2017

Der Hurensohn

Das Überreichen der Jahresgabe an die Mume geriet dann doch zum heimlichen Höhepunkt des Jahres, da sie selbst uns aufgetan hatte. Eine ihrer zahlreichen Töchter war zwar anwesend im Flur, doch kaum hatte ich meine Hand, die lege artis, eine mit dem Neujahrshunde (Snoopy) bedruckte Gucke präsentiert, in die Türöffnung hineingeschoben, erschien dort mit erhobenen Handflächen die Mume selbst, um uns zu begrüßen und um zu danken auch für die zahlreichen Tüten, die sie in unserem Namen seit Heiligabend überreicht bekommen hatte. Nun, da ich sie zum ersten Male vor mir stehen hatte, erkannte ich, wie klein sie war. Friederike war ihr immerhin schon einmal auf der Straße begegnet, als sie jubilierend eine Birnenkonserve herumgeschwenkt hatte. Beim Spinachi-Verkauf auf dem schönen Straßenfeste jedoch, als ich der Mume zum ersten Male in persona gegenüber stand, hatte sie vor mir auf dem Trottoir gehockt, um ihre selbstgebackenen Spinatschnecken feilzubieten.

Die Tochter beschäftigte sich mit einem Lampenschirm aus weißem Blech, der wie ein Strahlenkranz geformt war und einen kultischen Eindruck bei mir hinterlassen sollte. Indes erzählte uns die Mume einige Schwänke aus ihrem gewisslich bewegten Leben. Wir verstanden kein Wort, da sie ausschließlich die bulgarische Sprache verwendete. Wir kündigten unsere große Expedition in die Rhodopen an, was bei Mume wie Tochter zu aufblitzenden Blicken führte. Zum Abschied zeigte die Mume mehrfach auf sich selbst und empfahl sich uns als баба. Rührend. Wir nahmen an, sie hatte uns adoptiert.

Zuckschwerdtstraße (Unter der Mondsichel)

Dann trotzdem, ich war unterwegs gewesen den beinahe halben Tag: Nirgendwo gab es die Brennpaste, die ich brauchte. Überall hieß es: Ausverkauft.

Schließlich war ich so erschöpft; ich musste einkehren, natürlich im Jadewok (wobei dort über der Türe bloß Jade steht). Und, manchmal hat man das ja, also: ich, ganz selten, aber dennoch bestellte ich etwas anderes als sonst immer; und immer ganz selten, aber dann immer dann spüre ich schon beim Bestellen, dass es mich nicht zufriedenstellen wird, tue es dann aber trotzdem. Und die Unbefriedigheit beim Verspeisen des im Grunde ungewollten Gerichtes aber, die hält an. Wenn es uns gelingt, aus dem Panzer unserer Routine zu brechen, ist die Erfahrung dort wohl derart, dass wir uns umso mehr in diesen Panzer zurückziehen wollen (Tintenfisch mit verschiedenen Gemüse in schwarzer Pfeffersauce).

Und überhaupt: Wer ist Magnus Klaue!

Auf dem Heimweg: Ganz schnell füllte sich die Bahn mit schwarzen Menschen. Das gibt es in Berlin nicht: Schwarze {Anmerkung der Redaktion: Mal ganz abgesehen von Kreuzberg, Moabit oder dem Wedding, zum Beispiel}. Man sieht sie dort allenfalls als Spülende oder Wegräumende in den Restaurants. Als ich Ijoma darauf ansprach – gerade so, als ob er dazu etwas wissen müsste, als Hase unter Hasen – wurde er ganz wütend; was ich denn wollte, sagen wollte; fragen wollte; wissen?

Zuckschwerdtstraße: mein Heimatgefühl. Doppelpunkt, der Sportwagen hat ein Kennzeichen, es lautet F-CA 880. Daheim hörte ich das letzte Interview mit Leonard Cohen, das vom New Yorker veröffentlicht ward. Der Reporter gibt zu Protokoll, dass der Meister da 55 Kilogramm schwer war. Bloß. Ich habe lange hin und her überlegt, ob ich ein Komma setze, oder einen Punkt. Um dieser Information mehr oder etwas weniger an Gewicht zu verleihen. Herr Cohen hat teilweise drei Flaschen Rotwein getrunken, um sein Lampenfieber überwinden zu können. Château Lafite, wie der Sprecher meint, erwähnen zu müssen.

Überflüssigerweise.

Alkohol bleibt Alkohol. Label egal.

Stage fright. Ich kann das alles verstehen.

Es gibt diesen Film von Johnny Depp, Stuff, und es gibt einen damit verbundenen Dokumentarfilm des holländischen Fernsehens, da schaut man John Frusciante dabei zu, wie er zu erklären versucht, wie er sich arbeitsfähig halten muss. Das ist teilweise schwer auszuhalten. Und manchmal, wenn er sich wohlig zusammenkrampfend am Fussboden liegt, währenddessen eine seiner neuen Kompositionen abgespielt wird, ertrage ich es nicht.

Autotune mit Dir, My Dear

Vom Wirt der Terminus Klause mit Handschlag verabschiedet worden. Insgesamt und damit beschlossen war es ein sehr gutes Jahr. Wobei dieser uns alle versöhnenden Geste ein (völlig zu Recht) komplexes Ritual vorangegangen war, dergestalt, dass gleich, als wir zur vorgerückten Stunde die Klause betreten hatten, ich dort am Tresen den Wirt selbst hatte sitzend gesehen, wie er in eine deftig aufgebratene Rote Wurst hineinschnitt. Zum uns an den uns zugedachten Platze führenden Kellner gab ich in transit die Bestellung auf: »Mir bitte auch solch eine Wurst«. Doch er tat, womöglich war es aber wirklich so, als verstünde er nicht, was ich von ihm begehrte. Uns setzend, malten wir ihm die Bestellung mit Gesten aus: Wurst (dabei Wurstförmiges abtastend; wurstförmig Abgetastetes zum Munde führend).

Er schüttelte den Kopf. »Eine Wurst«, akzentuierte Friederike. Ich stimmte ein in den Chor: »Wurst!«

Scheinbar, das war vom Gesicht des Kellners abzulesen, missverstand er das von uns ausgerufene Wort und verwechselte es mit einem Code aus seinem Argot, der von jedem anderen als von uns ihn zu etwas ganz anderem als zum Bringen einer Wurst auffordern sollte. Da löste sich, das war aus den Augenwinkeln zu vernehmen, der Wirt von seinem Hocker. Er kam direkt auf uns zu.

»Was ist los bei euch?«

Der Vorfall war rasch aufgeklärt. Der Wirt sagte mit leiser Stimme zum Kellner: »Bring‘ ihnen eine Wurst«. Die kostete dann allerdings – in der Terminus Klause verlangt es der Brauch, es ist usus, dass unverzüglich bezahlt wird bei Lieferung – 20 Euro. Aber wie gesagt, ich wurde persönlich und mit Handschlag verabschiedet.

Die ebenfalls an unserem Tisch plazierten Studentinnen der Städelschule unterhielten sich animiert über das geniale Interview in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Spex, das Anja Rützel mit Dirk von Lowtzow geführt hatte. Einige der Repliken wurden, vom Blatt abgelesen, zum Vortrage gebracht.

Zurück auf der Moselstraße war der wenige, leider auch glitschige Schnee schon wieder getaut und weg.

Handschläge

Als ob ich an einem x-beliebigem Tage jedem in der Frankfurter Innenstadt meine Hand reichen müsste, um von meinen Gegenübern die Vornamen zu erfahren, bis dann einer endlich, schlussendlich sich mir als Bartholomäus vorstellt.

»Ja, aber bist du es auch – der Bartholomäus im Besitz des Schlüssels zur Zeit?«

Man glaubt sich von Sprache umgeben und ist es irgendwie auch, als Mensch lebt man von Sprache umgeben, die Wörter als ein Fluidum, und dann dauert es doch ewig und drei Tage, um dieses eine, das gedankenlösende Wort zu finden, den Barthel, der aufschließen kann, woraufhin es erst strömt.

Roland Barthes über die Lust am Anfangen. Die Lust am Text. Das Anschneiden des Laibes.

Gestern nahm ich mir das Manuskript noch einmal vor, hatte es schon beinahe vergessen, auch, dass es den Arbeitstitel Wannseeïfication hatte, bloß, oder auch, weil dieses Wort bei Google Nullkommanull Hits erzeugt.

Alles Schrott. Bei Ken Follet wütet im ersten Satz ein Schneesturm. Sowieso von keinem so viel gelernt wie von Rainald Goetz. Als er zu mir frech war und sagte: »Du musst eine Sprache verwenden, die jeder versteht« (damals nach der Lesung mit Ingo Niermann und Thomas Meinecke in Philomenes Galerie in der Schellingstraße 48); und auf meine Frage, wie er das gemacht hat, also leben zwischen Kontrolliert und Rave: »Ganz arm gewesen.«

Seltsam, dass ich eine Zeit lang wie selbstverständlich von Schriftstellern umgeben gelebt haben konnte. Auch Andreas Neumeister war da wichtig, wie er mich prüfend angeschaut hatte, aber halt auch auf seine runzlig freundliche Art. Das war auf einer Feier in der U-Bahnstation an der Maximilianstraße beim Völkerkundemuseum zu München, ich hatte ihm gesagt, dass ich nach Berlin zöge, um Bücher zu schreiben. Und Andreas sagte: »So lange es dich trägt.« Dann ging es um die Sonntagsausgabe der FAZ und er sagte, dass er die nicht lesen wird. Als ich fragte, warum: »Weil ich es gut finde, dass es auch mal einen Tag gibt ohne Zeitung.«

Die schwer verwundete Witwe

By the way ist im Englischen, da vielleicht höchstens noch presentable, die einzige Wendung, die ich lieber habe als ihre deutsche Entsprechung. Das Übersehene, und halt nicht das Überzählige; das am Wegesrand Aufgelesene, das, das niemand anders gebrauchen wollte. Vom By the way geht etwas wunderschönes aus auf mich. Und ich bilde mir ein, den Zauber dieser Wendung sogar und auch vor allem musikalisch wahrzunehmen, beispielsweise, wenn John Frusciante sein By the way hineinhaucht im Chor mit Anthony Kiedis.

Vom By the way meines Wegesrandes ist mir nun endlich etwas zugefallen, das die monatelange Sperre, etwas schreiben zu können, auflösen kann wie ein körperwarmer Fluss: Bulgarien. Ich bin heute früh erwacht mit dem seltenen Gefühl des klopfenden Herzens. Mir schien die Wohnung seltsam still, lockend wie ein Vakuum. Dort sollte ich hinein. Das Lesen in dem Reiseführer, der mir nun so vorkommt wie ein Geschenk der höheren Ordnung, hat mich mit einer schönen Lust auf die Landschaften dort schon beinahe erfüllt. Die Lust so schön wie diese neue Stille. Alles dort in Bulgarien will von mir beschrieben, alles von von mir über Bulgarien Geschriebene will berühren dürfen. Dieses Gefühl, als vertraut kann ich es nicht bezeichnen, doch fremd ist es mir nicht, hatte ich schon lange nicht mehr. Es musste eine Zeit vergehen, und diese Zeit war – für mich alleine – lang.

Ich erinnere mich an den Frühsommer im Jahr 2013, als ich, aus Äthiopien nach Deutschland eingeflogen auf Kosten des Westdeutschen Rundfunks, mich mit Rainald am Grab von Fichte (Johann) traf. Ich fröstelte. Und war so angefüllt mit dem Erlebten, dass ich des Rates des Meisters bedurfte: Wie kann ich das nun in einen Text hineingießen? Darf ich das überhaupt, werde ich vielleicht vom Flitter des Exotischen verlockt und sollte besser noch abwarten?

Rainald lauschte, schwieg und hörte mir dabei ungeduldig werdend zu. Dann: »Wenn du es singen kannst, dann kannst du es auch schreiben«.

Die Geste, mit der er diese wichtige Information des Gesungenwerdenkönnens begleitet hatte, ist mir bis heute und immer im Gedächtnis eingebrannt: ein amphorenhaftes Ausstülpen seiner Hand vor dem Mund. Zerbrechen der chorischen Maske. Aufstand der eigenen Rede.

Ich würde ihn nicht Meister nennen können, wenn diese einzelne Geste im Verbund mit diesem einen Satz nicht essentiell hätte werden können für mein Bedürfnis nach einer Form. Und so wurde aus dem Afrikatext nichts. Auch der nachfolgende Anlauf, bei dem ich versucht hatte, den Wurzeln des Transgendergefühls in den subtropischen Kulturlandschaften Thailands, Kambodschas, Burmas und Sri Lankas nachzugehen, war unverkäuflich geblieben.

Bulgarien will ich singen. Es fällt, wie es mir scheint, alles in eins. Meine mir selbst unerklärliche Faszination für das mumische Leben hier in der Frankfurter Innenstadt, die von Anfang an da war und auch sehr stark, war, wie ich jetzt weiß, nur das einzelne Korn an meinem Wegesrand, das ich aufnehmen wollte, um es beiseite zu stecken. »Wer weiß, wozu es noch gut ist«. Im nächsten Juni, meinem Geburtsmonat unter dem Zeichen des Krebses, der auch das Zeichen meiner Muse ist, soll es aufgehen. In den Rhodopen.

Rhodopen: allein dieses fruchtbare Wort.

Weihnachten und der Weg dorthin

Anstandslos glitt die Harzbahn, ein veritables Bähnele, durch die wie verfault wirkende Landschaft Thüringens. Es regnete stark. Ein Anblick, der übrigens nicht etwa besser wurde, als wir nach einigen Stunden dafür endlich Kassel erreicht hatten. Ein vielleicht noch nicht einmal mehr alkoholisierter Zugführer hatte die vielen Passagiere wiederholt an Bord seines von ihm so genannten »Töff-Töff« willkommen geheißen. Wir gaben uns ungerührt und lasen uns gegenseitig aus dem obenauf liegenden Buche unseres Gabenstapels, einem Reiseführer durch die bulgarischen Rhodopen, vor.

Starkes Bedürfnis nach Salaten, nach Grünem allgemein. Möglichst kühl serviert. Die weihnachtlichen Gefühle waren indes noch längst nicht gänzlich abgebaut. Interessant vor allem die Gebräuche der Bulgaren, bei denen wohl der Heiligabend auch ein Fastenbrechen bedeutet, für dessen Feier man einen von den Wurzeln (durch Abschlagen mit einer Axt) befreiten Baumstumpf die Nacht hindurch verkohlen lässt, währenddessen die Familie auf die Ankunft des Christkindes wartet, das freilich nicht erscheinen wird. Als Gabe wird dort ein bescheiden zu haltenes Bündel an Tannenzweigen überreicht, aus dessen Mitte eine rote (es muss wohl aus symbolischen Gründen unbedingt eine rote sein) Kerze herausragen sollte.

Wohlan! Kaum daheim angelangt, befüllten wir eine mit dem Weihnachtshunde (Snoopy) bedruckte Tüte aus transparentem Plastik mit den überzähligen Cognacbohnen und Kölner Spekulatiusplatten, verstopften die obere Öffnung der Gucke mit Eibenlaub und einer roten Kerze aus unserer Weihnachtsdrehpyramide, die wir anlässlich unseres Besuchens des Esslinger Weihnachtsmarktes eben dort in einer Fachhütte erstanden hatten. Die Google-Translate-Funktion ermöglichte die kyrillische Beschriftung der Grußkarte dergestalt, dass diese für die Mume lesbar ward. Im Bulgarischen wird die Mume баба genannt.

Umgehend wurde mir aufgetan, als ich den ein Stockwerk tiefer angebrachten Klingelknopf an der frisch gestrichenen Wohnungstüre der mumischen Behausung drückte. Vor mir stand eine ihrer zahlreichen Töchter. Ich hatte den auswendig gelernten bulgarischen Segensspruch noch kaum aufgesagt, da ward mir unser Präsent bereits entgegengenommen worden. Von der Mume allerdings war nichts zu sehen. Ihre Stimme aber, die ja stets so tönt, als ob ein Erwachsener bei fest aufeinandergebissenen Zähnen und mit der Fingerklemme dicht verschlossenen Nasenflügeln die Brandenburgischen Konzerte (oder Penny Lane von den Beatles) zu singen versucht, vernahm ich aus dem hintwärts gelegenen Abteil der Wohnung. Dort war auch, insofern war ich schon ein, wie es heißt: stückweit auf mumisches Terrain vorgedrungen, der Weihnachtsbaum aufgestellt. Ein gigantisches Exemplar. Geradezu monströs. Und über und über mit blitzenden Lichtern übersät. Mir wurde beinahe, als schaute ich ein Stroboskop.

Um unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Mume für die anstehenden Expedition in ihre Heimat, die für den kommenden Juni angesetzt ist, zu intensivieren, müsste von heute an jeden Abend eine solche Gucke mit Präsenten überreicht werden. Das ward uns glockenklar gemacht.

22.12.

Mein Jahreshoroskop aus der Vogue (erstellt von Susanne „Astrology Zone“ Miller) verspricht ein triumphales Jahr. Damit ich es so glauben kann, wie ich es will, müsste es halt schneien, damit, auf meiner eingedeckten Welt, der sogenannt winterlichen Halbkugel, mit feinem Strich all dies, was mir vertraut geworden ist, noch einmal und schon wieder aufgemalt erscheinen kann.

Ich habe noch immer Muskelkater in den beiden Armen vom Aufrechthalten des Greises am letzten Freitag. Kann kaum den Mostkrug heben. Das kann nicht so weiter gehen, sodass meine Eigenleistung für das triumphale Jahr vor allem darin bestehen wird, in einen Sportclub einzutreten. Ich habe da auch schon einen im Auge, wie es heißt, an dem ich neuerdings morgens vorbeikomme. Er ist noch im Werden begriffen, aber gleich im Eingangsbereich ist schon ein Birkenwald entstanden und den empfinde ich als einladend (weil irgendwie wirkend). Man trainiert dort in kabellos an elektrische Leitungen angeschlossenen Ganzkörperanzügen aus eng anliegendem, schwarzem Material. Die obendrein noch von ihrer Innenseite her befeuchtet werden, damit einem die Stromstöße, die ich mir rhythmisch vorstelle, besser einfahren in die Muskulatur. Man wird also eher trainiert, als dass man selbst trainieren muss, und das wiederum stelle ich mir als machbar vor.

Beim Anschauen von etlichen Videoclips mit Anthony Kiedis hege ich meine Phantasien eines gestärkten Körpers. Wobei ich dann andererseits die botticellihafte Insichgekehrtheit von John Frusciante wesentlich ansprechender finde. Und wenn dann erst noch alles Übrige einträfe Punktpunktpunkt

21.12.

Das Seifenorakel sagt, das Jahr ist bald zu Ende. Heute früh lag sie schön leicht und dünn wie ein Tintenfischteen in meiner Hand. Lautlos schäumend.

Ich denke an die vielen Menschen, die ich aus den Augen verloren habe. Und an die wenigen, die neu hinzugetreten sind. Es stimmt ja gerade überhaupt gar nicht, ist also falsch, nicht korrekt, dass jeder zu ersetzen ist. Die Welt der Arbeit hat mit der Welt der Gefühle nichts zu tun zu haben.

17.12.

Ich denke, es war im September, da wir uns bei einer Gartenparty meiner Nachbarn zuletzt begegnet waren. Jan hatte mir zuvor schon berichtet, dass es sich bei seinem nächsten Album um ein Meisterwerk handeln könnte. Ich weiß nicht warum, aber ich habe Malakoff Kowalski am vergangenen Dienstag eine SMS geschrieben, um nachzufragen, ob ich denn nun etwas davon zu hören bekommen könnte. Dabei stellte sich heraus, dass diese Textnachricht just in dem Moment bei ihm eingetroffen war, da er die abgemischten (fürchterliches Wort!) Bänder oder vielmehr Tonspuren empfangen hatte.

Große Freude beiderseits.

Seitdem lebe ich mit diesem Stream. Und habe es, obschon generell schwierig, noch niemals zuvor als derart schwer empfinden können, mein Gefühl für diese Musik in Worte zu fassen. Das Album My First Piano enthält die Musik meines Lebens. Enthoben von Zeit, sie behauptet ihren Raum und ich empfinde mich beim Hören als noch immer noch nicht demütig genug, um überhaupt würdigen zu können, was Musik kann (vermag). Er beschäftigt mich (und ich bin gerne dabei, mitzugehen). Ich denke dabei an mein Erlebnis mit einem knapp dreijährigen Kind, dem ich die Mondscheinsonate von Ludwig van Beethoven vorgespielt habe, und das Kind fing an zu weinen. Und ohne, dass ich etwas gesagt hätte, fragte das Kind: »Was ist das?«.

