. Seiger, ein molliger grauhaariger Staatsmann mit festem Blick, schreitet zum Interview. Im Gang hängt ein großes Honecker-Porträt an der Wand. Der Kulturraum der Ex-LPG ist groß, aber flach, fünf deckenhohe Arbeiterklasse-Ölbilder an der Wand. Die sind natürlich viel wert, alle wollen die, sagt Seiger, eine dicke Zigarre in der Hand, dabei etwas zu stark betonend, dass er eine dicke Zigarre in der Hand hat. Ein riesiger lackierter Schreibtisch, Lackmöbel, Musik aus dem Radio, ein Schwert unter Glas, das ihm seine Freunde, die Russen gaben. Eine alte Druckerpresse. Ein riesiger Tresor. Und Hülshorst auf einem Plastikstuhl, mit Seehundblick, leicht vor sich hin wackelnd. Er sagt ab und zu: „Das ist eine gute Frage.“ Zwei wie Pech und, ähm, noch mehr Pech: Johannes Seiger, Flottmann, und Robert Hülshorst, Faktotum.

Hülshorst, schwarze Haare, schwarzer Schnauzer, dunkle Weste über einem weißen Hemd, war früher Anwalt. Die Anwaltskammer teilt mit, Hülshorst dürfe nicht mehr praktizieren, weil er seine Gebühren nicht bezahlt hat. 724 Mark im Jahr, das habe er nicht aufbringen können. Was ist das für ein Anwalt, der 724 Mark pro Jahr nicht zusammenbekommt? ,Ja, seltsam, seltsam“, sagt der Mann von der Kammer. Außerdem habe Hülshorst Steuerschulden gehabt. Man habe es ein paar Jahre versucht, „Ratenzahlung und alles“, jetzt sei er eben kein Anwalt mehr. Hülshorst ist aber noch Justiziar des Fürstentums Sealand. Und also Anwalt, zumindest laut Sealändischem Recht. Er schenkt Kaffee ein, hat ihn schon vorbereitet, in die Thermoskanne gefüllt, eine Packung Haribo Mix in eine Schale geschüttet, eine Tafel Ritter Sport Trauben-Nuss in Kleinteile zerbrochen. Er sitzt stundenlang daneben, die Arme immer verschränkt, wackelt hin und her, nickt devot zu allem. Sein Gesicht wirkt angestrengt verspannt, seine Augen flackern hektisch. Eine Mischung aus Autismus und Unglück.

Ganz anders tritt der Boss auf, großkotzig, selbstbewusst, ein richtiger Flottmann. Gleich zu Beginn der großzügigst gewährten Audienz wird klar: Alles, was er sagt, ist Fakt. Was andere sagen, nicht. Dazu muss man wissen: Seiger hat sich mit allen angelegt, mit denen er sich anlegen konnte. Auch beim Gespräch ist er leicht cholerisch, wird laut bei Fragen, die ihm nicht passen. Vorab zwei Sätze von Thomas Berger, Bürgermeister von Trebbin, 7000 Einwohner, über Johannes Seiger: „Er ist intelligent.“ Und: „Der ist nicht verrückt, der macht das, um sich durch die Lücken der Behörden zu schlängeln.“ Vielleicht hat er Recht. Mit was der Mann alles durchkam! Immer nach dem Motto: Für mich gelten eure Regeln nicht, ich mache, was ich will. Und wer mich daran hindert, bekommt ein Todesurteil mit der Post.