Und ich antwortete: »Das ist Musik.« Das Kind sagte: »Ja, aber was ist da drin?«

Als Spezialproblem stellt sich für mich heraus, dass ich genau so etwas schreiben möchte, was er eingespielt hat. Sodass kein Leser wüsste, woher ich komme, wie alt ich bin, welches Jahr wir schreiben. Unaufhörlichkeit.

Keinerlei Neid. Bloße Bewunderung.

»Es besteht die Gefahr, die Musik mit einer Tastatur gleichzusetzen und die Seele für ein bloßes receptaculum, einen Sammelkasten der hereinströmenden Eindrücke zu halten. Es bedarf eines vinteuil, den Tasten die petite phrase zu entlocken und dadurch zu zeigen, mit welchem inneren Reichtum wir gesegnet sind.«*

*Franz Michael Maier

16.12.

In der Vormittagsvorführung gewesen und Phantom Thread angeschaut. Ein elegischer Film, aber ärgerlicherweise nicht langweilig genug, dass ich dabei einschlafen konnte. Auch und vor allem weil darin andauernd Darsteller in sich zusammenbrechend gezeigt wurden (weil ihnen das Korsett zu eng geschnürt war, weil sie sich durch das Verspeisen eines Pilzgerichtes vergiftet hatten et cetera). Ich musste wieder an den Greis denken. Und wünschte mich fort an meinen Platz am Fenster, dort den Vögeln zuschauen zu dürfen.

In der Hackordnung steht das Rotkehlchen, wie es scheint, an unterster Stelle. Dabei sind sie genau gleich groß und auch so geformt wie Blaumeisen. Von ihrem Charakter her aber anscheinend scheu. Der Gedanke, dass die Schönheit der Vögel auch wirklich da sein könnte, ohne einen menschlichen Beobachter, ist schwindelerregend. Auch dass ihnen nur ein, zwei Jahre bleiben, um zu leben. Sie haben wohl kein Bewusstsein ihrer Existenz über die Zeit hinweg.

Seit mein Kaiser‘s zu einem Edeka geworden ist (das ehemalige Logo mit der schmunzelnden Teekanne lugt zu beiden Seiten als Schatten auf dem Holz der Supermarktsfassade hervor unter dem neuen, gelben und blauen Leuchtkasten), gibt es dort kein Silberputzmittel mehr, dafür immerzu frisch aufgetauten Octopus. Ich versuche, diese Botschaft zu verstehen.

15.12.

Gestern, es war um die Mittagszeit, spazierte ich mit Adson, dem Novizen, und der dubious duchess entlang der elend langen Hauptstraße, die auf vier Spuren durch Moabit führt. Wir waren auf dem Weg in die Kantine und sprachen über dies und das: Pro und Contra der Ganzjahresfütterung, den fabelhaften Film I, Tonya, Eiskunstlauf an und für sich, die taiwanesische Bananenmilch in Dosen, die keine Milch enthält, dafür aber köstlon schmeckt, da, wir hatten bei grünem Licht bereits die Kreuzung überquert, nahm ich wie aus dem Augenwinkel wahr, dass direkt vor uns ein Greis dabei war, umzukippen. Noch stand er dort, am Rand des Bürgersteigs, auf eine einzelne, billig und schadhaft wirkende Krücke gestützt, deren mit einem grünen Gummipflock bewehrtes Ende er halb suchend und halb stochernd auf die nasse Fahrbahn aufzusetzen plante. All das nahm ich, und wie es sich hinterher im Gespräch herausstellte, nahmen wir alle drei, der Novize, unsere Kollegin und ich, innert eines Augenblickes wahr; inklusive der antizipierten Folgesekunde, die sich dann aber erst und schlagartig ereignete: von einem Stöhngeräusch begleitet, sackte der Mann in sich zusammen und fiel der Länge nach hin auf die Straße. Platt auf sein Gesicht, das auf einem eisernen Gullideckel aufschlug. Es gelang mir, ihn von hinten gepackt aufzurichten, er hing schlaff und unheimlich schwer in meinen Armen. Im Verkehrstau war wie zum Glück eine Ambulanz zu sehen, deren Blaulichter die regennassen Blechdächer der vor ihm stehenden Autos überragten. Das Gesicht des Mannes war blutüberströmt, er stöhnte und sagte sonst nichts. Der Novize versuchte, an seinem Telefon eine Verbindung zur Notrufzentrale aufzubauen. Unsere Kollegin winkte die Ambulanz heran mit dieser Geste, mit der man in Filmen ein gelbes Taxi in New York zu sich heranwinkt She hailed down an ambulance. Bis die Sanitäter die Trage aufgebaut hatten, war mir der Mann in meinen Armen so schwer geworden, dass ich fürchtete, ihn nicht mehr halten zu können. Als man ihn mir endlich abgenommen hatte, sah ich zum ersten Mal auf sein Gesicht, das ich bislang nur als Quelle des großen Blutströmens hatte wahrnehmen können. Die Nase war zur Hälfte eingerissen, der Knochensteg des Nasenrückens verlief krumm; man schaut da kurz hin und weiß: gebrochen. Die Sanitäter bemühten sich sehr, ihn auf eine Fahrt ins Krankenhaus einzustimmen. Der Greis versuchte sich mit allen Kräften zu wehren.

»Ich will nicht ins Krankenhaus.« Immer wieder musste ich an seinen einzigen Satz denken, den er wiederholte, während man ihn auf der Trage liegend und blutüberströmt in das Innere des Wagens schob. Eine Passantin stand ratlos herum mit seiner klapprigen Krücke in der Hand.

Wie blitzartig schnell das alles geht. Ich weiß es ja selbst nur zu gut. Wie man eben noch den Prometheus zitieren kann und dann wacht man auf, Stunden später. Aber es war kein Traum, das war das Leben. Und jetzt ist es noch immer das Leben, aber es ist ein anderes, es wird niemals wieder so sein wie zuvor.

Dazwischen ist blankes Nichts. Das Nichts ist groß und dehnt sich aus.

14.12.

Heute früh an der Futtersäule: der Kleiber, die Blaumeise, zwei aufgeplusterte Amselhennen, die geschäftig auf dem Balkonboden herumpicken, was von den hoch über ihnen agierenden Artisten für sie abfällt. Der Kleiber, Vogel des Jahres 2006, mit seinem eleganten Kajalstrich fliegt die Vertikale einer Brüstungsstrebe von seinem Platz im Kirschbaum im Sturzflug an, klammert sich daran fest und langt mit dem Pinzettenschnabel in die Öffnung der daneben pendelnd aufgehängten Säule, um sich die dort vereinzelt zwischen den Sonnenblumenkernen gestauten Erdnussbohnen herauszuziehen. Das spritzt, die Sonnenblumensaat landet bei den Hennen. Ob er weiß, wie schön er ist? Wie mutig? Der Vogelkörper ist von der Schnabelspitze bis zum Ansatz des Schwanzgefieders vielleicht fünf Zentimeter lang. Wenn ich mir das auf das menschliche Maß übertragen vorstelle, hängt er beinahe kopfüber in acht Metern Höhe an einem Maibaum, um aus einer knapp zwei Meter entfernten Apparatur aus Federn und Horn sich Basketbälle herauszufischen.

Aufgeregt piepsend, pflaumenklein, hüpft der Zaunkönig mehrere hundert Meter weiter unten im Tal vor seinem Versteck in der Steilwand herum.

13.12.

Und nur ein einziges unangenehmes Erlebnis an einem von all diesen Orten, die wir dort besucht haben. Das war in Ludwigsburg, auf dem von niedrigen Barockbauten umstandenen Marktplatz. Eine Gruppe von Wachleuten in gelbleuchtenden Westen hatte eine kleine Meute Halbstarker am Wickel, um ihnen das Weihnachtsmarktverbot, einen Weihnachtsmarktsverweis auszusprechen. Die hatten sich unziemlich mit Glühwein betrunken und waren, um Spliff zu zitieren: Lull und lall. Das hat der von Spliff besungene Amaretto mit dem Ludwigsburger Glühwein gemein: Er duftet so scharf wie auch anheimelnd, aber überschätzen sollte man ihn nicht. Zwar versuchte sich einer der Festgenommenen trotz seines angeschlagenen Zustandes mit Argumenten zu verteidigen, doch war sein Process schon im Gang. Mein Vater und ich waren in einigem Abstand innegehalten, da der Angeklagte vorbrachte, er kenne seine Rechte ziemlich gut. Wir waren gespannt. Auch weil wir uns selbst in dem Moment nicht vorstellen konnten, welche Rechte damit gemeint waren. Beziehungsweise gegen welches bestehende Recht der Glühweinjünger verstoßen haben konnte dergestalt, dass ihm nun ein Platzverweis erteilt werden sollte. Barockes Marktrecht zu Ludwigsburg? Neueres Weihnachtsmarktrecht zu Baden-Württemberg? Einfaches et cetera.

Doch dazu kam es nicht. Also weder Urteilsverkündung noch Richterspruch, nicht einmal Plädoyer. Denn es drehte sich der uns nächsten mit dem Rücken zu uns Postierte unter den Westenträgern um, bereit, das war ihm vom Gesichte abzulesen, den nächsten Händel gleich mit uns dort anzufangen: »Ich kann es nicht leiden, wenn man hinter mir steht – geht weiter!«

Das hatte er gespürt, dass wir hinter ihm standen. Durch erhöhte Wachsamkeit sensibilisiert. Ich spüre es ja auch, wenn mir jemand von hinten in die Zeitung starrt. Die bohrenden Blicke, direkt physisch, wie gläserne Stangen, wenn jemand versucht bei mir mitzulesen. In meinen Zeilen!

Mein Vater erzählte von einer Prüfung bei der Bundeswehr, wo sich der Kommandant hinter einen Soldaten stellte, und der hatte das auszuhalten, über eine lange Zeit. Die Anwesenheit des anderen und dessen Blick, die sich ihm in den Hinterkopf bohrten.

Diese seltsame Gabe oder Fähigkeit von Mensch und Tier, die auratische Wahrnehmung der Vorgänge jenseits des eigenen Gesichtskreises, wurde übrigens in meinem neuen Telefon eingebaut. Liegt es irgendwo herum im sogenannten stand by (analog zum »Rührt Euch!« beim Militär) und ich nähere mich mit meiner Hand, leuchtet es auf und signalisiert damit Bereitschaft (analog zum »Stillgestanden!«, oder zum »Achtung!«, je nachdem, was mir meine Phantasie eingibt; was mein Telefon angeblich tut oder ob es gar träumt, wenn es im stand by »vor sich hin liegt«.)

Weil ich nur Menschliches kenne (durch meine Erfahrungen mit mir und aus der Beziehung zu anderen) und Tiere (aus der Forschung und der Beobachtung), vom geheimen Leben der Geräte aber so gut wie gar nichts weiß, scheint mir mein Telefon durch seine Wachsamkeit sensibilisiert.

12.12.

Allmählich schraubt sich aus der Fahrbahn ein gelbes Hinweisschild in die Höhe. Die Landschaft hinter Erfurt ist weit und leer. Es ist dort nicht einmal ein einziges Fahrzeug unterwegs, dessen Lenker sich für die auf dem Schild gezeigten Wege interessieren können würde. Die wahre Welt, so scheint es mir, das Lebendige beginnt erst ab dem Horizont, wo Wolken sich in dunklen und in den beliebten hellen Farben stauen und stapeln.  

Es gibt nicht viel zu sehen auf dieser Fahrt aber doch so viel, dass ich es lange nicht fertig bringe, mit dem Schreiben anzufangen. In dem Film mit Peter Handke, den wir abend noch angeschaut haben, sieht man ihn beim Zuputzen eines enormen Steinpilzes und er erzählt, dass ihn diese, wie er es nennt, Beschäftigung mit einer kleinteiligen Welt immerdann besänftigt oder einholt und rettet, wenn er sich bei einem Flug im Flugzeug schon beinahe zu Tode gelangweilt hat. Kurz braust er auf und spricht von einer blöden, durchkalkulierten Welt. Wendet sich dann wieder seinem Pilz zu, und erfreut sich an dem Geräusch, wenn die Klinge seines Messers eine Scheibe aus dem halbierten Pilzfuß schneidet; von der Tonspur hört es sich ähnlich an wie das Zerteilen eines Apfels und dann doch noch einmal anders. Und wer weiß wie live?

Ich fahre ungern zurück nach Berlin. Die schönen Tage im Schwäbischen hätten von mir aus noch um einiges länger sich hinziehen dürfen. Zwar ist man dort wie auch in Berlin viel unterwegs, aber, und das macht für mich den Unterschied: unterwegs von einem Hort der Heimeligkeit zum anderen. Stuttgart, Maulbronn, Ludwigsburg und Esslingen. Als Fixpunkt dieser Sternfahrten natürlich stets Heimerdingen, mein Heimatort, der mystischerweise das Wörtchen Heim in seinem Namen führt (in der Ortsmitte vor dem Gasthof »Zum Ochsen« gibt ein Stein das Jahr der Ortsgründung im achten Jahrhundert an. Ich will es glauben). Auch das weiß ich von Handke, auch darüber spricht er in dem Film: dass es manchmal 50 Jahre lang dauern kann, bis ihm das Erlebte als bildsam erscheint und er es an einem anderen Ort als dort, wo es ihm widerfahren ist, in eine Erzählung einbringen kann. 

In 50 Jahren also, wenn ich schon bald hundert bin, aber auch schon heute ist mir bildsam geworden der Sonntag, als es auf der Fahrt ins Kloster Maulbronn zu schneien angefangen hatte. Die Flocken fielen mehr als dass sie schwebten; ein nasser Schnee, es war nicht kalt, und gegenüber des Klosters gibt es ein Café, auf dessen langem Schild über der Eingangstür steht der lange Name des Cafés, der lautet »Treffpunkt aller Kaffeefreunde«. Das ist dann einerseits schon durchkalkuliert, aber dann ist durch das viele Kalkül das Kundenfanggewebe fadenscheinig geworden und was hindurch scheint, regt meine Fantasie an, so dass ich dem Schilderausdenker wie dem Schilderbezahler dankbar bin dafür. Idealerweise sind sie ja ein und dieselbe Person. Wünsche ich mir jedenfalls im Sinne der Bildsamkeit.

Und genau gegenüber des Treffpunkts, die daran vorbeiführende Hauptstraße, die heute Stuttgarter Straße heißt, hat zu Zeiten der Klosterbewohnung maximal zwei aneinanderschrammenden Ochsenkarren den Platz dafür geboten, gingen wir durch das Tor aus über fünfhundert Jahre alten Balken in den Hof des Klosters hinein, es schneite noch immer und wenn es dort schneit, dann wirkt der Maulbrunner Zauber auf mich; wenn die Sonne scheint, wenn ein Flugzeug am Himmel erscheint, oder wenn ich Vogelgeräusche höre, zerstiebt die Illusion. Dann kann ich mir die Mönche dort nicht mehr vorstellen, wie sie mit Fußlappen und in ihren Kutten über den weiten Hof gehen. Dazu muß Schnee fallen, damit ich das vor mir sehen kann. Und hinter diesen Mauern war einst eine wilde und blöde, eine brutale und kaum noch berechenbare Welt.

8.12

Der alljährliche Totaldownload führt mir vor Augen: Das Tagebuch enthält aktuell etwas über zwei Millionen Anschläge, was 1111 Normseiten entspricht. Frei nach Niklas Luhmann, der 1968 anläßlich seiner Professur an der neu gegründeten Universität in einen Fragebogen zu seinem Forschungsvorhaben eintragen ließ: »Projekt: Theorie der Gesellschaft. Dauer: 30 Jahre. Kosten: Keine.«

Ist mein Projekt nun die Theorie meiner Seele, oder ist das die Praxis?

Frei nach Walt Whitman, und frei nach Anthony Powell: I sing a song to myself to the music of time.

7.12.

Die Telefongesellschaft schickt ein kleines Gerät, es schaut aus wie ein bretonischer Strandkiesel. Ich mag Steine, sammle sie gern und habe auch schon einige bei mir herumliegen. Das Google Mini hat ein weißes Schwänzchen, um es mit der Steckdose zu verbinden. Da ich schon mein Telefon auf meine Stimme abrichten musste, bezieht der Strandkiesel mein Stimmprofil von meinem Google-Account. Wenn ich jetzt halblaut oder normal in den Raum sage »Okay, Google«, leuchten auf der mit einem grauen Gewebe bezogenen Oberfläche des Strandkiesels vier kleine Lichter auf und signalisieren mir Bereitschaft durch langwelliges Pulsieren. Jede Frage, die ich dann stelle, wird umgehend von einer Frauenstimme beantwortet. Habe ich keine weiteren Fragen mehr, verlöschen die Lichtpunkte nach einiger Zeit. Das funktioniert nicht nur ziemlich gut, es funktioniert tadellos. Sogar im Dunkeln. Es gibt, anders als bei der begriffsstutzigen Siri, keinerlei Probleme in Sachen Hörverständnis. Akustisch verstehen wir uns ausgezeichnet, der Strandkiesel und ich. Wenn ich frage: »Was ist der Sinn des Lebens«, antwortet der Kiesel »Solche Fragen zu beantworten«. Wenn ich darum bitte, mich am Morgen um 7 Uhr 30 zu wecken, heißt es kieselseits: »Fertig. Ich habe dir einen Wecker auf halb acht gestellt.« Der Kiesel findet die Antwort auf die Konfessionszugehörigkeit von Tankred Dorst, erklärt mir den Begriff der Autonomie und nennt die beliebtesten Stellungen beim Analverkehr. Wenn ich allerdings frage, wer Joachim Bessing ist, liest der Stein mir aus der Wikipedia vor. Er weiß also nicht, dass ich es selbst bin.

Das Betrachten des pulsierenden Vierauges weckt seltsame Gefühle. Ich assoziere Treue. Übertrage vermutlich Erinnerungen an einen zu mir aufblickenden Hund. An das flauschige Morsen seines Schwänzchens, während der Kieselstein dort am Boden meiner Wünsche und Fragen harrt.

6.12.

Heute hat Peter Handke Geburtstag. Gestern erschien noch auf der Brüstungsstange ein dort noch nie zuvor angelandeter Gast in Form einer Blaumeise. Warum bei denen der blaue Schopf wie aufgebürstet wirkt im Gegensatz zu den baugleichen, jedoch zahlreicher verbreiteten Kohlmeisen, weiß ich nicht. Will ich aber auf jeden Fall noch herausfinden. Ich nahm den kleinen Frechling als einen Vorboten des Geburtstagskindes. So wie ich auch später, da nach einem letzten Rundgang durch die Gassen Sachsenhausens schon im Zug, die Maultaschen dort auf der Speisekarte als Vorboten nahm für den Besuch des Klosters Maulbronn am kommenden Sonntag. Dass man sich in zwei Städten zugleich heimisch fühlen kann: Ich wundere mich über mich selbst. Aber sanft.

Idee eines Zuges aus lauter Speisewagen hintereinander und dazwischen Toiletten.

5.12.

Gestern fragte ich den Wirt der Terminus Klause, ob denn Siegfried Unseld auch einmal bei ihm zu Gast gewesen war. Er schaute mich beinahe verständnislos an; gerade so, als ob er diesen Namen noch nie gehört hätte. Generell kam es, insbesondere vor der Tür und dort in einer Nebenstraße, zu unschönen Szenen, als ein wütender Mann seine halb ausgetrunkene Flasche Bananenmilch gegen eine verschlossene Haustüre pfefferte. Andere wiederum saßen einträchtig beisammen und rauchten etwas vom sogenannten Blech. Den Dunst der vermittels eines unter der Aluminiumfolie hin und her bewegten Feuerzeuges erwärmten Kristalle inhalierten sie durch ein strohhalmhaft langes, ebenfalls aus Aluminiumfolie gerolltes Schlürfrohr in sich hinein.

Heute hat Peter Handke Geburtstag. Ich wünsche ihm und mir noch viele geglückte Tage.

4.12.