Seiger freut sich über die Frage, ob ihn schon mal ein Psychiater untersucht habe. Da strahlt er und sagt: „Gut, dass Sie fragen, ich hätte Sie sonst nicht ernst nehmen können.“ Und Hülshorst echot: „Gute Frage, sehr gute Frage.“ Seiger hatte mal eine Ladung zum psychologischen Gutachter, vom Gericht in Potsdam. Er hat das ignoriert. Die Frage nach seiner Psyche liegt nahe, nach Verfolgungswahn („Meine Benzinleitung im Auto war angesägt, wenn Sie vom Geheimdienst so in die Mangel genommen werden wie ich, da gehört das dazu“), Besessenheit, Größenwahn, eine eigene Wahrnehmung der Realität. Einmal ließ er an die Bürgermeister von Berlin und Frankfurt am Main schreiben - das ist jetzt grob zusammengefasst - sie sollten die Städte sicherheitshalber räumen lassen, er sei verärgert. Der Brief war so verfasst, dass die Behörden dachten, er habe alte russische Atomwaffen, „der Verdacht des Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz (Besitz von Atom- und chemischen Waffen)“ lag nahe.

Also kam eine Hundertschaft nach Trebbin. Aber: Die Polizisten fanden nichts, nicht mal die Schreibmaschine, auf der die Todesurteile und Enteignungen geschrieben werden. Seiger, der die Bundesrepublik nicht anerkennt, klagte natürlich. Er klagt gegen jeden ihrer Vertreter, mit dem er zu tun hat. „Ich fahre ‚ne gute, ordentliche, seriöse Schiene, aber ich gehe über Leichen für dieses Land. Verarschen lasse ich mich nicht.“ Mit „dieses Land“ meint er Sealand, das Land, in dem er noch nie war.

Seiger, 60, geboren in Geseke, lebte in Rheda-Wiedenbrück, Nordrhein-Westfalen und, so sagt er, war mal reich. Sein Vater hatte Autos ausgeschlachtet, er Kaufmann gelernt, sich 1967 selbstständig gemacht. Zuerst erfolgreich, da ist er stolz drauf. „Die Seiger-Gruppe, 140, 150 Mann, Bauelemente, Chemie, Immobilien, allein 1,3 Millionen Mieteinnahmen im Jahr, gute Mieter, Aldi, Iveco, Bertelsmann. Ich lebte auf einem Grundstück, das war 45 000 Quadratmeter groß, ein Traumhaus, reetgedeckt, 18 Zimmer.“ Man muss sich das so vorstellen: Sonst hört ihm nur Hülshorst zu, deshalb fehlt Seiger das Gespür, was man ihm abnimmt und was übertrieben ist. Also war er Superchef der Superseigergruppe. Aber: „Ich habe 20 Millionen verloren, als der Dollar so fiel. Wir haben Öl gefahren für den Irak und den Iran, wurden mit Dollars bezahlt, da haben wir anfangs gutes Geld gemacht, der Dollar stieg auf über drei Mark, wir hatten den Vertrag bei 2,50 gemacht. Dann fiel der Dollar auf sein Supertief, eine Mark und ein bisschen was, und wir waren Pleite. Alles weg, alles weg.“ Ein großer Verlust, denn „die Firma hat jedes Jahr Bilanzen um die 1,5 bis 1,7 Millionen gehabt“.

Beim Amtsgericht Rheda-Wiedenbrück schreit ein Richter auf: „Oh Gott, der Seiger, gibt es den noch? Ja, der ist bekannt hier. Aber personenbezogene Daten können wir da keine rausgeben aus den Akten, Datenschutz. Mein Güte, der Seiger. Oh Gott, oh Gott.“ Friedhelm Seiger, der jüngere Bruder, heute Lkw-Verleiher in der Nähe von Lippstadt, fragt am Autotelefon: „So, Sie wollen mit mir über meinen Bruder sprechen. Wollen Sie da von mir etwa was Gutes über ihn hören?“ Er entscheidet sich, nichts zu sagen. Johannes Seiger sagt, das Haus sei seiner Frau geblieben, ein Werk seinem Bruder. Ihm sei sein Stil geblieben. Er sagt auch: „Sie reden mit Leuten, die wissen, wovon sie reden.“ Da nur noch Hülshorst im Raum sitzt, ist klar: Damit meint er sich.

Die Wurzeln des Wahns: Geburt und Geschichte des Fürstentums Sealand und seines Ablegers in Trebbin

Zum besseren Verständnis der folgenden Begebenheiten eine kurze historische Abschweifung: 1943 errichtete Großbritannien in der breiten Themsemündung Roughs Tower, eine künstliche Insel als Abwehr-Station gegen Luftangriffe. Zwei hohle siebenstöckige Betonpfeiler mit knapp 13 000 begehbaren Quadratmetern, darauf eine Metallplatte, 13 mal 47 Meter, kleiner als ein Fußballfeld, die bei Ebbe 21 Meter aus dem Meer ragt. Roughs Tower war einer von sechs Türmen. Nach dem Krieg wurden die anderen fünf geschleift, Roughs Tower nicht. Keiner weiß warum. Arn Weihnachtsabend 1966 besetzte der Engländer Roy Bates die rostig-löchrige Metallplatte und proklamierte im September dort das Fürstentum Sealand. Seinen Sohn Michael machte er zum Prinzen, seine Frau, eine ehemalige Miss England, zur Fürstin. Und sich selbst zu Prince of Sealand, einem Herrscher über ein Stück, na, Land. Inzwischen ist völkerrechtlich geklärt: Künstliche Inseln sind kein Staat, damals aber galt die Regel noch nicht. Ob Sealand ein Staat ist? Schwer zu sagen. Eher nein. Aber es gibt Gutachter, die das Gegenteil behaupten.

Bates war Kriegsveteran, Offizier, ein exzentrischer Engländer, natürlich mit Schnauzbart. Die britische Regierung und andere offizielle Stellen ignorierten ihn so gut es ging. Er sammelte ein paar Leute um sich, hielt Jahre durch und versuchte, Geld zu verdienen: Piratenradiosender - lief nicht. Steuerparadies mit Briefkastenfirmen - niemand hatte Interesse. Offshore-Spielcasino - zu teure Anlaufkosten. Verpachten an eine amerikanische Sekte - nur Verhandlungen. Verkauf von Briefmarken - ein paar Mark. Sealand-Pässe - würde Sealand als seriöser Staat nie tun. Allerdings verkauften vor zwei Jahren in Spanien lebende Sealander 160 000 Pässe à 5000 Dollar an Chinesen, als die Volksrepublik Hongkong übernahm. Bates sagt: Da habe er nichts mit zu tun, gar nichts. Jetzt sieht es so aus, als sei der Fürst der Plattform am Ziel: Computer-Kalifornier haben Sealand gepachtet. Sie wollen eine Festung voller Server aufbauen, auf der Daten sicher vor Polizei und Steuerfahndung sind. Während überall das Internet reguliert wird, gäbe es hier das absolute Bankgeheimnis und die Freiheit, alles zu versenden, was man will, unkontrolliert.

Das ist also Sealand. 1978 war dort Putsch. Alexander Achenbach, ein Deutscher, versuchte die Macht an sich zu reißen. Doch wenige Tage nach dem Putsch ließen sich Roy und Michael, die Prinzen, von einem Hubschrauber abseilen, überwältigten Achenbach und kerkerten ihn ein. Wochenlang versuchten deutsche Diplomaten, ihn freizubekommen. Irgendwann klappte es, er kam nach Nordrhein-Westfalen und später, wegen irgendwas anderem, ins Gefängnis. Aber vorher traf er Johannes Seiger.

Wie gesagt, die Seiger-Gruppe war niedergegangen. „Ich wollte damals 3,5 Millionen Dollar flüssig machen.“ Was heißt das, hatten Sie das Geld, warum sind Sie damit nicht zur Bank? Er ignoriert die Frage. „Ich hatte anonnciert, suchte einen internationalen Anwalt. Hab so die Jungs von Sealand kennen gelernt, Achenbach und die anderen.“ Seiger wurde ruck, zuck Wirtschaftsminister, ging nach Togo und Ghana, um dort Geschälte zu machen. „Ich habe Material aus den Resten meiner KG verkauft und das Geld an Sealand geschickt.“ An Achenbach im Exil, der saß da noch nicht im Knast. Aus der Transaktion könnte man schließen: Seiger selbst durfte kein Geld haben, sonst hätten es seine Gläubiger geholt. Er habe 80 000 Mark geschickt, seine Familie, Frau und drei Kinder, sollten einen Teil davon bekommen, war so abgemacht. Sie hätten aber nichts von dem Geld gesehen. Als Seiger aus Afrika zurückkam, habe er von Achenbach die Staatsgeschäfte übernommen, denn der saß mittlerweile im Knast.