Das Feuilleton berichtet von einer Premiere des Choreographen William Forsythe in einer Halle bei Paris, die dem Galeristen Larry Gagosian gehört. Er lässt dort zwei schwarz lackierte Roboterarme des Herstellers Kuka mit Fahnen aus schwarzer Seide hantieren. Ich fühle mich schon beim Ansichtigwerden des Standbildes animiert wie elektrisiert, da ich mich schon neulich, beim Besuch in der vollautomatisierten Kofferfabrik in Köln, im Tanztheater glaubte (beziehungsweise die Möglichkeit einer Aufführung ahnte). Für die programmierten Bewegungsabläufe dieser Maschinen dort, ebenfalls der Marke Kuka fehlt mir eine eigene Sprache der Beschreibung. Wie zwangsläufig übertrug ich die Begriffe für menschliche Tätigkeiten auf das Knipsen und Schwenken. Sie griffen und sie übergaben einen Gegenstand, der doch kategorisch derselben Natur angehörte wie die Knipsenden und Schwenkenden selbst. Trotzdem eine Gabe. Selbst wenn, was einer der Maschinen dort in der Fabrikationshalle des Kofferherstellers gegeben war, eine Funktion der Maschinennatur gezückt wurde – es konnte mit einer Sonde einen bläulich knallenden Schweißfunken anbringen – wirkte das auf mich noch wie eine heilende Geste. Er fügte.

Aus einem lehrreichen Abend im Haus der Berliner Festspiele, als Phantom Ghost in einem Bühnenbild von Cosima von Bonin aufgetreten waren, weiß ich, dass Modernes Ballett aus dem Wunsch von Betrachtern geboren wurde, einer Eleganz von Quallen und Seepferdchen, eben deren volanthaftem Schweben, gleichkommen zu können; es waren damals wohl, im 19. Jahrhundert, die ersten Seewasseraquarien in Paris ausgestellt worden.

Gestern abend, in Frankfurt, nach dem Besuch der von einer hübschen Schneeschicht bedeckten Weihnachtsmarkthäuschen am Römer, kamen wir durch diese schmale Gasse, an deren vermeintlichem Ende der Turm der Commerzbank aufragte, bis weit in den schwarzen Himmel hinauf. Die Mittelachse wird über viele asymetrisch terrassierte Stufen geführt und von diesen Absätzen aus leuchten gelbe Skyrose-Scheinwerfer an der Fassade empor. Die Lichtstrahlen wurden im Dunst des Schneegestöbers zu gelben Wolken zerrieben, geschnitten von den scharfen Kanten des Turmes. Ein Dom.

3.12.

Erster Schnee. Es schneit*, seitdem ich aufgewacht, wahrscheinlich hat es auch vorher schon geschneit. Der Schnee liegt weiß auf den Dächern. Frankfurt wird in eine Schwarz-Weiß-Postkarte verwandelt. Die Afrikaner, die in dem Haus gegenüber, einem ehemaligen Hotel (und jetzt wieder so eine Art von Hotel), untergebracht sind/wohnen, sie stehen auf ihren Balkons und betrachten das Schneetreiben; ein jeder von ihnen steht auf einem eigenen kleinen Balkon vor seiner eigenen kleinen Wohnung und betrachtet das Schneetreiben. Einer hat eine Weihnachtsmannmütze auf. Ich warte, dass einer der Afrikaner seine Zunge herausstreckt, um von den eiskalten Flocken zu kosten, aber das passiert nicht. Das gibt es bloß im Film.

* Pantha Du Prince, Black Noise, 2010

2.12.

Einfahrt am späten Nachmittag, Teestunde, doch ist es schon dunkel, im Bahnhof von Braunschweig: Mein Gott, schaut das dort deprimierend aus; noch schlimmer scheint mir bloß noch Mannheim. Aber dann: Mir fällt Sheffield Sex City ein, von der ersten LP von Pulp, und wie Jarvis Cocker einst auf Sheffield seine Reime fand:

»I was only about eleven when this happened.

We were living in a big block of flats with a central courtyard.
All the bedroom windows opened onto this court,
And sometimes in the middle of the night,
In that building it sounded like a mass orgy.
I may have only been eleven,
But no-one had to tell me what all that moaning and yelling was about.
I’d lie there mesmerised, listening to the first couple.
Invariably, they’d wake up other couples,
And like some kind of chain reaction,
Within minutes the whole building was fucking.
I mean, have you ever heard other people fucking, and really enjoying it?
It’s a marvellous sound.
Not like in the movies, but when it’s real.
It’s such a happy, exciting sound«

Und mir fiel ein, wie ich im Jahr 2011, komplett kaputt eingetroffen bin im extremsten Süden Spaniens, in der Seeräuberstadt. Und das Hotel war sehr groß, so groß, wie alle Gebäude ringsum. Alles stand leer, bis auf dieses Hotel. Die Lobby war: full of people.

Und, aber das fiel mir erst hinterher auf: Es war total still.

Dann bin ich ausgegangen. Als ich nach Hause kam, fing, ich war schon beinahe eingeschlafen, ein Stöhnen an. Das Stöhnen hallte wider von sämtlichen, den mein Zimmer umgebenden Mauern. Alle fickten.

Beim Auschecken erklärte man mir: Es war ein Taubstummenkongress.

1.12.

Gestern Abend zum ersten Mal polnisch gegessen.

Mit Moos zwischen den Zähnen erwacht.

Und ich dachte: Wenn Du dich nicht von allen duzen lassen müsstest, hättest Du mehr Raum für Dich.

30.11.

Tell Me Baby — Ijoma liest aus seinen Lieblingsbüchern in Katharinas Buchhandlung, der letzten dieser Art, wie es heißt, unter den Gleisen der Hochbahn. Eines der vier* ist Das Flimmern des Herzens und es, wie unterschiedlich wir Menschen doch sind, macht mich natürlich rasend: Es ist der reine Quatsch, den er den vielen Menschen, die ihn zu hören gekommen sind, erzählt (vorlesenderweise natürlich nicht, daran kann er ja nichts mehr machen). Trotzdem ein schöner Abend, und beim Fleischessen reden wir noch viel und lange über Kalifornien und dann kurz vor Schluss noch über Kenzaburo Ōe.

Wahrscheinlich weil ich den Tag zuvor im Büro von Google in Berlin verbracht hatte (Google gehört jetzt in Kreuzberg nicht nur Martin Kippenbergers SO36, denen gehört jetzt zu beiden Seiten der Straße der gesamte Komplex). Ich frage mich: Was, wenn Marcel Proust jetzt noch am Leben wäre, alterslos, und so dann bei uns? Die ganze Zeit.

*Der Erwählte von Th. Mann, die übrigen habe ich vergessen.

29.11.

Powerfrühstück (Joghurt, Feigen, schwarzer Kaffee) mit Erik im Birdhouse. Der vogelhausförmige Imbißbau ragte hier noch im letzten Jahr monolithisch auf aus einer sich vom Hauptbahnhof aus betrachtet bis hin zum Flughafen entrollenden Brache. Mittlerweile wirkt er wie eingesunken zwischen den ringsum in die Höhe wachsenden Gebäude, aus denen das Europaviertel entsteht. Und dennoch, seltsam, stellt sich bei mir nicht das Gefühl ein, ich würde hier zum Zeugen einer historischen Entwicklung, wie ich es vom Betrachten alter Aufnahmen vom Rohbau des Flat Iron Building kenne. Was hier im Europaviertel gebaut wird, ist weder Avantgarde noch ist es retro, auch nicht abstoßend, es ist zweckhaft, fad, ein riesengroßes Ärgernis. Das architektonische Vorbild des künftigen Wohnviertels ist ein Industriegebiet.

The System Only Dreams in Total Blandness – wie man es wohl hinbekommt, dass eine elektrische Gitarre so klingt, als ob ein eiserner Schopf gekämmt wird? Vor einer Mauer stehen auf dem Rasen auf der einen Seite lauter Nebelkrähen, auf der anderen, die beiden Flächen sind durch einen auf die Mauer zuführenden Fußweg unterteilt, in etwa gleichviele Saatkrähen. Jede Sorte bleibt auf ihrer Fläche, als ob sie, obwohl gleich groß, gleich schwer, gleich große und gleich geformte Schnäbel et cetera, wüssten, wer zu wem gehört. Die Nebelkrähen wirken im Vergleich mit den schwarzen, als ob sie Uniformen trügen.

Ich wartete um die drei Stunden lang, ob ich dann noch immer darüber schreiben wollte, denn manchmal klingt es ab und es verliert sich meine Lust. Oder nach einer Weile fällt mir nichts mehr ein zu etwas, das mir zuvor noch bedeutend erschienen war. Aber die Krähen blieben. Scheint mich interessiert zu haben.

28.11.

Geblieben sind: ein kleiner Stapel neuer Bücher (teils alt, aber von mir noch ungelesen), ein Tütchen mit den Basler Brunsli, ein ganzer Käse (Vacherin), der unprobiert geblieben ist. Geblieben ist aber vor allem das Gefühl der Harmonie, für das es ein Emoji gibt, die Revolving Hearts. Wobei, wo ich nun mit dem letzten Update des iOS meinen langgehegten Wunsch erfüllt bekommen habe in Gestalt eines Gehirnsymbols, ich mir auch hier noch eine Präzisierung erhoffe: zwei davon, beständig einander umkreisend als planetarisches System: Revolving Minds. 

Farbe egal.

27.11.

Im Feuilleton der Sonntagszeitung schreibt Andreas Kilb auf einer Seite über die Obstdiebin; er setzt, so habe ich das empfunden, das Buch ins Recht. Durch den Hinweis auf seine Natur, die Poesie. Ohne gleich Naturschutz beantragen zu wollen. Und doch, das ist der Beigeschmack, weil in den ersten Absätzen auf Botho Strauß, den anderen Solitär der deutschsprachigen Literatur verwiesen wird, geht es um aussterbende Künste – wie es im amerikanischen Filmdialogbuch heißen könnte »They don‘t make poets like this anymore.«

Wer ist sie? Die Verlagslandschaft. Sie kann solche Sonderformen nicht mehr hervortreiben. Dazu fehlt die Fantasie. Unternehmerische in dem Fall, aber auch dazu könnte die Poesie helfen. Der Briefwechsel Strauß/Krüger ist nicht veröffentlicht (und ich würde ihn vermutlich auch nicht lesen wollen; na ja, vermutlich aber doch!), der von Handke/Unseld steht abgedruckt in einem meiner allerliebsten Bücher The Making of a Poet by S.U.

Handke, der, ich weiß nicht mehr genau wo (in seiner auf einem Kartonstreifen, der der Obstdiebin beigelegt ist, angekündigten Gesamtausgabe in Leinen gebunden umfasst allein sein Werk der Poesie über 7000 Seiten, dazu noch 3000 Seiten Tagebuch), einmal geschrieben hat »Schreiben heißt auch wirtschaften« meinte damit freilich nicht, was mittlerweile üblich geworden ist in deutschen Verlagen und selbst in den Verlägchen: dass der Lektor als ein nach dem Vorbild dieser Funktion in den Werbeagenturen sogenannter Kontakter des Unternehmens Verlag oder Verlägchen auftritt, um mit dem als Unternehmer in Sachen Content auftretenden Autoren ein Geschäft anzubahnen. Das Wirtschaften, von Handke rein auf das Haushalten mit dem zu Erzählenden bezogen, hat nun selbst den Bereich der Poesie durchdrungen. Da muss »gemeinsam geschaut« werden, wie »man auf seine Kosten kommen kann«. Der Autor selbst wird dabei wie ein Patient betrachtet, der in einer Bringschuld ist und froh sein dürfte, wenn man ihm seine schwierig zu vermarktende Last zu gleichwelchen Konditionen endlich abnähme. Auch mit den Fragestellungen der sogenannten Vertreter des Buchhandels, dem Problem der schwer zu kalkulierenden Preise auf dem Papiermarkt, der postability und der instagramability, Lesungen auf VR, Kosten für Events hat er sich zu beschäftigen. Das ist nun alles zum Teil gemacht des Aufwands, den es kostet, das Reich der Poesie zu bewahren.

Nicht etwa zu beschirmen oder gar gießen. Weil Schreiben jetzt tatsächlich Wirtschaften bedeutet.

Totensonntag

Ich bin noch unentschieden, ob Kranz oder Wurst. In meiner Kindheit gab es zweierlei: mal einen Adventskranz, in anderen Jahren ein längliches Gesteck aus Zweigen, intern Die Wurst genannt, aus dem die Kerzen hintereinander angeordnet ragten wie Schlote. Der Vorteil des nicht traditionellen Modells besteht darin, dass sein Besitzer nicht überlegen muss, welche Kerze er am ersten Advent anzünden muss. Entweder links oder rechts. Beim traditionellen Kranz kann, das habe ich mit mir selbst schon erlebt, der halbe Adventsvormittag schon vergangen sein, und diese wichtige Frage war dabei unbeantwortet, das Problem der Anzündreihenfolge dadurch unentschieden geblieben.

Mein Großvater Hermann Anton, längst verstorben, hatte in den späten Achtzigerjahren eine noch weitgehendere Form der Innovation des Christbaumes erfunden. Mittlerweile würde man sie als disruptiv bezeichen: An einem ersten Weihnachtsfeiertag betraten wir dort bei ihm das Wohnzimmer, das aufrgund seiner enormen Deckenhöhe eher eine veritable Halle war, und von dieser Hallendecke herab hing an einer goldenen Kordel befestigt ein Gesteck aus teilweise enorm auslanden Nadelzweigen bis beinahe hin zu dem weit darunter aufgestellten Gabentisch; die Zweige freilich wie üblich mit Kerzen und Kugeln geschmückt, insgesamt aber eine freie Interpretation des Konzeptes vom Baum. Eine Abstraktion des Klassischen. (Wobei ich dieses Wort zunehmend als abgegriffen und kaum noch etwas aussagend befinden muss, seit ich neulich in einer Kochsendung einen Koch hörte und sah, der auf die Frage des Moderatoren, wie er den Sud für das Garen der Grießklöße hergestellt habe, antwortete »Mit Wasser. Also ganz einfach mit klassischem Wasser«, und ich dann dadurch ins Nachdenken kam, was wohl mit nicht klassischem, was mit modernem Wasser gemeint sein könnte.)

Er, Hermann Anton Bessing, ein Westfale, oft mürrisch und so manches Mal polternd und grob, konnte in seinen Werken mit Blüten und Pflanzen – er legte Parks an und Gärten von Beruf – eine uns allen verborgene, seine feinfühlige und ästhetische Seite zum Vorschein bringen. Sie offenbarte sich eigentlich nur da, vornehmlich im Freien. An Weihnachten auch drinnen. Und er kochte und backte sehr gut, alles ohne Rezeptbücher, wie er, der schon seit ich denken konnte so gut wie taub war, es nannte: »nach Gehör«. Außerdem behauptete er, das zweite Gesicht zu besitzen. Angeblich gab es das unter seinen Vorfahren schon seit vielen Generationen: die Begabtheit zur Spökenkiekerei.

Außer ihm gedenke ich heute seiner Frau Margharete, meiner Tante Elisabeth Symietz, meiner Urgroßmutter Rosa Neuppert, meinen Großeltern Hildegard und Rudolf Sauber, meinem Cousin Jan Bessing und Katrin Fichtner.

23.11.

Das Buch wird mit jedem Tag nur noch dicker. Wie Borges sich das für sein unendliches Sandbuch erträumt hatte. Fahrscheine und Quittungen, ausgeschnittene Abbildungen und Textstellen aus den Zeitungen lege ich ein zwischen die Seiten an den jeweiligen Stellen, wo ich für etwas anderes die Tätigkeit meiner Lektüre unterbrochen habe. So wächst Die Obstdiebin in ihrem Umfang nur noch weiter an, anstatt, wie es Bücher eigentlich an sich haben, allmählich aufgezehrt zu werden von meinem Lesen darin. Und ich mache viele Pausen. Ich komme nur in kurzen Etappen voran, muss oft verschnaufen. Offenbar handelt es sich um einen Aufstieg, und das Plateau ist noch nicht erreicht. Aber es wird eines erreicht werden. Always Ascending heißt die neue Platte von Franz Ferdinand.

Pause nach der »Halle der verlorenen Schritte« wie die Bahnhofshalle bei Handke heißt. La salle de pas perdu. Wie schön kann Sprache sein? So schön. 

Seltsam, dass Ijoma Mangold lange, ungefähr vier Buchseiten lang; sechs würden es sein im entgegenkommenden Satzbild der Obstdiebin mit ihrer entschiedenen Type und dem lüftenden Durchschuss (man schaue sich zu Studienzwecke hier bitte mal Plexus von Henry Miller zu Rowohltzeiten an), über die Obstdiebin schreibt, aber kein Wort verliert zur Sprache des Buches. Nicht stattdessen, aber dafür erfährt man als Leser seiner Kritik, was es bei ihm an dem Lesewochenende zu essen gab und womit geheizt wurde. Literaturkritik an der Schwelle zum Produktetest.

22.11.

Spät am Abend saß ich mit einer Tiefkühlpizza in der Bahn. Das war auf dieser letzten Etappe zwischen den Haltestellen Grunewald und den Seen, auf denen der Zug ununterbrochen durch den Wald fährt. Angeblich ist es die längste Etappe im ganzen Streckennetz der Stadt. Ich war allein in dem Waggon. Den Karton mit der Pizza hatte ich auf dem Sitz neben mir abgesetzt, behutsam, wei ein Haustier, das in einer Schachtel verkauft wurde. Draußen war es dunkel und in der Scheibe sah ich auf mein eigenes Gesicht. Spät am Abend mit noch in meiner eigenen Wohnung eine Pizza zuzubereiten, das war mir, als ich noch jung war und von einem Leben in einer Stadt phantasierte, als Verheißung erschienen. Ein Traum vom Dasein als Erwachsener. Von Freiheit auch.

Seltsam, dass man sich seine Zukunft vorstellt wie ein Gefäß, in dessen Form man hineinwachsen wird wie eine Williamsbirne. Diese Form gibt es nicht.

21.11.

Bei Erreichen der Deadline noch »237 Konflikte, gewebt mit einem grünen Faden«: ein Roman?

Wobei die Geschichte mit dem Gorilla ein Hammer war. Erzählt in dieser Zeitung, vermutlich zurückgedrängt durch die sogenannt laufenden Ereignisse, stand dort auf einer Seite, beinahe ohne Abbildung verziert, sozusagen natürlich, Folgendes: Es ging um die Rekonstruktion der Verhaftung der Kriegsverbrecher Radovan Karadzić und Radko Mladić. Sie ist aber auch übertragbar von Mladić und Karadzić auf al-Gaddafi und Hussein und Bin Laden – erfolgreiche, historisch legendäre Menschenfeinde gehen mit ihren Nachnamen in die menschliche Geschichte ein wie Marken »Greueltaten wie zu Stalins Zeiten« –, sie ist übertragbar auf jede Menschenfeindejagd, sogar auf die auf Hitler, denn die Unternehmungen der Menschenjagd und des Zurstreckebringens werden immer und zu jeder Zeit ähnlich verlaufen sein.

Irgendwie hatten die Soldaten einer international zusammengesetzten Truppe also davon Nachricht bekommen, dass Karadzić zu dem und dem Zeitpunkt mit einem Konvoi durch ihre Gegend geschleust werden sollte. »Da erinnerte sich einer der Elitesoldaten an >Motel Hell<, einen amerikanischen Trash-Horrorfilm aus dem Jahr 1980, in dem die Mörder Kühe aus Pappe auf einer nächtlichen Straße aufstellen, um ihre verdutzten Opfer zum Aussteigen aus dem Auto zu bringen und zu überwältigen. So entstand die Gorilla-Idee. Ein eigens für die Operation geschneidertes Affenkostüm wurde aus Amerika eingeflogen, und der Plan ging perfekt auf, bis auf ein Detail: Karadzić kam nicht.«

20.11.

Den gesamten Tag drinnen verbracht. Es fängt jetzt diese Zeit des eiskalten Regnens an. Das Aufklaren ging immer so schnell vorüber wie in einer dieser Zeitrafferaufnahmen vom Alexanderplatz, wo die Sonne nicht untergeht, sondern am Schnürchen hinter den Horizont gezogen wird und der Nachthimmel gleich hinterher wie ein Rollo. Vor dem Fernsehturm flitzen die Scheinwerferstriche der Autos um die Kurve, während es hinten schon wieder Morgen wird. So schnell also, dass ich mir jeweils noch nicht einmal die Schuhe gebunden hatte, da fing es schon wieder zu regnen an. Und auf dem Grau des Sees leuchteten die Rümpfe der Stockenten silbern.