Seigers Frau zog damals, nach 20 Jahren Ehe, mit den Kindern aus. „War einfach zu viel für sie.“ Sie sagt: „Ich sage gar nichts, nur einen Rat, passen Sie auf, wenn Sie mit dem Mann zu tun haben.“ Ist er verrückt? Sie legt auf. Seiger konzentrierte sich auf Sealand, er betrieb die staatseigene Firma Sealand Trade Corporation, die in der Bundesrepublik natürlich keine Steuern zahlen müsse. Die Bundesrepublik will aber welche. Dieser Staat ist ein Problem. Hat schon mehrmals „den Tatbestand der Kriegserklärung“ erfüllt, gegen Sealand und den Ableger in Trebbin.

Der Ableger entstand so: Die Wende, die Mauer bricht, eine 18-Jährige kommt aus Zwickau nach Lippstadt, Seiger hat ein Foto der Hübschen auf dem Regal stehen. Er, 30 Jahre älter, wird ihr Freund. Über ihren Vater sei er ins Recycling-Geschäft gekommen. Ganz groß, Sealand Trade schloss einen Vertrag mit der Sowjet-Armee in Deutschland. Verwertung und Verschrottung aller nicht von der Roten Armee heimgerührten Güter. Die junge Frau wurde für einige Zeit Geschäftsführerin der jetzt illiquiden Firma, also verantwortlich und haftbar. Offiziell auch beteiligt. Sie, inzwischen von Seiger getrennt, hat eidesstattlich versichert, sie wusste nicht, um was es ging, sie sei ein Werkzeug des Herrn Seiger gewesen. Ihre Anteile wurden auf den Sohn Seigers aus erster Ehe übertragen. Der ist Friseur und will mit der Sache nichts zu tun haben. Am Telefon sagt er kein Wort dazu.

Dafür redet Vater Seiger immer weiter. Also: Seiger kauft 1991 für 100 000 Mark die Gebäude eines ehemaligen Volkseigenen Betriebs, Hallen einer Hühnerlegebatterie. Dort landen 50000 Gasmasken, 50 000 ABC-Schutzanzüge, riesige Container mit Armeestiefeln, Größe 36 bis 38, massenhaft leere Munitionskisten, ein rostiger Panzer, viele Gummireifen, Zollgröße 19, die nur auf bestimmte Radpanzer der Roten Armee passen, sonst nirgends. Außerdem kauft er von den Russen Diesel. „Wir“ - Pluralis Majestatis - „ließen 400 Tonnen Diesel abfahren.“ Er wurde reingelegt. „Diesel schwimmt oben, unten ist Wasser, wir haben nur die Höhe gemessen.“ Also prozessierte er gegen die Sowjets und ihre Nachfolger. Bis jetzt erfolglos. Doch irgendwie macht er Geld. Das Finanzamt geht davon aus, dass der Umsatz 1991 401000 Mark betrug, 1992 1,3 Millionen Mark, 1993 1,2 Millionen, 1994 immerhin noch 699 000 Mark. Deshalb will man Steuern von ihm.