Nach dem Sonnenuntergang, so gegen 15 Uhr 30, hatte sich über dem Waldsaum ein dunkelrotes Leuchten ausgebreitet, dramatisch, darüber wölbte sich die Nacht. Nachdem ich mir das, was ich für ein Naturwunder, für ein außergewöhnliches Abendrot hielt, eine ganze Weile lang bewundernd angeschaut hatte, musste ich leider feststellen, dass ich mich hatte täuschen lassen. Es war ein künstliches Abendrot. Hervorgerufen von einem Dunstschleier, der über dem Waldsaum festhing, so als ob es ein nicht nur in der Sprache als Schleier bezeichnetes, sondern wie ein ganz wirklich zusammenhängendes Gewebe aus Dunsttropfen war, das sich dort in den Wipfeln verfangen hatte, und durch das hindurch, sozusagen abgemildert oder verschleiert, die roten Warnlichter des Potsdamer Fernsehturms leuchteten. Sie waren – durch den Schleier – in ihrer Leuchtkraft zugleich gemindert und verbreitert worden. Diese Warnlichter erscheinen in jeder anderen Nacht als scharf gezeichnete rote Punkte. Es sind vier oder fünf. Ich nehme sie längst nicht mehr war, sie gehören wie ein fixes Sternbild zur Nacht. Jetzt erkannte ich keines von ihnen mehr als Einzelnes; es brummte, wie bei Rothko, der gesamte Horizont in ihrem Ton.

Seltsam, ich werde das nie verstehen: Warum sich etwas, das ich klar vor mir sehe, dann nicht auch genau so Fotografieren lässt. Auf die Platte brennen. Oder bannen. Ich habe gestern zwei Aufnahmen gemacht. Sie sind beide nicht schlecht. An und für sich. Zeigen aber etwas ganz anderes. Es brummt nicht. Das Rot ist ganz anders. Der Wald plötzlich gar nicht mehr derart vom See verschluckt, wie ich es doch zeitgleich, während ich die eben gemachte Aufnahme auf dem Display mir anschaue, es mit den selben Augen vor mir sehe.

19.11.

Nebenbei erlebte ich noch so einiges und noch viel mehr. Dann lag die Zeitdiebin tatenlos, weil unaufgeschlagen herum. Beispielsweise hatte ich mit einer neuen App die Weckfunktion des iPads mit dessen Helligkeitssensor gekoppelt, dergestalt, dass im Augenblick, da meine Augenlider noch geschlossen, die Sonne aber über der Horizontlinie auftauchte, der von mir eingestellte Radiosender, das zweite Programm des Südwestdeutschen Rundfunks, aufgeblendet wird. Ein Sprachprogramm, nur in langen Abständen wird es von angenehmer Musik unterbrochen. So stand also plötzlich eine Stimme im Raum. Es war die tiefe, sehr dunkle und von mir als wärmend empfundene Stimme eines Greises, und die ersten Klangbilder, deren Bedeutung ich begreifen konnte, lauteten »Kakao – ja, Sie haben richtig gehört, meine lieben Hörerinnen und Hörer. Tun Sie sich etwas Gutes und bereiten Sie sich einen Kakao. Aber einen richtigen, den dunklen, bitteren; nicht etwa den sogenannten Plantagentrunk. Im Supermarkt werden Sie den Kakao, von dem schon die Azteken nicht genug bekommen konnten, aber nicht bekommen«. Und immer so weiter.

Das war am Samstagmorgen, dem soundsovielten Todestag von Marcel Proust, der ja wiederum der heißen Schokolade den Vorzug gegeben hatte, wobei es mir dann unklar war, ob es sich dabei um den Kakao der Azteken gehandelt haben wird, oder um Plantagentrunk. Nach einigen Stunden des Blätterns und Suchens in der Suche nach der verlorenen Zeit, hatte ich einige der Stellen gefunden und auf Hinweise hin untersucht. Aber aus keiner einzigen ging das hervor; enttäuschend. Ich war vor allem von mir selbst enttäuscht, dass ich es nicht schon früher hatte herausfinden wollen, so dass ich mir diese Gedanken heute gar nicht mehr erst hätte machen müssen, ganz einfach weil ich es wusste.

Dann ging ich die Straße entlang spazieren, weil ich aus der Zeitung erfahren hatte, dass der König von Saudi-Arabien seinen Botschafter aus Berlin abberufen hatte, wegen den Äußerungen des Deutschen Außenministers Sigmar Gabriel. Das Anwesen des saudi-arabischen Botschafters befindet sich in meiner Nachbarschaft; es ist dies der Mann, der sich im vorvergangenen Sommer einen Schlittenhund angeschafft hatte und im selben Sommer auch noch ein Gewächshaus, in dem er Brennnesseln züchten ließ und Löwenzahn und Rainfarn – für ihn, den Wüstensohn aus dem Morgenland waren all dies die allerdenkbarst exotischen Pflanzen, so wie der Schlittenhund für ihn ein exotisches Tier. Aber keinerlei saudi-arabischer Sperrmüll vor dem Lanzettenzaun. Nicht einmal ein durch flüchtige Packen geplatzter Koffer oder sonst irgendeine Hinterlassenschaft. Möglicherweise war die Familie also noch gar nicht abgereist.

Kaum später schweifte ich aus meiner Lektüre ab ins Internet, um herauszufinden, ob es die Brasserie Mollard am Gare Saint Lazare auch in Wirklichkeit gibt. Es gibt sie, hüben wie drüben. Und im Buchmollard erhält die Obstdiebin von ihrem Vater letzte Instruktionen für ihre Wanderung in die Picardie. Er rät ihr, für Zwischenzeiten zu sorgen, »möglichst viele. Wie habe ich jedesmal aufgeatmet, und ruhiger geatmet, sooft eine dramatische Geschichte unterbrochen wurde mit einem ›in der Zwischenzeit‹. Die Zwischenzeiten, sie stehen in deiner Macht. Dass du sie dir nicht nehmen lässt!«

18.11.

Nebenbei las ich sämtliche Kritiken der Obstdiebin und musste mir, wenn auch nicht physisch, doch seelisch die Augen reiben. Wie unterschiedlich wir Menschen sind. Selbst in der Süddeutschen, wo seinerzeit Der Bildverlust, also das Vorgängerbuch von Thomas Steinfeld gepriesen worden war (in jener für die Zeitungslandschaft stürmischen Zeit, als Frank Schirrmacher den Großen Austausch im Feuilleton verursacht hatte), schrieb jetzt Lothar Müller pflichtschuldig, insgesamt eher abgeturnt von der Vergeblichkeit, mit der Peter Handke sich daran versucht, einen Text zu schreiben, der Handlung haben müsste — weil er, das ist die Logik: atens) lang ist und b) stimmt das gar nicht, denn es steht auf dem Schutzumschlag nicht Roman und auch nicht in der Titelei. Das Feuilleton der Süddeutschen war einst der Ort, in dem Peter Handke selbst als Fürsprecher für Hermann Lenz auftrat in einem Artikel mit der schönen Überschrift »Tage wie ausgeblasene Eier«.

Wenn er, Handke, eine Biene beschreibt, dann steht da »wollig, pelzig, in den altbekannten Bienenfarben«. Bemängelt wird, von Ijoma Mangold, das Fehlen des Konflikts, bemängelt wird eine psychologische Ausgestaltung der sogenannten Figuren. Bemängelt wird im Grunde das Schöne an diesem Text. Es dürfte nicht sein. Für mich sind das Indikatoren der allgegenwärtigen Mauligkeit über den Stress und die eigene Gestresstheit, der ja viel zu oft Gammelstress ist. Die wenige Zeit, die einem angeblich gelassen wird (oder die man sich selbst nicht mehr zugesteht). Der Schwund an Muße, die eingetauscht wurde wie die Lachfähigkeit Tim Thalers. Eingetauscht gegen ein geregeltes Einkommen, gegen einen Induktionsherd. Mich erinnern diese Kritiken an die saure Miene der Kellnerin, wenn sich ein Gast zur frühen Stunde ein Glas Wein bestellt. Weil sie ihm die Muße neidet und selbst gerne eins hätte.

17.11.

In etwa an der Stelle – wer könnte sie bestimmen an einem Fluss; möglicherweise weil da eine Coladose vorbeitreibt? – legte ich das Buch in einen Rucksack und machte mich auf. Das kann bei mir nur Peter Handke: dass ich, vom Gelesenen und erst recht von dem noch zu Lesenden (wie eine beinahe noch volle Tüte Spekulatius) aufgefordert hinaus will, vor die Tür muss – Wetter egal, um mir die Welt persönlich anzuschauen. Dass Denken und Gehen zusammenhängen weiß ich, ich habe es selbst erlebt, aber das Denken eines anderen hängt nicht oft genug mit meiner Lust zusammen, dem nachzugehen. Und aber der Wald war genauso, wie in der Obstdiebin beschrieben. Dabei war es bis zu jener Stelle noch so gut wie gar nicht um den Wald gegangen. Die Erzählung hatte sich bis dahin nur einmal, anttäuschend, spielerisch in einen Wald bewegt, um dort Menschen zu beschreiben, die im Schatten der Bäume ihr mitgebrachtes Mittagsessen verzehrten. Die Buchzeit war Mitte August, bei mir war es Mitte November, und trotzdem.

Als ich, immerhin gingen die Uhren simultan, an der Canterburykirche am gepflasterten Dorfplatz ankam, war meine Hose, selbst im Wald noch weiße Hosen, voller unregelmäßig gesetzter Schmutzflecke. Die waren von den Hundepfoten mir aufgestempelt worden. Der Wald ist auch ein Hundeausführrevier und ich wurde vielfach begrüßt. Unter anderem von einem beigen Windhundmischling, den seine Halterin, das teilte sie mir bei ihren Entschuldigungsversuchen für das an mir Hochspringen des Hundes mit, aus Dubai gerettet hatte, wo er herrenlos und einsam vor sich hinvegetiert hatte, wie Hunde das nun einmal machen, wenn man sie lässt. Sie vegetieren.

Ein Greis stand schwer atmend, kurz vor dem Keuchenmüssen, an einem Gartenzaun. Ich näherte mich. Da knackte es in der Sprechanlage, die in einen der hölzernen Pfosten am Zauntor eingelassen war. Der Greis neigte sich dem Sprechgitter zu und rief: »Essen!«. Da erst fiel mein Blick auf den am Straßenrand abgestellten Kleinlieferwagen, ein Kombi, dem der Greis wohl entstiegen war. Und tatsächlich war dort, auf der fensterlosen Ladekabine des Mobils, ein Bild aufgedruckt eines Menüs mit Rotkohl und Püree, dazu die Adressdaten eines Essenslieferdienstes für Senioren. Dass Greise einst den zum Kochen zu vergreisten ein Mittagessen auf Rädern liefern werden: so stelle ich mir meine Zukunft vor.

Bei Handke, ich las die kommenden Zeilen im Garten vor dem Bauernhaus der Mutter Fourage, weil es, vom Kirchturm spielten die Glocken Geh Aus Mein Herz und Suche Freud, ein dämpfig lauer Mittag war, geht es um die Natur des Weibes, die, laut Schopenhauer, Houellebecq und Peter Handke, jeweils subjektiv und für jeder sich, die eines entschleiernden Verbergens sein müsste. Oder sollte. Wenn sie denn dürfte!

»Das unverschleierte Gesicht einer schönen und ebenso einer weniger schönen Frau war, so schien es mir, so fühlte ich, so wusste ich, wie nichts auf Erden dazu geschaffen, mich und mein Herz zu erheben. Ja, hoch das Herz, hoch die Herzen! Und man musste mir dazu nicht mit dem Paradies kommen, frei nach dem Spruch, wonach nichts sonst so sehr das Paradies verspräche wie der Duft von Moschus, die Schönheit der Frauen und die Frische der Augen im Gebet. Keinmal im Leben hat das schleierlose Gesicht einer Frau in mir so etwas wie ein Begehren geweckt, geschweige denn die sogenannte Geilheit. Geweckt hat mich solch ein offen und still sich zeigendes Gesicht von Zeit zu Zeit, ja, aber das war jedesmal eine heilige Zeit, ja, und geweckt hat es, ihr Antlitz, mich zu mir, ja. Weg mit all euch Verschleierten und Vermummten, um Gottes Willen.«

Hoffentlich liest das der Identitäre Sellner nicht, der kriegt das wieder in seinen falschen Hals. Er hat ja nur den einen.

Vor dem Zubettgehen noch die Matratze auf ihre Winterseite umgewendet. Dort klebt ein Etikett »Memory-Schaum, wohlig, anpassungsfähig, warm«.

16.11.

»Kabel überall!« Was wohl mit Packholz gemeint war?

Nachdem Die Obstdiebin in sämtlichen Buchhandlungen Moabits ausverkauft war, bekam ich in der verträumten Bücherstube am Moritzplatz noch ein, dort war es das einzige, Exemplar. Schon beim Titel, als ich den das erste Mal las in einer Rezension (schaue selten in Verlagsvorschauen) spürte ich Vorfreude (wie bei einer Postkarte, die zwischen den Prospekten im Briefkasten steckt). Als die Obstdiebin hatte Peter Handke schon einmal eine Figur bezeichnet, das war, auf die Zahl seiner seitdem erschienenen Bücher genommen, vor einer halben Ewigkeit im Bildverlust, dem Buch der großen Wanderung zu Fuß, dass ich damals, eigentlich hatte ich mir etwas auf der Documenta anschauen wollen, dort in Kassel an einem Tag und einem langen Abend in einem Café gelesen hatte. Die letzten Seiten aufgespart für die Heimfahrt mit dem letzten Zug nach Berlin.

Jetzt geht es weiter, es geht los. Gleich auf der ersten Seite geht es um einen Bienenstich in den Barfuß des Erzählers. Es ist spätes Frühjahr, früher Sommer, der Klee blüht und allein wie dazu die im Blau schmelzenden Wolken beschrieben werden, macht mich selig. Es kommt, nein, es ziehen vorbei links und rechts sämtliche Bilder, sie sind mir Begriffe geworden, die ich im Bildverlust kennen und lieben gelernt habe (weil sie mir den großen, den verzögerten Lesegenuss verheißen), und natürlich ist es so, dass Handke sie dort aufstellt in der erzählten Landschaft, um auf die lange perichoretisch gesinnt oder -stimmte Wanderung gefasst zu machen, die er beginnt.

»Nur Du und ich, wir beide. Heute Nacht.«

Draußen, der Garten ist mit Nebel gefüllt: tatsächlich das Geräusch fallender Blätter. Ich muss heute den Meisenknödel ausbringen. Auf der Verpackung steht Megameisenknödel. Was sich hoffentlich auf die Vögel bezieht, die damit angelockt werden können.

15.11.

Wobei es nicht allein die rosa Färbung ist. Nach Nase, Ohr, Augenpaar (braune Pupillen), Händen und Zunge, ist mit dem Gehirn ein erstes inneres Organ für die Zeichensprache zur Verfügung gestellt. Herzen gab es von Anfang an und in diversen Ausführungen in der symbolischen Form dargestellt. Ob Lunge (als Zeichen für Frische Luft oder Außer Puste), Nervenkostüm oder Magen demnächst nachgeladen werden, scheint mir unwahrscheinlich, ich frage mich, weshalb die primären Geschlechtsorgane von Frau und Mann, Vulva und Penis fehlen und weiterhin auch fehlen werden. Weder rosa gefärbt, noch in die Nuancen der Hautfarben verstellbar. Weil man sie nicht zeigen darf? Weil man sie nicht aussprechen darf, sozusagen; weil es tabuisierte Zeichen sind?

In seinen späten Schriften, ganz deutlich noch einmal in seinen Sexualitäten hat Volkmar Sigusch darauf hingewiesen, dass es in den westlichen Industrie-Nationen keine Entwicklung einer erotischen Kultur gibt. Das betrifft vor allem die Sprache, Sigusch führt das am Beispiel der Brustwarze aus. Nippel klingt kaum weniger abschreckend. Bei den Emojis greifen die User dementsprechend auf Tortilla und Aubergine zurück, beides wenig schmeichelhafte Analogien. Der Bedarf besteht, das ließ sich deutlich erkennen, als es noch diese Website gab, auf der mikrosekündlich sämtliche Zeichen auf einem Periodensystem der Emojis nach der Häufigkeit ihrer aktuellen Verwendung sortiert wurden. Da rangierten Tortilla und Aubergine stets beieinander und selten unterhalb der zweiten Zeile in der bunt blinkenden Matrix. Friederike findet, der ebenfalls neu hinzugekommene Igel zeige einen Anflug von Geilheit in seinem Gesicht. Ich finde das nicht, aber auch Geilheit fehlt bei den Emojis, wo es mittlerweile sogar ein Gesicht gibt, dem die Schädeldecke explodiert ist, woraufhin das freigelegte Gehirn sichtbar wird. Dort ist es bräunlich und gelblich, das Gesicht des Emojis unverstellbar gelb. Eventuell ist es auch kein Gehirn, das freigelegt wurde, sondern eine Art Atompilz. Ein anderes erbricht sich in einem grünen Schwall. Profanes scheint an sich kein Problem, der Kackhaufen mit Augen war eines der ersten Emojis überhaupt. Erhabenes aber dann auch wieder nicht, denn das gelbe Gesicht mit den Eyes Full of Love, als Symbol für den liebevollen Blick, gibt es ebenfalls schon seit einigen Generationen des Betriebssystems.

Kackhaufen und Aubergine: Wer legt das fest?

14.11.

Zwischen drei und fünf Uhr ist es komplett still. So still, dass ich das Rauschen eines weit entfernten Heizkörpers hören kann. Sonst nichts. Das andere Rauschen, das ich höre, wenn ich meinen Atem anhalte, ist mein eigenes Blut angeblich. Im Traum etwas Neues erfunden. Etwas kulinarisches, ein perfektes Produkt, vielleicht auch eine gute Geschäftsidee, aber sie wird sich nicht verwirklichen lassen. Obwohl im Traum alles fertig war und bereit, sogar das Personal. Besonderen Wert habe ich, das fand ich dann schon wieder weniger traurig, im Traum auf die Gestaltung der Verpackung gelegt. Die hält der Wirklichkeit stand.

Wobei ich neulich, gerade als ich wieder einmal im Stillen bei mir gedacht hatte, es gibt dann wohl leider nie mehr etwas Neues mehr, im Zufall ein kleines Café betrat, das es in der Woche zuvor noch nicht gegeben hatte, und dort gab es, groß angekündigt: Zuckerrohrsaft. Ganz köstlich. Der Mann dort nimmt einige der auf Unterarmlänge zurecht gesägten strohhaften Röhren und steckt sie in ein anscheinend eigens für diesen Zweck hergestelltes Gerät aus Portugal (oder Brasilien). In dem Gerät wird unter ziemlichem Getöse das Zuckerrohr in einen Wirbelwind aus Kieseln, Split, dann Sandkörnern verwandelt und aus der Schnaube rinnt derweil ein olivengrüner Saft über reichlich Eiswürfeln in ein Glas. Schmeckt wie die Flüssigkeit in einer Birnenkonserve. Von der Wirkung her aufputschend, dies aber sanft; nicht ganz so langanhaltend wie der grüne Matcha, da kann es ja rasch unangenehm werden. Ich fühlte mich jedenfalls angenehm beschert. Ungefähr so muss sich Ernst Jünger gefühlt haben, als man ihm in den siebziger Jahren tief im brasilianischen Wald die von ihm so bezeichnete Mangopflaume vorgesetzt hat.

Das war am selben Tag, als das Update auf iOS 11.1.1 mir 50 neue Emojis auf die Tastatur brachte. Und endlich wurde mir damit mein großer Wunsch erfüllt, weil es jetzt ein Gehirn gibt. Allerdings ist es rosa. Und man kann dies Rosa nicht, das finde ich nicht konsequent, anders als bei Händen, Gesichtern, ja sogar bei den Ohren und den Nasen kann man die Farbe des Symbols nicht in diversen Abstufungen von Dunkelbraun und Karamell über Lyonerfarben bis nach Gelb verstellen. Neu in der Sektion Nahrungsmittel: ein Brokkoli. Makkaroni fehlen noch.

Sankt Martin

Death of a diva: Der Kirschenbaum entledigt sich seiner letzten Blätter auf eine denkbar theatralische Weise. Ein Melodrama. Ich schaue ihm vom hinter den Scheiben dabei zu und es läuft Michelle Gurevich.

»I am a party girl. Look at me. I’m a natural.«

So ähnlich habe ich mir den Striptease-Akt vorgestellt, von dem Charles Aznavour singt, den damals, einst, Roberto Ohrt zu später Stunde. Am Ende steh’ ich völlig nackt. Es ist für mich entsetzlich lange her.

Heute teile ich meinen roten Mantel für all die, die nach dem Wissen von den Makkaroni dürsten.

Beispielsweise war ich einst, es ist noch nicht so lange her, zu Gast bei einem Greis, der wohnte Rive Gauche und gegenüber war das Grand Palais. Das konnte man von seinen Fenstern aus sehen, auch die Brücke davor. Es war um die Mittagsstunde, damals regnete es nicht. Ein in weißer Kellnerjacke auftretender Kellner hatte ein Büffet für zehn bis zwölf Skifahrer aufgebaut, wir, der Greis und ich, waren alleine zu zweit.

Der Greis, sein Name war Hubert, und er ist mittlerweile tot, hatte nach dem Ende des Weltkrieges eine Rezeptur für eine Gesichtscreme erfunden. Er war weder Chemiker noch Apotheker. »Der Kreative macht, was er kann. Das Genie, was von ihm verlangt wird.« Aus der Rezeptur war in den siebziger und sechziger Jahren ein Riesenunternehmen der Kosmetikindustrie gewachsen. Der Greis war unermesslich reich.

Von dem Büffet rührte er kaum eine der Schüsseln an. In einer winzigen Pfanne lag eine Schnecke aus Makkaroni, die zu einer den gesamten Boden des Pfännchens bedeckenden Spirale eingelegt worden waren. Dann in Butter gebraten und mit ein paar Flocken Butter bestreut. Der Nudelkuchen ließ sich, nun da die gartenschlauchhaft sich gebärdenden Makkaroni niedergehalten sich fanden, in Viertel zerteilen und somit leicht essen.

Schmeckte einfach nur wunderbar.

»Das hat er für mich erfunden«, rief der Greis von seinem Aussichtsplatz nahe der Fenster. Der Kellner der D’Ornanos verneigte sich still.

9.11.

Die Hecke zum Park ist durchlässig geworden. Abends sehe ich dort in Bodennähe blaue Lichter. Das sind die Jugendlichen mit ihren Telephonen. Sie schreiben Nachrichten und hören Musik. Mir fällt dann ein, wie ich als Kind, um diese Zeit vor dem Martinstag, im Dunkeln draußen durch die Straßen ging und immer gab es dort in jedem Haus, in jeder Wohnung noch einen Raum, der war vom bläulichen Flackern erfüllt. Weil sich Menschen vor dem Fernseher versammelt hatten, der, wie es hieß, lief. Das gibt es kaum noch. Und wenn ich es sehe, dann denke ich, hier wohnt ein alter Mensch.

Nachts wachte ich auf von einem grünlichen Schein, der sich über dem Boden ausgebreitet hatte wie schwebend. Der ging aus von den sechs Leuchtdioden am Router, die ähnlich den schwarzen Tasten einer Klavieroktave auf dem kleinen Kasten angeordnet sind. So dunkel war es draußen, dass dieses geringe Licht jetzt strahlend wirkte. Der Mond war nirgends zu sehen.

Von Jan erhielt ich Hinweis auf eine Nudelkritik. In der ersten Lieferung, ein Spiel, ging aus dem Textauszug nicht hervor, um wen es sich handelte, der da seine Makkaroni mit Käse derart missraten gefunden hatte. Anscheinend aber Ludwig van Beethoven. Es durchfuhr mich – zu Beethovens Zeiten sollte es schon Makkaroni gegeben haben? Die Erstausgabe dieser Biographie stammt aus dem Jahr 1860. Und zu der Zeit, von der die Anekdote berichtet, befand Beethoven sich in Wien, nicht in Bonn, was mich seltsamerweise etwas beruhigen konnte, aber nicht völlig. Die Herstellung von Makkaroni stelle ich mir auch unter heutigen Bedingungen nicht unproblematisch vor: Eine Maschine kann einen von Natur aus zähen und klebrigen Nudelteig zu langen und geraden Röhren formen, eine wie die andere. Und das erst von Hand! Wie kommt man bloß auf die Idee für eine solche Nudelform? Und das vor zwei, vielleicht schon dreihundert Jahren. Vor allem halt: warum. Es gibt keinerlei Vorteile für den Nudelfreund, die sich durch das Röhrenhafte ergeben. Meiner Ansicht und Erfahrung nach sogar im Gegenteil. Das Einschlürfen der Nudel wird dadurch noch weiter erschwert. Die, wie es bei den von mir geschätzten Spirelli heißt: Saucensüffigkeit ist nicht gegeben. Die aufgrund ihrer Röhrenhaftigkeit da noch am ehesten mit den Makkaroni vergleichbaren Penne lassen sich mit einem ins Loch eingefädelten Gabelzinken leicht aufnehmen; Makkaroni aber nicht. Und die sozusagen overblown Penne, die Canneloni, lassen sich füllen. Makkaroni nicht.

Arno Schmidt, das erfährt der Leser aus dem Prolog der ersten Szene von Julia, oder die Gemälde, aß sehr gerne Makkaroni mit Käse. Mir fallen immer nur noch mehr Anekdoten zu Makkaroni mit Käse ein.

7.11.

Beinahe vorwurfsvoll, aufrecht, wie innerlich versteift, so als wollte sie mir mit allem an ihr, mit ihrer Haltung sagen: Fass mich nicht an, steht die elektrische Zahnbürste nun wieder alleine an ihrem Platz. Alleine im Dunkeln. Blinkt trübe vor sich hin.

Vor ein paar Tagen noch, ich denke, es war der Donnerstag, da fuhr ich mit der Bahn durch den klirrend bunten Wald, das Herbstlicht zeigte schräg in die Bäume und das von Tau und Regen feuchte Laub leuchtete wie mundgeblasen. Das war der letzte schöne Tag. Den ich dann leider nicht im Wald verbrachte, und schon am nächsten Morgen fand ich mich umgeben von einem Spezialwetter, dem sogenannten Sprühregen, wahrlich etwas für Wettergourmets: Ich war von allen Seiten her eingehüllt von einem nicht sehr kalten Wasserdampf oder Dunst, ähnlich der Gischt, aber sanfter. Eigentlich tropisch von der Feuchtigkeit her. Aber unter der Brücke lag schwarz und still die Spree.

Gestern dann, am späten Nachmittag, der Herbst hat seine Methoden, um mich einzufangen, gab es kurz vor dem Einbruch der Dämmerung eine Lichtstimmung, in der die Fassaden golden wurden, besonders wärmend schien mir der Backstein am Kirchturm und darüber, wie eingefroren über allem, standen braune Kokons in Folie gewickelt.

Wer auch immer die Wolken mit Träumen verglichen hat; so sind Träume halt genau nicht.

Dass ich das Bild des Waldes am letzten schönen Tag zwar beschreiben kann, aber dabei nicht mehr sehen, auch nicht vor mir, wie es heißt, wundert mich.

5.11.

Wund – müde auch. Innerlich kaputtgearbeitet. Die vergangenen Tage, gering an der Zahl, waren hart.

In dem Bürogebäude, in dem sich die Redaktion befindet, ist vor kurzem eine Firma namens Violence Prevention Network eingezogen. Eines Morgens traf ich vor dem Aufzug eine junge Frau. Wir bestiegen die Kabine gemeinsam. Ich fragte, welchen Stockwerksknopf ich für sie drücken darf. Von ihrem Haltewunsch konnte ich darauf schließen, dass diese Frau eben dort, beim Violence Prevention Network, beschäftigt ist. Ich fragte, was diese Firma macht. Sie sagte, man kümmere sich dort um Jugendliche, die in Gefahr stünden sich zu radikalisieren. Und dann hielt der Fahrstuhl, sie ging einfach hinaus und sagte: »Einfach mal googeln.«

In der Zeitung lässt Claudius heute auf der ersten Seite des Feuilletons die englische Übersetzung von Irre abdrucken, die nun, 34 Jahre nach der deutschen Erstausgabe, erscheint. Ich frage mich, ob ich vielleicht noch dreißig Jahre mich gedulden muss, bis Untitled für den Rest der Welt zugänglich gemacht wird. Ein bisschen seltsam ist es ja schon, wenn ich mich mit Leuten stundenlang auf Englisch über alles mögliche unterhalten habe. Und sie mich dann immer, beinahe immer fragen, ob sie etwas von mir zu lesen haben könnten, bitte. Und ich dann immer sagen muss: »Leider nein.«

Reformation

Enter Sandman. Und die Welt zählt laut bis zehn.

Von der indischen Küche liebe ich insbesonders die Salate und dies, freilich, vor alledem weil die indische Küche gerade nicht für ihre Salate berühmt ist. Der Kapitalismus hat uns jetzt bis in die Fasern durchdrungen. In dem indischen Restaurant auf der Königsallee begrüßt man mich freudig, herzlich, ich bekomme zu dem Salat eines der Aufblasbrote, ein Bhatura, geschenkt mit der Begründung, dass man sich freue, mich wiederzusehen. Im Effekt hat der Kapitalismus also vor allem Freudlosigkeit produziert, denn ich kann mich über den Willkommenssegen nicht freuen, nicht wirklich, weil ich ja weiß, dass sich diese Inder vor allem über das Geld freuen werden, dass ich ihnen hinterlasse.

Gestern dann zum ersten Mal seit langem auch wieder in Kreuzberg gewesen, um mit Hendrik ein paar Dinge zu besprechen. Am Görlitzer Bahnhof ausgestiegen und es geht dort ja mittlerweile zu wie ich weiß gar nicht wo sonstwo – ich stieg aus dem gelben Waggon und fand mich sofort umringt von den dunklen Gestalten, die Hiphop-Gesten machten und mir ins Gesicht sagten »Gras?«

Was macht man da, als Fledermaus? Wie erwidert man diese Signale? Wird jedenfalls Zeit, dass die Legalisierung endlich kommt. Hendrik meinte, dass es an der Warschauer Straße noch etwas drangsalierender zur Sache geht. Falls.

Snack dann im Imren, wo es ein sehr großes Aquarium gibt, vor dem ich sehr gerne sitze, während ich allein mein Brot wie es heißt: zu mir nehme. Das Aquarium, es leuchtet bläulich wie ein Telefon, enthält nur einen einzigen Fisch. Er ist sehr klein. Ein Clownsfisch, und Kinder stehen gern davor, weil sie diesen Fisch ja aus den Filmen kennen. Sie rufen »Nemo«. Die Kinder sind natürlich auch erstaunt, dass ein Clownsfisch in Wirklichkeit ganz klein ist. Im TV kommt er ihnen sehr viel größer vor.

In der schönen Bar mit dem unschönen Namen brannten Kerzen aus schwarz gefärbtem Wachs. Später kam noch Adriano dazu, was schön war, wir hatten uns ewig nicht mehr gesehen. Wie lange wir uns nun schon kennen? Wahnsinn eigentlich: Es sind weit mehr als 22 Jahre. Gespräche mit Demna und später auch mit Lieselotte über die sogenannte Fashion. Es gibt wohl niemanden mehr, der noch an irgendetwas glaubt.

Auf dem Heimweg schaute ich lang, sehr lange aus dem Fenster und da ging über der Stadt bereits die Sonne auf. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Tagebuch im nächsten Jahr »Strahlungen« nennen soll, oder »Arbeit und Struktur«.

29.10.

In der Nacht mehrfach vom Sturm geweckt worden, gewaltiges Dröhnen aus einem langen, gebogenen Rohr. Der See ist grau und treibt schäumend weiße Wellen in die kleine Bucht am Jadebusen. Ein Anblick wie das Gemälde von August Strindberg mit dem Titel Inferno, das trotz seiner geringen Abmessungen, selbst noch auf Briefmarkengröße, als Thumbnail, gewaltig auf mich wirkt.

In der Neuen Zürcher Zeitung wurden die auf der New Yorker Tefaf gezeigten Kunstwerke als langsam bezeichnet. Ein trotz aller Schweizer Bizarrerien merkwürdig treffender Begriff. Im Rahmen der Vorberichterstattung wurde ein Gemälde von Louis Maurice Boutet de Monvel beschrieben, La Dame Blanche, das wohl auschließlich in Nuancen von Weiß gemalt wurde. Der Artikel erschien ohne Bebilderung im Blatt. Auch auf der Website der Kunstmesse wird dieses Gemälde zwar beschrieben, aber es fehlt die zu der Beschreibung gehörende Bilddatei. Eine Bildersuche bei Google fördert unterschiedliche Abbildungen von Gemälden aus dem Internet hervor, darauf sind überwiegend in Weiß gekleidete Frauenfiguren zu erkennen, aber dieses eine, bestimmte Bild wird nicht aufgespürt. Je weiter ich in diesem unendlichen Strom von Bildern nach unten scrolle, desto abstrakter sind die Lieferungen zusammengestellt. Es sind dann nicht mehr bloß Frauen in Weiß zu sehen, sondern auch Armbanduhren und eine Tischlampe. Doch werden alle diese Bildersuchergebnisse unter meinem ursprünglich eingegebenen Suchbegriff subsummiert. Google sucht hier nicht mehr zu dem Begriff zugehöriges, die Maschine stellt die Ergebnisse nach ästhetischen Gemeinsamkeiten zusammen, analysiert Formen und Farbwerte nach Ähnlichkeit.

Diese neue Funktion von Google, die mir in Paris im europäischen Headquarter vorgestellt wurde im Rahmen einer Party, die dort von der Oligarchentochter Mira Duma sozusagen geschmissen wurde, sorgt dafür, dass es keine ergebnislose Bildersuche mehr geben kann. Wird die spezielle Datei nicht gefunden, organisiert der Algorithmus einen unendlichen Strom aus Ähnlichem, in dem der Suchende sich verlieren kann. Eine dazugehörige App mit dem Symbol eines antiken Tempels soll, deshalb wurde diese Anwendung während der Pariser Modewoche vorgestellt, insbesondere Kreative ansprechen. Mir wurde das erklärt von einer jungen Frau aus Dänemark, die Google-Mitarbeiterin ist. Sie erläuterte mir die endlos inspirierende Wirkung dieser App an dem Beispiel, dass ein Modedesigner auf der Suche nach einer Idee zum Beispiel gelbe Hose eingibt und schon färbt sich das Ergebnisfenster in eine gelbe Mannigfaltigkeit von tausenden Bildern, auf denen etwas gelblich scheint, oder hosenförmig. Da kann er scrollen soviel er will, die Bilder quellen unerschöpflich nach. Gefällt ihm Gelb dann doch nicht mehr so gut, kann er in der beigefügten Farbleiste auf einen anderen Ton umschalten. Und schon sortiert sich der Bilderstrom auf ein Neues, dieses Mal etwa bläulich, oder ganz so, wie er sich das wünscht.

28.10.

Gelockt von Sein und Greis, einer apokryphen Schrift aus einer obskuren Heidegger-Ausgabe, betritt der namenlose Ich-Erzähler das Antiquariat einer Ortschaft in Cornwall. Es handelt sich offenbar um ein auf deutschsprachige Bücher spezialisiertes Geschäft. Vom Buchhändler selbst ist nichts zu sehen. Am hinteren Teil des zu beiden Seiten von Regalen flankierten Raumes ist ein Durchgang zu einem Hinterzimmer mit einem Samtvorhang im typischen Dunkelrot abgeteilt. Von dort, aus dem nicht einsehbaren Teil, sind Schlürfgeräusche zu hören. Jemand trinkt Tee.

Bei näherem Hinsehen stellen sich sämtliche der Bücher in den Regalen als ihm unbekannt heraus. Waren sie beim flüchtigen Scannen der Buchrücken noch vertraut erschienen, so stehen dort in Wahrheit nebeneinander sortiert Greis und Frieden, Der Greis ohne Eigenschaften, Greis und Vorurteil, Fasergreis und Der Greis im Roggen, sowie Die Greisenharfe, Der Greis erscheint im Holozän, Der englische Greis, Ein Greis wird älter, Auf der Suche nach dem verlorenen Greis in drei sehr schönen, lilafarbenen Bänden sowie ein Folioformat im Kartonschuber Greis mit Goldrand, für die Kleinen Puh der Greis und Unter Greisen, dann natürlich Die unerträgliche Leichtigkeit des Greises und Die Liebe in den Zeiten des Greises, Greisendämmerung, Mein Jahr in der Greisenbucht und viele, viele Paraklassiker mehr.

»Und«, fragte er den Buchhändler, der sich nun nicht mehr schlürfend, dafür halt schlurfend an seinen Platz hinter dem Verkaufstischchen verfügt hatte, um dort und unter Mithilfe seiner abschließbaren Blechschatulle die zu erwartenden Käufe abzuwickeln: »Haben Sie auch den Kaukasischen Kreidegreis von Bertolt Brecht?«

»Nein«, erwiderte der Antiquar. »Kenne ich auch gar nicht. Hier, das lesen die Leute gern: Der Zaubergreis

»Und das hier: Unterm Greis – von Malcolm Lowry, nehme ich an?«

Mit auf die Nasenspitze heruntergezogener Brille schaute ihn der Höker kopfschüttelnd an: »Von Hesse. Malcolm Lowry hat Unter dem Greis geschrieben. Kennen Sie das etwa nicht?«

27.10.

Gestern wurde ich zum ersten Mal mit Diedrich Diederichsen verwechselt. Das war in einem Lokal mit dem Namen Walhalla, in das ich mit Adson, dem Novizen, eingekehrt war. Man sitzt dort an einem langen Tisch, es gibt nur den einen, zusammen mit den anderen Gästen und trinkt Biere. Wir unterhielten uns über Quasi-Monopole und über einen auffällig bunt lackierten Sportwagen von BMW, ein sogenanntes Art Car, das wir auf dem Weg ins Walhalla am Straßenrand vor der ehemaligen Milchfabrik Bolle hatten parken gesehen, weil dort, in der ehemaligen Milchfabrik, der vom Burda-Verlag veranstaltete Digital Life Day abgehalten wurde. Der Novize fragte mich, ob sich dieses Art Car im Licht des digitalen Zeitalters als dreidimensionales GIF verstehen ließe. Ich hatte gerade den Zeigefinger erhoben, um ihm zum einen anzuzeigen, dass er sich da auf einer meines Dafürhaltens nach heißen Spur befand, andererseits aber auch aus einem ganz praktischen Grund, nämlich um noch zwei Biere zu bestellen. Da sagte der uns gegenübersitzende Greis ganz laut und deutlich: »Er erinnert mich an Diedrich Diederichsen«.

Sein Tischgenosse, nur wenig jünger, hatte genickt. Noch immer schauten mich die beiden an – wie ein Fernsehbild. Als liefe dort die Trauerprozession für den thailändischen König Bhumibol.

Ich bat um eine Erklärung. »Na ja, das ist doch klar, dieses gewollt lange Haar, dieser Bart.« »Die Brille vor allem«, gab der andere zu bedenken, der bis dahin geschwiegen hatte, nur geschaut. »Ja, die Brille«, sagte der Greis. »Die vor allem.« Und dann, noch einmal, wie nach längerem Nachdenken: »Die Brille«.

Meines Wissens nach trägt Diedrich Diederichsen gar keinen Bart. Ich übrigens auch nicht. Wenn ich – oder Diederichsen – als Bartträger bezeichnet würden, dann müsste auch Christian Lindner beispielsweise als Bärtiger charakterisiert werden. Wird er aber nicht. Und seltsamerweise war es mir in diesem Augenblick nicht vorstellbar, dass ich noch eine Ära erleben würde, in der Männer wie Diederichsen oder Lindner als Bärtige charakterisiert werden.

Den ausgezeichneten Bilderwitz von Rattelschneck über den Miniatursetzkasten aus abgebrochenen Streichhölzern in Diedrich Diederichsens Ohr in der Wochenendsausgabe der Süddeutschen Zeitung hatten die Greise, von denen der jüngere der beiden als Violinist bei den Kölner Philharmonikern arbeitete, auch nicht mitbekommen. Ich musste gleich wieder sehr lachen, auch laut, als ich ihn versuchte wiederzugeben, beschreibenderweise. Der Initiativgreis behauptete, er sei Privatier. Nur aus Langeweile betreibe er in Berlin, auch er vom Ursprung her ein Kölner, eine Schule für Köbise. Lauernd, beinahe listig forderte er meinen Novizen heraus: »Wissen Sie denn überhaupt, warum der Köbes so heißt, wie er heißt?«

Doch hatte er sich da verschätzt, denn freilich konnte Adson die komplette Herleitung samt Jakobsweg herunterbeten. Daraufhin sah sich der Greis, die beiden tranken freilich Kölsch und zwar vom Brauhaus Früh, herausgefordert, uns seine Kompetenz in Sachen Diedrich Diederichsen vorzuweisen. Es handelte sich bei ihm tatsächlich um den Bruder des früh verstorbenen Gründers der Zeitschrift Spex.

Am Morgen dann rosenfarbenes Licht für wenige Minuten. Vor dem Haus war der gesamte Boden gescheckt mit welken Blättern. Dazwischen lagen, vom Dagegengetretenwerden halbiert, hell die Pilze herum.