Seiger kaufte, als die Besitzverhältnisse des Grundes noch nicht geklärt waren. Jetzt sind sie es, Seigers Gebäude stehen auf Boden, der der Stadt Trebbin und vier Privatleuten gehört. Keiner bekam bisher Pacht von ihm. Er sagt, er wurde reingelegt, war ja alles windig mit den Grundstücken damals. Sie hätten ihn über den Tisch gezogen. Sie prozessieren gegen ihn, er gegen sie. Die Prozesse, in denen es um viel Geld geht und die er verlieren könnte, belasten den Wert der Firma. Das Insolvenzverfahren läuft seit fast zwei Jahren, aber es ist nicht mehr viel da zum Verwerten. Er hat an dem Tag, an dem es eröffnet wurde, die Gebäude verkauft, ganz billig. An sich selbst. Das war eventuell legal. Er war Geschäftsführer der Firma, Käufer war er als Privatmann. So was geht in Deutschland. Mit dem Vertrag ist er noch am gleichen Tag zur Kreissparkasse und hat ihn als Sicherheit für einen Kredit in Höhe von 120 000 Mark hinterlegt. Clever. Gut geblufft. Bei der Kreissparkasse heißt es: „Tut mir Leid, aber unser Vorstand ist nicht bereit, dazu eine Auskunft zu geben.“ Die 120 000 reichen nicht. Das Finanzamt will 1,4 Millionen von ihm. Die Sozialversicherungen wollen Geld, er hat für Angestellte nichts abgeführt. Die Grundbesitzer wollen ihre Pacht. Und sie wollen ihn los haben, sie sind in Aufregung. Doch für Seiger gelten die Regeln nicht. Er schrieb Briefe an Kohl, den er den Dicken nennt, an Schröder, den er Schröder nennt. Und Briefe an den Außenminister, denn Sealand ist ein Staat, also ist der Außenminister zuständig. Von irgendwelchen unteren Behörden bekam er eine Antwort an die Adresse: Diplomatische Vertretung des Fürstentums Sealand im Deutschen Reich, Ministerpräsident Johannes F. W. Seiger in Trebbin. Und damit, sagt er, sei belegt: Die Bundesrepublik erkenne ihn an. Wobei er die Bundesrepublik nicht anerkennt. Obwohl er vor ihre Gerichte zieht. Aber trotzdem: Die Bundesrepublik kann ihm gar nichts.

Persönliche Freiheit, konsequent durchgezogen: wie einer macht, was er will, und die anderen zittern

Entsprechend benimmt er sich. Über den Hallen des VEB steht ein 20 Meter hoher Kamin. Gerade noch. Krumm, voller Risse, zur Seite geneigt, gefährlich. Die Behörden kamen, weil die Kaminsteine auf das Nachbargrundstück fallen könnten. Er hat sie rausgeschmissen. Todesurteile und Enteignungen hinterher. Am Schluss der Briefe lesen die Verurteilten: „Sofern Sie sich nicht von den Ihnen vorgeworfenen Straftaten entlasten, wollen Sie sich nach der zu erfolgenden Proklamation von Groß-Berlin umgehend beim nächsten (Militär-)Polizeiposten der durch die UN eingesetzten Polizeibehörde unter Vorlage dieses Schreibens einfinden, damit Ihr Abtransport in ein geeignetes Kriegsverbrecher- und Hochverrätergefängnis vorgenommen werden kann.“ Der Bürgermeister von Trebbin in einem kleinen Raum einer kleinen Sporthalle, während der Bundesjugendspiele. Eltern verkaufen selbst gebackenen Kuchen. Der Bürgermeister an einem Klapptisch. Seine Frau hat Kummer in den Augen, sie hält ihm die Hand. Er ist völlig entnervt, er sagt, Seiger habe im Hühnerkrematorium alles Mögliche verbrannt. „Sondermüll“, an Auflagen habe er sich nicht gehalten und so Geld gemacht. „Nachts roch es nach Plastik im Ort.“ Seiger behauptet, er habe die Gewächshäuser eines abgewickelten Volkseigenen Betriebs gekauft, um die zu verwerten. Da gebe es keinen Kaufvertrag, sagt der Bürgermeister, der aus dem Boden, auf dem die Gewächshäuser standen, Gewerbegebiet gemacht hat. Irgendwann gingen die löchrigen Gewächshäuser zu Bruch, nun will Seiger 800 000 Mark Entschädigung. „Für Schrott, und er hat keinen Kaufvertrag“, tobt der Bürgermeister. Einiges Glas hat Seiger in den Hühnerbatterien gelagert. Das Glas sei sicher mit Pestiziden voll, weil in den Gewächshäusern der DDR natürlich fröhlich gespritzt wurde, „eine Umweltbelastung, illegal“.