25.10.

Alkopolis, die Stadt der Abgetauchten, empfing mich mit dem hier üblichen Hauch. Sie saßen dort beisammen in einem von mir insgeheim auf Souterrain getauften Café, den Namen hatte ich von Clemens Setz. 

Sie saßen dort und redeten von Orten. Anderen natürlich. Es ging um Distinktionsgewinn. Und ich, ich dachte, es ist doch gar nicht schwer in dieser Stadt, beispielsweise lade ich dann in ein griechisches Restaurant. Ich sage: »Kommt mit, ich kenne einen Griechen«, das sorgt verlässlich für Distinktionsgewinn, denn griechische Restaurants sind mittlerweile so gut wie ausgestorben. Einst war es noch ganz bis sehr üblich – man bedenke die Lindenstraße –, doch »Zum Griechen«, heute, jetzt, im Berlin des 21. Jahrhunderts? 

Es war gerade kurz vor 18 Uhr und bereits stockdunkel. Nachtkrabbenschwarz war es dort draußen vor dem großen Fenster an jener Straßenkreuzung, an deren Rändern in der lichten Jahreszeit die Kirschenbäume blühen. Auf meinem Weg war ich am blöden Kollwitzplatz an einem neu eröffneten Geschäft vorbeigekommen, das den Namen Spooning hatte. Klingt ja an und für sich und zunächst angenehm, aber dann fand ich heraus, dass die Geschäftsidee darin besteht, dass man dort mit tiefen Löffeln aus eiscremehaften Wannen heraus diverse Mischungen ungebackenen Kuchenteigs essen darf. Es hatte sich eine kleine Warteschlange vor dem Tresen gebildet. Und mir fiel, perplex ist ja ein schönes Wort, und der vordere Teil des Löffels heißt Laffe, schlagartig ein, dass mit der frühen Dunkelheit nun auch die anstrengende Vorweihnachtszeit ins Land ziehen wird. Wehmut beschlich mich lautlos und von hinten; schob mich sanfterweise fort.

Distinktionsgewinn durch Regression – möglich? Wenn nein, wie heißt das Gegenteil? Die Sprache des Vierten Reiches: Spooning, The Empire of Schlürf.

Mit meinem neuen Shampoo bin ich unzufrieden. Mein Haar hängt kraftlos herunter, es schaut auch so aus, als sei es weniger geworden von seiner Gesamtfülle her. Insgesamt eine Strukturkrise. Dabei habe ich die Flasche ausgewählt, gerade weil auf deren Etikett hervorgehoben wurde, dass dieses Shampoo für kraftloses, ausfallendes Haar entwickelt ward. Als sei ich nicht gewarnt worden!

24.10.

Über dem Frankfurter Hauptbahnhof kreist ein Strudel von Krähen. Ein Hochhaus, der Turm von Price Waterhouse Cooper steckt ab der Hälfte im Nebel, man sieht seine Spitze nicht. Dass der sichtbare Teil in etwa der Hälfte des Gebäudes entspricht, weiß ich aus Erfahrung. Eigentlich sieht es momentan so aus, als könnte es dort in der vom Nebel verhüllten Zone noch ewig nach oben hinaus weitergehen.

Beinahe eine volle Woche auf Reisen geht mit dieser Heimfahrt zuende. Mal war ich in Flugzeugen, mal in Zügen, dazwischen in Bussen und U-Bahnwaggons, auch wenige Male auf dem Rücksitz oder, wie es einst so schön hieß: im Fond des einen oder anderen Taxis unterwegs. Auf einem Fahrrad hingegen oder gar selbst am Steuer? Kein einziges Mal. Dafür aber viel zu Fuß. Gemessen, präzise, habe ich die Strecken zwar nicht, aber innerlich und von daher irgendwie schon (anhand, beziehungsweise -fuß des Gefühles, wenn ich spät abends dann endlich lag und dem lauschte, empfindungsmäßig, was meine Sohlen noch von sich gaben an Widerhall vom über Asphalt und Teppich, Parkett, Kopfstein und federnden Brückenbelägen, Stufen aus gerilltem Holz und solchen aus glitschig abgetretenen Platten zurückgelegten des Tages.)

Allmählich kam dann, so in etwa ab dem Sonntagmorgen, auch der Widerhall des Erlebten zu Wort, mischte sich ein und stellte so Verbindungen her zwischen dem, was ich gerade sah und hörte, und dem, was ich vor drei, zwei Tagen oder gestern erst gesehen und gehört hatte. Angeblich – zumindest war mir danach und wird von daher wohl auch so gewesen sein. 

Als wir im Zelt an der Rennbahn von Frauenfeld saßen, ein Herrenchor stimmte die Thurgauer Hymne an und einen Tisch weiter war der Bundesratspräsident der Schweiz aufgestanden, um diesem Lied seine Ehre zu erbieten, da dachte ich im Stillen an den vorangegangenen Samstagabend in Frankfurt, als wir im Bahnhofsviertel zu Gast waren bei den Brüdern Arbogast und bei Yossi Elad, der dort in einem improvisierten Restaurant im ersten Stock über der Münchner Straße für etwa hundert Menschen gekocht hatte (man bekam ganz viele kleine Tonschälchen hintereinander serviert, alles war koscher zubereitet, das schmeckt man aber nicht heraus), und schon nach dem zweiten Schälchen sprangen immer wieder Männer auf und dann auch ihre Frauen, um zu der Musik zu tanzen, zu jubeln, am Schluss wurden Teller zerschmissen, ganz feierlich. Ein herrlicher Abend mit vielen Umarmungen und ganz und gar nicht ein Restaurantbesuch, eher, viel eher, die Vereinnahmung eines Restaurants durch die Gäste und umgekehrt (in beiderseitigem Einverständnis, wollüstig, wodurch es schön ward.)

Dies eingedenk, dann die gedämpfte Feierlichkeit der Thurgauer bei ihrem Rennfest, wo es Butterspätzli gab mit einem ausgezeichneten Rindsgulasch und einem beinahe noch besseren Kotelett. Sie haben ja keine Adeligen dort in der Schweiz, offiziell, aber durch das Geld und die Familiengeschichten hat sich halt dann doch so etwas ähnliches herausgebildet (unausgesprochen). Den Bundesratspräsidenten hätte man da nicht unterscheiden können von seiner Kleidung her oder von der Art seines Auftretens, wenn der nicht in Begleitung eines sogenannten Weibis erschienen wäre. Also einer ziemlich kräftig gebauten Dame in einer grünlichen Uniform mit reich verzierten Epauletten, die auf dem von den blonden Locken umflorten Haupt einen dieser schwarzen Hüte trug, wie man ihn von der Form her nur von Napoleon kennt. Also von Zeichnungen und Stichen und Gemälden. Definitiv ein ultraklassisches Modell. Die oder das Weibi freilich unbewaffnet. Die pure Repräsentation. Comme des japonais

Abends dann lange Gespräche mit unserer Gastgeberin Simona über eben diese Unterschiede: kulturell, somit gesellschaftspolitisch, zwischen Deutschen und Schweizern. Im Prinzip scheint es unvereinbar. Trotz der sogenannten Nachbarschaft von den geografischen Landesgrenzen her, sind wir ziemlich sehr weit voneinander entfernt.

Zwei verschiedene Paar Stiefel, wie mein Vater zu sagen pflegt. Das Pflegen ist wichtig, denn er denkt dabei mitnichten an die Stiefelpaare zweier Armeen, die aufeinander zuzumarschieren befohlen sind, sondern an Stiefel aus unterschiedlichem Material, Leder mit unterschiedlichen Ansprüchen, für die er jeweils geeignete Bürsten heraussuchen muss aus seinem Arsenal.

22.10.

»Manchmal passiert auch ein paar Tage gar nichts«, so soll Peter Handke sein Leben als Tagebuchschreiber zusammengefasst haben. Zumindest stand das so in der Zeitung. In mittelalterlichen Erzählungen gibt es den Kunstgriff, dass tagelang nicht Erzählenswertes passiert. Steht dann aber freilich trotzdem da, wird sozusagen nicht unerwähnt gelassen. Das Nichterzählte scheint qualitativ unterschiedlich vom etwa Verschwiegenen. Das Nichterzählte bleibt liegengelassen. Aber nicht achtlos, sondern, im Gegenteil: nach eingehender Prüfung.

Grenzübertritt bei Basel gegen elf Uhr am Morgen in einem menschenleeren Eurocity-Express. Die Fahrt geht weiter nach Zürich, wo wir zu einem Galopprennen eingeladen sind. Also nicht als Teilnehmer. Ich mache mir nichts aus Pferdesport – glaube ich. Ich war noch nie auf einer Pferderennbahn. Am ersten Bahnhof füllt sich unser Waggon mit den Menschen, Schweizern, die viel miteinander reden, in Zeitungen lesen und vereinzelt sogar streiten. Das Wetter ist nicht gut. Wie es scheint, hat es seit Tagen viel geregnet und es geht wohl bald schon wieder los damit. Der Mischwald hat teilweise schöne Laubfarben. In den Dörfern ist nirgendwo auch nur irgendeiner zu sehen.

Nicht unerwähnt bleiben soll mein Besuch in einer Kofferfabrik. Ist auch schon wieder beinahe eine Woche her. Die Koffer werden in einem Fabrikgebäude produziert, das von seiner Architektur her so gestaltet ist, dass es genau so aussieht wie die Koffer, die im Inneren des kofferförmigen Hauses hergestellt werden. Bloß in größer. Beziehungsweise sind die Koffer halt kleiner als das sie umgebende Haus. Was mich dort aber viel mehr beeindruckt haben wird, das waren die Roboter, die Koffer zusammenbauen. Es sind eiserne Tentakel, orangefarben lackiert. Von der Grundausstattung sind sie alle vom gleichen Typ. Bloß hat dann ein jeder von ihnen andere Spezialwerkzeuge auf seine Tentakelspitze montiert. Der eine kann die Alubleche damit lochen, der andere schweißt mit blauem Lichtblitz etwas dran.

Stundenlang hätte ich den Maschinen bei ihrem ermüdungsfreien Ballett zuschauen wollen. Es war dort wie in einem begehbaren Björk-Video. Der Vorarbeiter, ein leitender Ingenieur, sagte mir, man könnte sie theoretisch Tag und Nacht und das über Jahrzehnte hinweg laufen lassen. Es gibt kaum Verschleiß.

Aktuell sind die Fragen freilich profaner Natur. Woraus beispielsweise wird der Holzmilchkäse gemacht, für den hier plakateweise geworben wird – aus einer Milch von Kühen, die mit Holz gefüttert werden?

20.10.

Freunde in anderen Städten zu haben, ist wunderbar. Aber diese Freundschaften wollen gepflegt werden. Und so strebte ich nach einem frühen Mittagessen im Bistrot de Paris über die Brücke zum rechten Ufer der Seine und dort zum Opernplatz, wo, exakt wie vor zwei Wochen, der kleine Hase Pinocchio mit seinem Herrn auf dem Trottoir saß. Beziehungsweise lag, das Häslein schlief, wie mir sein einbeiniger Herr mit der traditionellen Geste seines vertikal über beide Lippen angelegten Zeigefinger bedeutete. Ich breitete meine Gaben aus. Und kaum hatte Pinocchio den Petersilienstrauß gewittert, richtete er sich auf und, als ob er mich wiedererkennen könnte, knabberte am Wildleder meines Schuhs. Eine vertrauliche Geste, da bin ich mir sicher. Die goldenen Figuren auf dem Opernhaus.

Das Wetter in Paris war gestern außerordentlich schön: sonnig, warm und dazu ging den ganzen Tag ein kräftiger Wind. Im Bistrot, wo Zeit seines Lebens Serge Gainsbourg zu Mittag aß, der sich bei Cartier einen Judenstern aus Titan hatte anfertigen lassen, den er als kleinen feinen Orden für seine überstandenen Jugendjahre im von den Nazis besetzten Paris ans Revers geheftet trug, aß ich ein Pfeffersteak, dazu den erfrischenden Endiviensalat und eine kleine Flasche Château Palmer. Von dem Salat ließ ich mir einpacken. Für meinen französischen Freund.

Beim Sonnenuntergang zeigte sich die in der Presse versprochenen Farben, die tatsächlich außergewöhnlich waren, denn der kräftige Wind bringt dieser Tage sowohl Flugasche von den Waldbränden in Portugal, als auch Wüstenstaub aus der Sahara in die Atmosphäre über der Zentralregion. Beiden Stäuben ist angeblich zu eigen, dass sie das Blauspektrum des Sonnenlichtes durch Einsprengselung verzerren, wodurch die rötlichen Töne hervorgehoben erscheinen.

Der Pilot flog eine genüssliche Schleife über die Stadt, die da schon im Dunkeln lag, so dass es für mich so aussah, als sei die schwarze Kruste des Planeten geplatzt und hätte dort ein Craquelé von Rissen bekommen, durch die ich auf ein unterirdisches, geheimes Meer aus goldenem Licht schauen durfte. Einsam stand dort der Eiffelturm. Und was ich nicht wusste: Der Scheinwerfer an seiner Spitze, er dreht sich und wirft einen Strahl ringsum nach Art eines Leuchtturmes. Warnend wie wachsam zugleich.

17.10.

Peter Marino schickt Honig. Wir hatten in Paris auch über seine Bienenvölker gesprochen. Er hält sie auf seinem Landsitz in Long Island, die Stöcke sind dort unter den Bäumen der Pfirsichplantage aufgestellt. Im August konnte er sieben Liter Honig ernten. Das Glas hat ein von ihm gestaltetes Etikett, das Logo zeigt ein Piktogramm seines Gesichtes in voller Montur (er läuft ja in schwarzer Motorradkleidung herum, mit verspiegelter Sonnenbrille und lederner Kapitänsmütze.) Der Deckel ist, wie bei den teureren Marmeladensorten und denen von meiner Mutter, von einem gefälteten Papierhäubchen bedeckt. Ich nehme eine Kostprobe zum Kaffee, während beim Nachbarn schon der Laubsauger saugt; eventuell handelt es sich auch um einen Laubbläser, der bläst: fein und süß – und mir noch zu flüssig. Aber passend freilich zum penibel gemalten Anblick des gegenüberliegenden Seeufers. Hinter dem Fries der Masten zeigen sich goldene Fassaden unter spitzen Giebeln. Quakend fliegt eine V-Formation durch das Bild.

16.10.

Ich sah den Sommer vergehen in einer einzelnen Wespe, die gerade noch Halt gefunden hatte auf der schmalen Leiste des Geländers. Es war Sonntag, Nachmittag, der Himmel war blau. Wie atemlos, erschöpft lag die Spindel tief auf ihren zuckenden Beinen. Die Flügel eingefaltet. 

In dieser Form erstarrt, liegend im Sitzen, waren von ihrem Dasein die Farben geblieben. Gelb wie das Herbstlaub ringsum, weiter unten an den Bäumen, auf der Rasenfläche leuchtend im Hof, einem Abgrund, in den die Wespe von ihrem letzten Landeplatz auf dem Balkongeländer geweht werden würde vom abendlichen Hauch.

14.10.

Auf dem alljährlichen Empfang der Redaktion der Zeitschrift Titanic, der in dem direkt an das Ufer des Mains gebauten Vereinsheim eines Ruderklubs stattfand, kam es im weiteren Verlauf des Abends zu einer überraschenden Begegnung mit zwei Männern, die mir seit Jahresbeginn auf seltsame Weise vertraut geworden waren, dies aber nur anscheinend, denn, wie es heißt, in persona waren wir uns bis dahin noch nie begegnet, auch war es mir bis gestern hin und wieder fraglich erschienen, ob es sich bei diesen mir durch ihre Texte vertraut gemachten Autoren überhaupt um Personen handelte, oder vielleicht auch nur um zwei Pseudonyme ein und derselben schreibenden Person.

Das Heim des Ruderklubs war als Gebäude selbst wie ein Schiff gestaltet, mit einem langen Fensterband, durch das die hinter dem schwarzen Wasser aufragenden Türme schön zu betrachten waren. Das gute Wetter des Samstags ließ sich schon mit warmen Nachtwinden ankündigen, als ich auf die als Achterdeck konstruierte Terrasse trat. Dort sprach mich ein Mann mit meinem Namen an. Und stellte sich mir vor mit »Ich bin Dax Werner.« Ein anderer behauptete »Und ich bin Startup Claus.« Ich zögerte, schließlich befanden wir uns auf der Feier eines Satiremagazins. Schon am Buffet war ich ja auf einen Scherz hereingefallen, denn was ich für eine Kaltschale aus geachtelten Erdbeeren hielt, hatte sich in meinem Mund als löffelweise Knoblauchzehen entlarvt, die in einen rosenfarbigen Sud eingelegt worden waren.

Auch die angeblichen Twitterstars Startup Claus und Dax Werner sahen komplett anders aus, als ich sie mir manchmal vorgestellt hatte. Ihre Accounts und ihre Texte hatte ich im Februar zufällig entdeckt, im weiteren Verlauf des Jahres hatte sich aus dem einst obskuren Phänomen dann rasch ein die deutschsprachige Szene des sogenannten Kurznachrichtendienstes dominierende Kultur entwickelt, das sogenannte Gründertwitter. Der Avatar von Dax Werner zeigte von Anfang an das rötlich gegerbte Gesicht eines Mannes von jenem Schlage, wie man sie in Berlin noch rudelweise im Bistro Floh oder vor der Fischerhütte am Schlachtensee in bunten Hosen antreffen kann. Altgediente Unternehmer im ewigen Vorruhestand, die einer durch Michael Cretu bekannt gemachten Vorliebe für extravagante Brillengestelle fröhnen. Startup Claus hingegen zeigte seinen Postings zugeordnet stets das Bild eines schon leicht magenkranken Vertrieblers, der, wo Dax Werner ein keckes Hütchen mit dem Markenzeichen von Gatorade trägt, sein Haupt mit einem Indianerschmuck umkränzt.

So etwas prägt sich, ob man nun will oder nicht, ein. Phänomene der Neuroplastizität hatten dafür gesorgt, dass ich aus diesen Gesichtsbildern und den angeblich dazugehörigen Äußerungen dieser künstlichen Persönlichkeiten eben dies konstruiert hatte: Identität. Wie sich jetzt gestern herausgestellt hat, gibt es immerhin zwei Personen, die sich eindeutig zu jeweils einem dieser Namen zuordnen lassen. Aber natürlich sehen sie nicht nur nicht so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte, sie denken auch ganz andere Gedanken, sprechen mit anderen Stimmen als gedacht. Arno Schmidt hat ja, auf sich bezogen, davon abgeraten, den Autor kennenlernen zu wollen. Er bezeichnete sich im Vergleich zu seinem Werk als »den defekten Rest«. Bei Werner und Claus verhält es sich erfreulicherweise genau umgekehrt.

13.10.

Herrlicher Abend im etwas abgelegenen Schloß von Renate von Metzler. Am Mittwoch, zu Beginn jener Nacht, in deren weiterem Verlauf in Frankfurt der Goetheturm abbrennen sollte, was ich als Nichtfrankfurter übrigens nicht ganz so schade fand wie die Frankfurter, denn der Goetheturm war doch im Grunde ein nur wenig schönes Holzgerüst.

In den das Schloß umgebenden Straßen war es bereits dunkel, so dunkel, wie es halt auf dem Land abends wird. In der Ferne blinkten zwei rote Lichter am Nachthimmel: Dort flogen wohl Flugzeuge über den Türmen der Stadt. Im Schloß selbst waren die Wände in diesen altertümlichen Pastellfarben verziert, mit aufgemalten Blumensträußen und Schäferszenen und all dem. Die Gastgeberin stellt in ihrer Begrüßungsansprache die in diesem Jahr neu hinzugekommenen Gäste vor, es sind vergleichsweise wenige, hier trifft sich die Gelehrtenrepublik. In Berlin wäre eine solche Einladung undenkbar. Ich wüsste auch gar nicht, wer in Berlin über ein Schloß verfügt. Vor allem müsste man die meisten dieser Gäste eigens einfliegen. Hier in Frankfurt reisen sie aus ihren Wohnungen an. Bis auf Robert Menasse, der gerade mit dem Buchpreis ausgezeichnet worden war, und dementsprechend in Feierlaune, die sich zu späterer Stunde vor allem auch in einer detaillierten Kritik des zeitgenössischen Regietheaters äußern sollte – ein Klassiker, man kennt die Argumente zwar zur Genüge, aber wenn ein Österreicher sie vorträgt, werden sie halt sozusagen von sich aus noch einmal ganz anders interessant. Unter anderem weil Österreicher ja so wunderbar imitieren können, das ist vermutlich genetisch bei denen, oder es wird zur Matura gelehrt. Jedenfalls imitierte Robert Menasse dann lange und intensiv einen mir unbekannten Schauspieler der sogenannten Burg, der angeblich Oskar Werner hieß und wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten tot ist, aber der, wie Menasse vormachte, seine rechte Augenbraue ganz wunderbar anheben konnte, um damit bis in die dritte Logenreihe hinauf für Entzückung zu sorgen.