Der Bürgermeister erklärt, warum Panik bei den Grundbesitzern und der Gemeinde herrscht: „Laut Ordnungsbehördenrecht sind die Zustandsstörer, also die Besitzer, wir, haftbar, wenn der Handlungsstörer, also Herr Seiger, nicht mehr greifbar ist oder kein Geld hat. Wenn der Boden verseucht ist, bleibt das an uns hängen.“ Er habe Angst vor den Entsorgungskosten. Da stünden Paletten voller Farbkanister rum, er habe sie gesehen bei der Begehung. Inzwischen geht er nicht mehr hin, der Bürgermeister, weil das eine Klage wegen Hausfriedensbruchs bringen würde. Die Gebäude seien im Insolvenzverfahren nicht loszubekommen. Interessenten würden natürlich ein Schadstoffgutachten wollen. Was, wenn der Boden richtig versaut ist?

Bürgermeister Berger, verzweifelt und empört, legt noch ein paar Schippen Kohle drauf: Im Übrigen sei Seiger hier lange nicht gemeldet gewesen, seine offizielle Adresse war in den Niederlanden. „In einer Straße, die nach einem alkoholischen Getränk benannt ist.“ Das sagt Bürgermeister Berger nicht, das stöhnt er. Offiziell war Seiger in der Curacau Straat in Den Haag gemeldet. Darauf angesprochen, rotiert Seiger und faxt nachts um 2.10 Uhr, von Freitag auf Samstag, eine „presserechtliche Abmahnung“. Am nächsten Tag die Kopie seines Personalausweises, abgestempelt in Trebbin. Eine Stunde später faxt Hülshorst seinen hinterher, obwohl der Bürgermeister über ihn gar nichts gesagt hat. Seiger tobt am Telefon, der Bürgermeister werde wegen Falschaussage verklagt. Hülshorst kann nicht toben, ist nicht der Typ dafür.

Der Bürgermeister sagt: „Er lebte hier, war aber in Holland gemeldet. Verstoß gegen das Melderecht.“ Pause, um Luft zu holen. „Es kann doch nicht sein, dass der Staat zurückschreckt, nur weil man sagt, der hat ‚ne Macke. Das geht nicht, das könnte ein Beispiel geben. Wir beglaubigen nichts mehr von ihm im Rathaus, er kommt standig mit irgendwelchen Dokumenten, auf denen er Stempel haben will. Wir ziehen das durch.“ Die Drohbriefe, Todesstrafen, Enteignungen sind juristisch folgenlos, die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass man das nicht ernst nehmen muss. Ein Staatsanwalt in Braunschweig: „Die Verfahren sind bei uns alle eingestellt, das war ja lächerlich. Purer Wahnsinn.“ Jetzt kommt ein Satz, der Hülshorst aufgeregt hat. Er ist vor Gericht gegangen, um eine einstweilige Verfügung durchzusetzen, der Satz dürfe nicht gedruckt werden. Den Bürgermeister hat er auch verklagt, weil der ihn gesagt hat. Der Satz muss nun, das ist ein vor Gericht ausgehandelter Kompromiss, in einer neuen Fassung erscheinen. Der Satz kommt gleich, zuerst der Hintergrund: Hülshorst möchte auf keinen Fall, dass seine Eltern sich Sorgen machen, sie sollen nicht das Gefühl bekommen, der Sohn habe es nicht geschafft. Am Telefon sagte jemand, der ihn kennt: „Die Eltern von Hülshorst haben beide promoviert. Er ist so was wie der Versager der Familie, deshalb will er bei Mami und Papi gut dastehen.“ Hülshorst ist vor Gericht gezogen, als er hörte, was der Bürgermeister von Trebbin über die Räumung der ehemaligen Hühnerfabrik gesagt hat. Die findet nicht statt, weil die Gemeinde dann für die beiden zuständig wäre, sie unterbringen müsste. Jetzt der Satz: Seiger und Hülshorst kann man nicht räumen, denn sie wären dann wohnsitzlos, und die Stadt Trebbin müsste sie unterbringen, sagt Bürgermeister Berger. Hülshorst hat Unterlassungserklärungen gemailt, mit der Post per Einschreiben geschickt und gefaxt, alles mehrfach, am Telefon wollte er nicht darüber sprechen. Er wollte vor Gericht, „aus Sicherheitsgründen“ .