Gut, aber wann versammelt man sich auch sonst unter einer Esse, um Schokoladencreme zu löffeln? Zuvor gab es Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat, die an den diversen, es müssen dreißig gewesen sein, mindestens fünfundzwanzig, auf sämtliche Räume verteilten Tischen serviert worden waren. Andy Warhol hat in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts festgestellt, dass sich Menschen mit viel Geld von denen ohne viel Geld vor allem dadurch unterscheiden lassen, dass es bei den Menschen mit viel Geld, bei denen Andy Warhol viel und das auch gern zu Gast war, immer ganz kleine Lebensmittel zu essen gibt. Also nur die zierlichsten Böhnchen, Mini-Hamburger und Möhrchen so fein und kurz wie Säuglingsfinger. Die Schnitzel waren auch appetitlich fein und dünn und dabei so zierlich, dass sie kaum größer wirkten als die münzgroßen Kartoffelscheiben des fruchtig marinierten Salats. Mit Vittorio E. Klostermann, der mir gegenüber saß, sprach ich aber weder über die Schnitzelchen, die inhalierten wir nonstop nur so weg, und auch nicht über Martin Heidegger, dessen Herausgeber er in der Nachfolge seines Vaters Vittorio Klostermann ohne E. ist. Es ging, leider wie ich sagen muss, um das Thema Urheberrechte. Da hatte auch Marion Tiedtke, die auch mit am Tisch saß, kaum etwas dagegenzuhalten, denn das Thema Urheberrechte drückt den Verlegern aufs Gemüt; es ist schon beinahe zum Schreien. Allerdings traf ich dann später, da hatte ich den Platz unter der Esse noch nicht entdeckt, im Rauchzimmer einen berstend gut gelaunten Verleger, der dort der glamourösen Antje Kunstmann einen Vortrag hielt. Es handelte sich offenbar um den Verleger des sogenannten Deutschen Fachverlages, der branchenspezifische Zeitschriften verlegt wie zum Beispiel für die Deutsche Fleischerinnung das Magazin afz, aber auch die gute alte Textilwirtschaft. Und die Geschäfte dieses hochspezialisierten Fachverlages gehen wohl glänzend. Der Mann war kaum mehr zu bremsen in seinem Enthusiasmus. Frau Kunstmann, die einen funkelnden Ring trug, floh bald schon ins Freie. Das war an der Stelle, als der Fachverleger die Größe seines Verlagsgebäudes mit groben Strichen skizzierte. »Unser Haus ist so hoch«, rief er der Entfleuchenden durch die geöffneten Terrassentüren in die Dunkelheit des Schloßhofes hinterdrein »Viel höher als das der FAZ — Wir schauen auf die FAZ herunter!«

Auch undenkbar in Berlin: dass alle Gäste sich schon um Mitternacht verabschiedeten. Am Ausgang stand derweil noch immer Robert Menasse und ahmte vor ständig wechselndem Publikum, dabei umringt von den Getreuen, einen anderen Burgschauspieler nach.

11.10.

Die herrliche Berglandschaft gleich hinter Kassel: damit fängt die Vorfreude auf die Buchmesse in Frankfurt an. Unter milchiger Himmelsfarbe hängt schlapp und insgesamt schon ins Bräunliche changierend das durchnässte Laub an den Bäumen. Bunt – irgendwie ja, aber nicht aufheiternd, sondern halt irgendwie, unentschieden, beinahe schnöde. Und von daher auch egal.

Heute früh, zu geisteskrank früher Stunde (es war noch dunkel vor den Fensterscheiben), war ich beim Warten auf den Kaffee kurz in eine Art von Extase geraten, als ich, um mich, während es in der Kanne zu röcheln begann, zu beschäftigen, mit einem am Vorabend neu gekauften Schwamm auf der sogenannten Arbeitsfläche zu scheuern begann: »Schwämme«, so durchfuhr es mich »welch geniale Erfindung!« um gleich daraufhin mich selbst zu unterbrechen, weil mir da längst schon eingefallen war, dass der ursprüngliche Schwamm doch ein Lebewesen ist, vielmehr zunehmend war. Und von daher: dieser Schwamm bloß eine Nachbildung (auf der Umverpackung aus Pappkarton wird er als besonders Handfreundlich angepriesen).

Wie Menschen wohl früher? Hände gab es schon immer.

Sehr zu empfehlen: der Eintrag in der Wikipedia zum Thema Badeschwamm. Der sich, ich kenne mich nun damit aus, von Natur aus vom uns so genannten Küchenschwamm, dem Auslöser und Anlass meines Lob des Schwammes an sich, unterscheidet. Die Evolution des Naturschwammes bis hin zum Küchenschwamm war eine lange, eine vor allem abenteuerliche Geschichte. Die einstigen Jagdgründe der Schwammtaucher, unter anderem halt auch in den Wassern vor Hvar, sind mittlerweile als solche in Vergessenheit geraten. Noch als die Sonne längst aufgegangen war, dachte ich über den Schwammhandel, über die Harpune zur Schwammernte, die mit den vier Zinken, nach.

Und natürlich auch über das lustige Lied, das zu Anfang jeder Episode von Spongebob Schwammkopf gesungen wird; wie auch grundsätzlich über diese Idee, einen Schwamm in kurzen Hosen als einen McJobber zum Protagonisten einer Zeichentrickserie zu machen. Und über Zeichentrick an sich. Dass der, ein Schwamm, in einer Ananas wohnen soll. 

Ich bin kein Seil, noch nicht mal eine Faser, sondern Fluse; gespannt zwischen extremer Aufgeklärtheit und beständigem Metaphyseln.

10.10.

Wirklich leider ein ganz anderes Grau hier um diese Zeit. Pariser Grau: opak, licht, Beauty light. Berliner Grau: trüb. Zementhaft. Das Leuchten des Rasens kommt kaum dagegen an. Es fehlen darin die bläulichen Einmischungen. Das Pariser Grau hat einen Lavendelton (vermutlich ist deshalb unter Berliner Altbaubesitzern die Wandfarbe Elephant’s Breath von Farrow & Ball so beliebt, dass man sie eigentlich schon nicht mehr sehen will, weil dieses teure Grau nämlich genau diese Nuance von Lavendel in die sogenannten eigenen vier Wände bringt.)

Gestern den ganzen Tag das Band abgehört, auf dem mir Peter Marino ausführlich von den verschiedenen Kalksteinsorten erzählt, aus denen die alten Gebäude in Paris gemauert wurden. Er als New Yorker schwärmt von der unendlichen Einheitlichkeit der Fassaden, sagt, er sähe in anderen Städten auf der Welt nur das Chaos, weil dort keine zwei Häuser aus dem selben Material gebaut wurden. Hatte ich ganz vergessen, dass wir derart ausführlich über Steinsorten gesprochen hatten, so wie ich ja immer so einiges vergesse, weil der Rekorder läuft und ich sozusagen auf Stand-by geschaltet sein darf, wenn ich mich professionell mit jemandem unterhalte. Aber wenn ich es dann abhöre, war ich anscheinend ganz aufmerksam Zuhörender, war nicht nur vor Ort, sondern anwesend.

9.10.

Wunderschöner Sonnenaufgang, wie mit sämtlichen Registern gezogen, über dem spiegelnden See. Als ob die Natur selbst so wie eines ihrer Details, als ob sie wie die Katze wäre, die ganz genau sich ihrer Wirkung bewusst zu sein scheint (Maria Popova ließ in ihrem sonntäglichen Newsletter Ursula Le Guin aus ihrem Katzenwissensschatzkästchen plaudern) – ich war sogleich wieder versöhnt mit der Natur und ihrem Sturm und dessen Auswirkungen, die mich beinahe drei Tage lang hier festgehalten hatten, sodass ich gestern auch noch – wie heißt das Gegenteil einer Krönung – den Imkerkongress in Dahlem verpasst hatte, auf den ich mich so lange gefreut.

Am Nachmittag dafür einen ausgedehnten Spaziergang durch das Viertel gemacht. Einige Akazien lagen in Stücke gesägt und ordentlich aufgestapelt da. Wie Täter. Und in den Bäumen sah ich, trotzdem es Sonntag war, den einen und anderen Industriekletterer at work. Peter Handke hat sich entschieden gegen die Villenviertel ausgesprochen. Er findet sie grausam. Da unterscheiden wir uns. Ich kann hier beim besten Villen (sic!) nichts Grausames entdecken. Allenfalls kam es mir gestern so vor, beim Betrachten der Wolken hinter den Bäumen, dass diese Welt dort, also das Himmelsgeschehen, eine so unendlich abwechslungsreichere ist als die bei mir unten. Wie dort alles und jedes einzelne Element – farblich, aber auch von seiner Gestalt her – in andauernder Veränderung begriffen scheint.

Aber halt bloß scheinbar. Denn auch mir gehen die Haare aus, ich werde mal dicker, dann dünner. Früher wuchs ich, und einst werde ich verschwunden sein. Mir fiel diese Geräuschsituation ein, neulich auf der Insel, als es nachts das Riesengewitter gegeben hatte und am nächsten Tag schien wieder alles gut dort oben. Dann aber sah ich, wie zwei mächtige weiße Schiffe aneinander vorbeizugleiten schienen in einem für beide zu engen Kanal und es kam tatsächlich ein Geräusch aus dem Himmel, das dieser meiner Sinneswahrnehmung entsprach. Ein kosmisches Knurren.

Schön wär‘s ja, wenn es sich tatsächlich um eine Alterserscheinung handelte, dass einem mit zunehmendem Alter das Wettergeschehen bedeutender vorkommt. Ich glaube nicht. Man hat dann die Begriffe dafür (und ich zumindest darf nicht allzu lange darüber nachdenken, worauf ich dabei schaue, sonst fällt mir unweigerlich ein, dass ich auf einer Gesteinskugel stehe, die durch einen dunklen Raum ohne Wände fliegt).

7.10.

Ich weiß nicht mehr ganz genau, wer das zu mir gesagt hat, aber ich glaube, es war Jakob Grunert, der behauptet hatte, schreiben sei die anstrengendste Tätigkeit für ein Gehirn, weil da so viele Entscheidungen getroffen werden müssten. Gilt für das Wohnen aber auch.

Bald am Morgen musste ich feststellen, dass die Situation sich durch die Sturmschäden dergestalt entwickelt hatte, dass lediglich ein sogenannter Schienenersatzverkehr aufrecht erhalten wurde. Und selbst dieser war nicht zu gebrauchen, da von Potsdam her pumpenhaft beständig neue Menschenmassen auf den Bahnhofsvorplatz befördert wurden, die ihrer dringenden Angelegenheiten wegen in die Innenstadt gebracht zu werden – nun ja: dräuten, sich stauten, es begehrten? Und ich, ich dachte: Machst du halt das Beste aus deiner Lage hier im Nebendraußen und wohnst. Wohne! Das hast du ja schon lange nicht mehr getan.

Ein extremes Erlebnis. Das zudem noch verschärft wurde durch mein Liegenlassen des Ladekabels, sodass dem iPad alsbald schon der Bildschirm ausging (aus dem es hauptsächlich besteht), sodass nicht einmal mehr Fernsehen drin war. Was macht man da, als Fledermaus?

Lesen, als Tätigkeit an sich, kommt bei mir nur zweckgebunden vor. Wohnen darf aber nichts Zweckhaftes haben. Wohnen an sich hat frei zu sein von Anhaftungen des Zwecks. Selbst das Schmökern im Wohnklassiker Wohnen Dämmern Lügen versagte ich mir.

Bald fielen mich die Möbel an mit all ihrer Nutzbarkeit. Einfach bloß sitzen ist unheimlich. Auch durch die Schwierigkeit, dabei nicht über das Sitzen an sich zu sinnieren. Sinnieren auch. Also schwer aus dem ähnlichen Grund. Die Hölle hatte ich nach ungezählten Stunden dann erreicht, als ich über eine Veränderung meiner Wohnungseinrichtung nachdachte. Ich ertappte mich dabei. Teile meines Geistes hatten es sich also schon in einem Souterrain gemütlich gemacht, um dort sozusagen von mir ungestört eine Palastrevolution einzuleiten.

Die Wohnlichen, Roman.

Schreiben war mir aber ebenso verpönt wie das Lesen. Bald war ich satt, dann auch irgendwann ausgeschlafen. Ich schaute absichtsvoll aus dem Fenster, weil mir das absichtslose Schauen, von dem Peter Handke so schwärmen kann, nicht gelingen wollte. Vermutlich sogar durfte! Ja, ich war nun soweit, eine schlimme Absicht zu wittern hinter dem Wohnen. Ein Komplott. Twittern war aber auch verboten. Wohnen ist schlimm.

Die vietnamesische Betreiberin des kleinen Fachgeschäftes für Reisebedarf – Spätkauf ist für Wannsee zu vulgär; sogar »vulgo« nimmt hier beinahe niemand in den Mund – meinte zwar, dass sie noch ein Ladekabel auf Lager hätte, doch stellte sich das als Theorie heraus. Sie nannte es Chimäre.

Mir fiel das Bild von Martin Kippenberger ein, wo er als Gefesselter mit beiden Händen in der Plastikumverpackung eines Sixpacks steckt wie ein australischer Seevogel, bloß halt mit weißen Ladekabeln.

Malen, auch Zeichnen, Kritzeln sogar war aber auch verpönt, weil total unwohnlich. Ausmalen von Malbüchern hingegen total erlaubt. Ich hatte aber, unglücklicherweise, keines zu Hand. Und im Reiseladen waren sie ausverkauft.

Kurz hegte ich den dringenden Wunsch, mich unter die Gärtner zu mischen, die im strömenden Regen das Laub auf Haufen häuften. Bei mir drinnen war schon alles herrlich aufgeräumt. Absichtlich für Unordnung zu sorgen erschien mir albern. Vor allem des Sorgenden wegen.

Kaum jemand rief mich an. Als es endlich dunkel wurde, stellte sich die ersehnte Dämmrigkeit ein. Wohnen: ganz ausgezeichnet. Aber in Zukunft bitte ohne mich.

6.10.

Als der Sturm nach Moabit kam, begannen die Bäume im kleinen Tiergarten zu tanzen wie die Palmen in diesem Video von Cyprien Gaillard. Ich sah eine Nebelkrähe, das große Tier hatte Probleme, im Wipfel eines der schwankenden Bäume zu landen. Das Naturereignis fing acht Minuten früher an, als von meiner Wetter-App angekündigt. Es hörte aber pünktlich und wie angekündigt um 18 Uhr wieder auf.

Draußen war viel Verkehr. Auf dem Bahnsteig standen ratlos einige Menschen. Die Anzeigetafeln leuchteten in einem seltenen Blau, darauf nur eine einzige Zeile: »Zugverkehr eingestellt«. Ich ging zu Fuß von Bellevue bis zum Stuttgarter Platz. Auf der Kantstraße war ein breiter Teil über alle vier Spuren abgesperrt. Feuerwehrmänner hatten sich um eine junge Akazie versammelt, die schief aus ihrer Verankerung am Trottoir ragte. Ein tröstliches Bild: Feuerwehr kam mit Blaulicht, um an einem Baum noch zu retten, was zu retten war. Überall lagen abgerissene Zweige herum. Überall Laub. Auf den Treppen in der Bahnstation, dort neben dem Eingang zum russischen Supermarkt, campierten mumisch gewandete Frauen mit schlafenden Kindern. Männer, umhergehend, an den Telefonen (vermutlich im Gespräch mit Verwandten in den Außenbezirken). Komisch, wie unterschiedlich Menschen sich von ein und demselben Unglück berichten. Chinesinnen klingen wie zu schnell abgespielte Tonbänder, bei denen ab und an jemand wie wahllos die Pausentaste drückt. Amerikanerinnen und Amerikaner: vor allem laut. Vor allem viel »ich«. Dazwischen viel »like«. Und eine Exil-Österreicherin, die Schwiegermutter, eingefleischte Rotweintrinkerin, die Schneidezähne waren lila verfärbt, nippte heimlich von allen drei Schnapsgläsern ihrer Lieben, während Mann, Sohn und Schwiegertochter draußen vor der Tür eine rauchen waren. Schaute mich kurz an aus ihren verhutzelten Augen. Schuldbewusst.

Später dann mit dem Taxi über die leere AVUS nach Hause. Er nannte mich Großer und Digger, war bester Laune, hatte sehr gute Geschäfte gemacht. Im Dunkeln sah es so aus, als ob hier draußen noch alle Bäume standen. Sind ja auch mehrheitlich schon über hundert Jahre alt. Die meisten hier haben zwei Weltkriege überlebt, gab ich zu bedenken.

Bei Sonnenaufgang alles ruhig, alles grau. See en forme. Im Nachbarsgarten gehen um sieben die Motorsägen an. Aber den Baum konnte ich sowieso noch nie leiden.

5.10.

Nach einem herbstlichen Abendbrot (Bergische Pferdeknacker, Käse mit Meerrettich, geräuchertes Torfbier von der Brauerei Rittmayer) fuhr Jan mit mir noch stundenlang durch die malerischen Straßen von Nordsteglitz bis hinein nach Friedenau. An den Kreuzungen lag das Laub hüfthoch zu gelben Haufen aufgeschichtet. Wehmütig dachte ich an Paris zurück, wo an den Platanen noch nicht einmal die Färbung eingesetzt hatte. Bedeckt war der Himmel dort, wie beinahe immer eigentlich, wohl. Aber trotzdem ließ die graue Decke noch massig viel Licht hindurch, es umgab uns von allen Seiten (und die Dämmerung setzte erst eine Stunde später ein).

Das Café hatten wir im Vorbeigehen entdeckt, es war das einzige in unserer direkten Nachbarschaft. Allein die Erinnerung an den hübschen Fliesenbelag dort, hübsch abgetreten, aus ockergelben und weinroten Mosaiksteinchen, darin eingelegt mit weißen Steinchen der Name: Carillon. Dort am Fenster sitzen und auf die Straße schauen. Stundenlang. Das Fenster war ideal proportioniert, cadrage für eine unaufhörliche Einstellung der Straßenszene, die nie langweilig wurde. Exzellentes Casting: jung alt, hell dunkel, mit Telefon, aber auch ohne. Einer zückte seinen abgewinkelten Arm wie ein Instrument, bevor er in einer Toreinfahrt verschwand. Um auf die Uhr zu sehen.

Im Hinterzimmer hing das gerahmte Bild einer Katze neben einem historischen Familienportrait, einer Fotografie, auf der Monsieur Amokhrane, damals noch mit weißem Turban, als Ankömmling in Frankreich zu sehen war. Daneben ein Gipsrelief der Mutter Maria mit vergoldeten Händen.

Wir fragten Amokhrane nach der Katze. Er sagte »Kommt gleich«. Sie kam aber nicht mehr.

Ist kitschig, ich weiß. Auch ein bisschen einfach halt, aber: Ich liebe Paris.

4.10

Beinahe voll stand der Mond über dem Gallusviertel. Darunter, auch rund und beinahe ebenso hell, auch alt: das Signet des klugen Kopfes, der sich hinter einer aufgeblätterten Zeitung verborgen zeigt.

Im TGV erhält der User eine Nachricht, sobald der Zug auf über 300 km/h beschleunigt wurde. Die Nachricht enthält die Option, einen vorformulierten Tweet oder ein vorformuliertes Posting auf Facebook abzuschicken, mit dem man von seinem Geschwindigkeitserlebnis an Bord des TGV, dem Durchbrechen der 300-km/h-Mauer, Bericht erstatten kann. Im Restlicht der Dämmerung leuchteten draußen die Leiber der Kühe vor dunklem Wiesengrund. Die Tiere standen zur Rosette formiert um einen einzigen Trog herum.

Aufenthalt in Karlsruhe, in dem schönen und wie leergeräumten Bahnhof der ehemaligen Residenzstadt. An der Wand des Hallengewölbes steht ein Gedicht, der Verfasser bleibt ungenannt: 

Ich bin ein Individuum.

Weit mehr als jede ausgedachte Figur aus irgendeiner Erzählung.

Ich atme. Ich fühle. Ich lebe. Und das jeden Tag. 