Nazis in der Antarktis, Ufos, Reichsdeutsche - die Fassade bröckelt. Seiger erregt sich, Hülshorst nickt

Zurück in den ehemaligen VEB: Je länger das Gespräch dauert, desto stärker bröselt das Bild vom Business-Mann, das Johannes Seiger aufbauen wollte. Er lässt ein Video laufen, das belegt: Als Nazi-Deutschland kapitulierte, war die Elite des Dritten Reiches schon weg, in U-Booten in die Antarktis gezogen, dort lebt sie unterirdisch. Außerdem hätten die Reichsdeutschen Flugscheiben entwickelt. Und das Ozonloch gibt es, weil die Amis sechs Atomraketen am Südpol hochgehen ließen. Seiger: „Wenn jemand Ufos sieht, sind das reichsdeutsche Flugscheiben.“ Herr Seiger, sind Sie Nazi? „Unsinn, Hitler war ein Verbrecher, aber es gab eine Elite in Deutschland, die weiter war als alle anderen.“ Das glaubt Ihnen keiner! „Das sind Fakten, die Reichsdeutschen waren hier, die saßen da, wo Sie jetzt sitzen.“ Haben sie Kaffee getrunken? “ Ja.“ Haribo, Ritter Sport? „Warum sollte ich Ihnen Details geben? Sie saßen hier und sagten, sie passen auf mich auf.“ Aha. „Klar, die Staatsanwaltschaft, die lässt mich jetzt auch in Ruhe. Meinen Sie, einfach so? Nein, da stecken die Reichsdeutschen dahinter.“ Warum kommen die nicht und nehmen Sie mit? „Die sagten mir, ich habe einen Fleck auf meiner weißen Weste. Da hab ich natürlich gefragt: Was ist los? Nichts, sagten die, aber es sei nicht klar, ob ich das alles verkraften könnte, was da auf mich einstürmen würde.“ Hülshorst nickt. Mal angenommen, Seiger ist nicht verrückt. Wenn er sich das klaren Kopfes ausgedacht hat, nur um sich an deutschen Behörden und Ämtern vorbeizuschummeln? Was ist er dann, der Ministerpräsident von Sealand im Exil, der, verdammt noch mal, keine Steuern zahlen will?

Wichtig ist Seiger noch Folgendes: Er war 1976 bei den Nordischen Schießtagen in Duhne, Westfalen, Zweiter in der Disziplin Skeet 200 Tauben-C und hatte sich so für die Europameisterschaft qualifiziert. Und bei der Landesmeisterschaft Westfalen Trap wurde er Dritter im Schießstand. Belegt er mit kopierten Urkunden und Zeitungsartikeln. Sehen nicht nach Fälschungen aus. Und wichtig könnte noch sein, dass Seiger nicht mit Johannes Seiger, sondern mit Johannes W. F. Seiger unterschreibt. Das klingt edler und passt zu ihm, wie er da in seinem Ledersessel die Zigarre schwenkt und mit viel Autorität laut wird.