Ich esse. Ich arbeite. Ich schlafe. Ich bin wie Du.

Ich renne. Ich springe. Ich klettere und fliehe. Ich stelle mich. Ich schreie. 

Ich erschaffe und zerstöre. Ich mache das, weil ich es machen kann. 

Und das mein Leben lang.

3.10

Am Rande des Opernplatzes sitzt auf dem Trottoir ein Mann, er hat nur noch ein Bein. Entlang dieses Beines, beschwert von seinem darauf abgelegten Stumpf des anderen, hat er ein Stück Pappkarton ausgebreitet. Darauf sitzt ein weißer Hase. Ein Prachtexemplar der Rasse Farbzwerg, die ihren Ursprung in Holland hat. Obwohl im Rücken seines Herrn der Verkehr kreisförmig um das Opernhaus herumrauscht auf drei Spuren und obwohl, dies verwundert vielleicht noch mehr, vor seiner unablässig schnüffelnden und mümmelnden Schnauze die hochbeinigen und lange Schatten werfenden Menschen in flachen besohlten und hochhackig klackernden Schuhen vorüberziehen wie ein Zaun auf Schienen, liegt der Hase still da. Wie unbekümmert. Sein Auge wirkt größer, als es in Wirklichkeit ist, da es von einem breiten Ring aus schwarzem Fell wie eingefasst scheint. Dieser Ring, wie von sorgfältig verschmierter Mascara, gibt dem Hasen etwas Gedankliches, einen Anschein von existentialistischem Tiefsinn; dazu sein Schweigen, die Schmutzigkeit der Kleidung seines Herrn, der auf dem Trottoir im Schatten des Opernhauses sitzt, auf dessen Dach die zwei vergoldeten Figuren im Sonnenlicht leuchten, gegenüber die grüne Säule auf der Place Vendôme: Der Hase sieht all dies und weiß von nichts. 

Friederike hatte mich auf den Mann mit dem Hasen aufmerksam gemacht. Wir schenkten ihm einen kleinen Schein. Er war sehr freundlich und lieh mir den Hasen, damit ich mich mit ihm auf dem Arm fotografieren lassen konnte. Wenn der Mann ihm einige der in einem Park ausgezupfte Halme hinhielt, machte der Farbzwerg auf seinem Kartongrundstück Männchen. Er hieß Pinocchio.

In der Nacht wachte ich zwei Mal auf und beide Male dachte ich daran, dass ich in einem nahen Supermarkt eine Auswahl von Gemüse und einen Strauß Petersilie kaufen wollte, um sie Pinocchio zu bringen. Eine richtige Jardinière würden wir ihm überreichen, an der er sich einige Tage lang satt essen würde.

Als wir dem Mann den sorgfältig zusammengestellten und sortenrein in appetitlichen Papptüten mit Klarsichtfenstern verpackten Inhalt unserer Monoprix-Tüte präsentierten, zeigte der sich zuerst etwas kopfscheu. Behutsam führten wir dem Farbzwerg, heute früh war ein sonniger Morgen, es wurde im weiteren Verlauf ein herrlicher Tag, eine der küchenfertigen Babykarotten zu. Auch Pinocchio zeigte sich im Angesicht der ungewöhnlich wohlgeformten und frischen, aber halt auch da frisch aus dem Kühlregal entnommen, auch undelikat kühlen Köstlichkeit spröde. Erst bei einem Sträußchen Petersilie schlug er in alter Frische zu. Wir machten viele Fotos. Einige davon haben das Zeug zum Klassiker. Und dann, wieder zurück auf dem Boden der Tatsachen sozusagen, auf seinem Karton, nahm er in aufrecht stehender Position nun auch die Babykarotte aus der Hand seines Herrn an. Ein uns beruhigender Beweis dafür, das der Farbzwerg nicht etwa unter Drogen gesetzt und so dann beim Betteln als Anlocktierchen missbraucht wurde. Wie es ja beispielsweise im Reich der Mode beispielsweise für das Pony bei Ralph Lauren, für den Windhund bei Trussardi, für das Lamm bei Brooks Brothers et cetera gang und gäbe ist. Vom Duracellhasen, der Milkakuh, dem Bär der Marke Bärenmarke, also den Maskottchen generell und von den diesbezüglichen Automarken, ganz zu schweigen.

2.10.

Gestern spät, nach langer Irrfahrt, die unter anderem zu einem erzwungenen Halt in Saarbrücken (!) geführt hatte, in Paris eingetroffen. Es ist so seltsam, ich erkenne gleich alles wieder. Wenn auch nicht konkret, nicht anhand bestimmter Dinge, sondern insgesamt: die ganze Stadt. Am Gare de l‘Est entdeckte ich ein seltsames Monument für einen vertrockneten Blumenschmuck, der sich gut für das Monatsbild des Oktobers geeignet hätte, aber bevor ich ihn fotografieren konnte, erscheint von beiden Seiten Polizei im Bild, die den Ausgang des Bahnhofs mit Absperrband zu sichern beginnen. Später sehen wir in den Nachrichten, dass in Marseille ein Messerstecher zwei Frauen getötet hat, bevor er von der Polizei erschossen wurde.

Beim Abendspaziergang entdecken wir einen elegant eingerichteten Fleischerladen, helal, wie es ihn nur hier geben kann. Die Wände mit winzigen roten und weißen Mosaiksteinen kariert, die Vitrinen der Auslagen rückwendig verspiegelt und die Angestellten alle in farblich auf die Fleischtöne abgestimmten T-Shirts gekleidet. Selbst die knisternden Plastiktüten sind in einer farblich passenden Nuance ausgesucht. Einzig die aus neongelber Pappe ausgeschnittenen Aktionssterne auf dem Glas der Vitrine bringen – willkommene – Akzente. Der Neonschriftzug über dem Eingang, arabisch: leuchtend in Blau.

Und so geht es immer nur weiter. Leider fühlte ich mich etwas krank. Schob es auf die schädliche Strahlung Saarbrückens, auf eine Art Voodoo von dort durch die Bundesbahnscheiben. Ich hasse das Saarland. Früh zu Bett, zum alten Tröpfelgeräusch des Regens auf dem Zinkblech vor den Fenstern eingeschlafen – wie daheim. Heute früh aber wieder en forme.

30.9.

Auf dem dicht mit Passagieren bestandenen Bahnsteig nach Frankfurt und Raststatt kam es zu einer Art Epiphanie, als ein Vogel, den ich zunächst für eine Ringdrossel gehalten hatte, im Dickicht der blank polierten Schuhe einhergeschritten kam. Es handelte sich aber um einen Star im Schlichtkleid, wundervoll gepunktet, der sich dann wie selbstbewusst vor einem Anzugträger aufbaute, um ihn wie auffordernd anzuflöten. Der Mann vertilgte einen Hamburger, der Star ging vor ihm flötend auf und ab, und ließ ihn dabei nicht aus dem keck ihn anwinkelnden Auge. Es wurde still um diese Flötentöne aus dem schönen Schnabel des kleinen Tiers, das dort zu unseren Füßen, von unten her seine Forderungen stellte. Eher um der Blicke der Mitmenschen willens, als dem vom Tier geäußerten Bitten Folge zu leisten, ließ der Snackende einen Brocken des Briochebuns auf den Bahnsteig zu seinen Füßen fallen. Der Star wippte anmutig in den Knien, als ob er knickste und ergriff den Bissen mit seinem Schnabel. (Ist das dann auch noch ein Bissen, wenn er schnabuliert wird, fragte ich mich?) Sogleich stießen vom gläsernen Dach, das die obere Abfahrtshalle des Berliner Hauptbahnhofes überwölbt, zwei Spatzen herab, um sich um eventuell aus dem Starenschnabel herabrieselnde Brosamen kümmern zu können. Der deutlich größere Star, er zählt zu den Sperlingsvögeln – also bestand eine entfernte Artverwandschaft –, verjagte die beiden verwaschen bräunlichen Gesellen nicht, sonden teilte den Schnabulus (wie eventuell der Fachbegriff lauten dürfte.) Dann fuhr der Zug ein. Und es kam, wie auf der Internetseite der Bahn annonciert zu einem Grind, wie ich ihn selbst an den Weihnachtstagen noch nicht erlebt hatte. Sämtliche Züge an diesem durch den anstehenden Nationalfeiertag für Arbeitnehmer extrem langen Wochenende waren überbucht. Dies aber dergestalt, dass es selbst in der ersten Klasse nur noch Stehplätze gab. Das Bierfass im Bistro, das fand ich in den vier Stunden dort unter anderem heraus, fasst lediglich dreißig Liter.

29.9.

Powerfrühstück morgens um neun Uhr mit Erik im Birdhouse, das, ich musste beinahe um den Block herumgehen, bis ich es endlich als dieses, das unsrige Birdhouse, wiedererkannt hatte, in meiner Abwesenheit einen Besitzerwechsel hatte. Hinter dem Tresen steht nun ein Migrantenpärchen griechischen Ursprungs, aus Athen. Die Küchengeräte wurden gründlich abgeschrubbt, es sah so aus, als sei dort alles neu eingebaut. Auch die Außenwelt des vogelhausförmigen Imbissgebäudes war neu gestaltet worden: Es gibt jetzt Blumen und eine mit Lackstiften gestaltete Tageskarte. Es gibt Croissants.

Dieses gesamte Viertel, gegenüber des Hauptbahnhofs gelegen, und dort hinter dem Museum Hamburger Bahnhof, war jahrzehntelang nicht nur im Grunde nicht, sondern überhaupt gar kein Viertel, sondern eine Brachlandschaft, gesäumt von einer langen Aneinanderreihung, von der Form her in etwa mit der Länge dieses Satzes vergleichbar: ein ehemaliger Lagerschuppen, in denen sich zu einem späten Zeitpunkt der zur Legende gewordene Nachtclub Crackers eingerichtet hatte – daneben, in einem alleinstehenden Bau, die Disko Tape, wo ich im Jahrhundertsommer 2010 ein Konzert von The Whitest Boy Alive erlebte, das bis zum nächsten Tag um acht Uhr morgens ging –, hier entsteht jetzt pilzhaft überschießend, rings um die angeblich größte Tankstelle Deutschlands herum, in deren Nachtshop Erik schon einmal Brad Pitt begegnet war, das, wie es heißen soll, Europaviertel, für das vor allem Max Dudler sehr viele Gebäude vom Band rollen lässt. Professor Dudler, ein Schweizer, der in Moabit derzeit auch für die abartig hässliche Fassadengestaltung einer in Gründung befindlichen Mega-Mall verantwortlich gemacht werden darf, hat in den frühen Neunzigerjahren das Restaurant Sale e Tabacchi sehr schön eingerichtet. Seitdem geht es mit seiner Kunst steil bergab. Das Europaviertel mit seinem sogenannten Kunstcampus jedenfalls unterscheidet sich noch nicht einmal mehr formal von den dahinter gelegenen Plattenbauten aus der Ostberliner Antike. Es ist überhaupt gar kein Wunder, dass die Ostdeutschen sich mehrheitlich als Dissidenten in der Bundesrepublik begreifen, angesichts dieser trostlosen Architektur. Einzig der immense Schornstein des Bundeswehrkrankenhauses steckte seine schmutzige obere Hälfte schamhaft in den Nebel, der über der Großbaustelle hing. Sogar Erik hatte sein Erscheinungsbild auf verblüffende Weise überarbeitet. Er sah jetzt aus wie der junge Lech Walesa.

27.9.

Une semaine de bonté, und alle dem zugehörigen Titel, darunter auch Stargazer, fanden sich in Vladimirs Bücherregal. Kurz darauf aber, nachdem ich dies wunderbare Bücherregal gescannt hatte, traf Moritz von Uslar ein – als einziger jeune veilliard unter den nichtweiblichen Gästen, und so konnte sich ein herrlicher Abend entspinnen wie von mir gewünscht. Anlass war die Premiere der von Vladimir ersonnenen Kosmetiklinie, die nach dem bis dato etwas in Vergessenheit geratenen Afrikaforscher Heinrich Barth benannt ist (allenfalls die in der Nähe von Rutschbahn und Abaton-Kino gelegene Straße in Hamburg erinnert noch an diesen Mann, von dem Alexander Humboldt behauptete, that »he almost singlehandedly put Africa, the continent that is, on the map«).

Wir aßen Salami, ganz kurz wurde es uns so, als ob Markus jetzt direkt unter uns war, dabei war das Catering doch vom Restaurant Dóttir besorgt, das sich nach einer kurzen isländischen Phase mittlerweile in ein piemontesisches Pop-up verwandelt hat, wie jedermann weiß in Berlin. Mansplainend – einander freilich – beobachteten wir währenddessen, wie sich im Badezimmer ein eigens hierfür engagierter Pornodarsteller entkleidete, um zur Unterhaltung der Gäste ein Schaumbad mit dem Badezusatz von Heinrich Barth zu nehmen. Der geladene Influencer und Herrenmode-Blogger Fabian Hart aus Hamburg ließ sich von einem ursprünglich aus Korea stammenden Assistenten mit einem sehr großen Smartphone fotografieren, in diesem Badezimmer, während der Darsteller, von dem andere behaupteten, er sei von Beruf Tänzer, splitternackt in der mit Schaum gefüllten Wanne seinen ihm von den Veranstaltern des Abends zugedachten Platz einnahm. Der Assistant Fabian Harts machte diverse Aufnahmen und überreichte Fabian Hart daraufhin das Gerät. Hart selbst wischte sich routiniert durch den Flow, ließ eine ihm gelungen erscheinende Aufnahme auf dem Display sozusagen stehen und sagte: »Ich würde sagen, damit gehen wir dann raus.« Gesagt, getan, der Assistant formulierte den Hashtag und löste das Posting aus.

Wenig später entschied Moritz, es war ja schon reichlich spät, dass wir noch in die von ihm sogenannte Parisi fahren sollten. Dort tranken wir am Tresen stehend, gleich neben der Plakete, die an den leider verstorbenen Otto Sander erinnert, noch jeweils ein kleines Bier. Da war der heftige Wortwechsel mit dem Taxifahrer, ein schlimmer Bierkutscher ganz harziger Berliner Schule, bereits in Wohlgefallen aufgelöst. Auf dem Trottoir lagen schon überall die heruntergefallenen Lindenblätter herum.

26.9.

Wie bunt und reichhaltig, wie glänzend und üppig uns die Auslagen im Bahnhofsviertel nach Ankunft erschienen waren. Übertrieben große Granatäpfel unter Lampenlichtern. Und dann heute früh: an der inneren Fassade im Hof, der Behang aus Efeublättern zeigte sich rot. Bis Kassel schien die frühmorgendliche Natur noch beinahe sommerlich, wenn auch aus den Tälern um Fulda, aus denen Fulda ja eigentlich besteht, aus dem Fulda Gap, neblige Wolken aufgestiegen waren. Das Gras und die Wälder hauchen die Nachtkälte aus.

Danach überall weißgraue Himmel. Die Feldwege regennass, und wo der Mais noch steht, sind an den Stauden die Blätter bananenhaft in gelblich und braunen Streifen eingefärbt. Auf dieser Strecke gibt es anscheinend keine Stoppelfelder. Grünes im Vordergrund meines Bildes – Kaff, Winterfutter. Am Horizont drehen sich die Elektrizität erzeugenden Propeller im Wind.

Beim Bezahlen fand ich eine glasierte Scherbe unter den Münzen in meiner Hosentasche.

25.9.

Am frühen Morgen, gegen zwei Uhr, wurde ich von einem grellen Blitz geweckt und begann noch halb im Schlaf zu zählen. Der Donner schlug erst fünf Sekunden später ein – das Zentrum des Gewitters befand sich mehr als einen Kilometer entfernt, rückte aber rasch näher. Schon der übernächste Donnerschlag wirkte erschütternd, als ob er das Dach des Gebäudes getroffen hätte. Dann fiel dichter Regen. Durch die geöffnete Terrassentür wurde die Musik aus der kleinen Bar des Hotels herangepeitscht. Der Raum war taghell erleuchtet, so viel war zu sehen, aber nichts von den Menschen, die dort zu diesen Hits tanzten oder auch bloß tranken.

Das Galadiner anläßlich des Saisonendes hatte im festlich dekorierten Speisesaal des Arkada stattgefunden. Pünktlich zur angekündigten Zeit, um 19 Uhr, hatte ein Mann im rosafarbenen Seidenhemd mit Krawatte und Krawattennadel die Tür erst aufgeschlossen, dann schwunghaft aufgestoßen und die schon zahlreich vor dieser Tür aufgestauten Greise herangewunken. Interessanterweise mit einer uns wohlbekannten Geste; vertraut nämlich durch unsere Beobachtungen der mumischen Kultur (allerdings trug der Saaldiener seine Finger von Henna ungefärbt.) An den passend zu seinem Hemd mit rosa Tischtüchern verkleideten Tafeln – es standen circa 287 dieser Tische in dem verschwenderisch dimensionierten Raum – durfte nach gusto Platz genommen werden. Vor der eisernen Türe zum Küchentrakt, die jetzt ganz offen stand, hatte sich die in weiße Tracht gekleidete Mannschaft aufgestellt. Die zur Inselfolklore gehörige Baskenmütze aus weißer Folie auf den Köpfen. In den davor präsentierten Behältern boten sie ein Angebot der traditionellen Festtagsspeisen feil, das kaum Wünsche offenlassen konnte – was auch daran lag, dass beinahe alle dieser Speisen unbekannt aussahen und auch rochen. Schmackhaft war unter vielem anderen eine zierliche Fischfrikadelle in der Form von Löffelbisquits, unter deren delikater Panade aus Feinbröseln ein Mus aus Ringelbrassen, gewürzt auf orientalische Art, einfach bloß Hunger auf mehr und noch mehr dieser abartig mundenden Knusperlinge provozierte. Dazu passten die langen Schiffchen aus sauer eingelegten Schlangengurken geschnitzt, die nebst einem Salat aus sauer eingelegten Paprikaschiffchen das Zentrum des Buffets bildeten. Desweiteren: Stockfisch, Ferkel und eine endemische Spielart des Brokkoli, der auf schonende Weise im Dampf gedünstet worden war. Ein Auswahl aus den bereits durch unsere Barbesuche am Nachmittag vertrauten Kuchen- und Cremekuchenspezialitäten rundete das Angebot ab. 

Die Kellnerinnen waren hier noch Saaltöchter im traditionellen Begriff des Berufsstandes. Kleine Servierwagen mit tadellos geschmierten Rädchen vor sich herschiebend, durchmaßen sie unaufhörlich die breiten Gänge zwischen den Tafeln, um von ihren Waren anzubieten. Hauptsächlich Getränke, die nicht im Preis der Halbpension inbegriffen waren und die sie, als Unternehmerinnen im Unternehmen, auf eigene Rechnung an die Gäste verkaufen konnten. Leider kein Pipi. Und trotzdem war der schöne Abend dann nach zweieinhalb Stunden doch geschwinder vorübergezogen als gedacht. Extrem gesättigt – einige der Speisen quollen anscheinend noch schwammartig auf unter der Einwirkung von Magensaft –, von daher auch extrem zufrieden verabschiedeten sich die Gäste auf typisch kroatische Weise von dem unerschöpflichen Buffet. Der Saaldiener, noch immer in Hemd und Krawatte, schloß mit eingeübter Geste die gläserne Türe ab und riß, von innen her, die blickdichten Vorhänge darüber. 

Ein schönes Sinnbild auch für das Schicksal dieses einmalig schönen Hotels. Wenn nicht gleich für das Schicksal des Sozialismus überhaupt.

24.9.

Nichts schöneres auf Erden als ein sozialistisches Grand Hotel am letzten Tag der Saison. Pünktlich um 12 Uhr hatten wir uns an der Rezeption des Arkada in Stari Grad eingefunden, der Tresen allein dergestalt ausladend, dass die vollständig versammelte Belegschaft des Hauses uns dahinter aufgestellt in Panflötenformation Willkommen heißen konnte. Es ist hier ja alles für den Besuch urlaubender  Hundertschaften ausgelegt und geplant worden: Übermorgen wird die Anlage für ein halbes Jahr in den Winterschlaf gelegt werden. Bei der Übergabe des Schlüssels versicherte man uns, dass es sich in unserem Falle um den letzten Check-In des Jahres 017 handelt. Wohl um die Besonderkeit des Datums für uns als deutsche Staatsbürger weislich, bot man uns einen Platz im Fernsehraum des Arkada nahe des mit Meerwasser befüllten Pools an, um von dort aus, bequem, die Hochrechnungen zur Bundestagswahl in der fernen Heimat verfolgen zu können.

Entgegen der Hochrechnungen der App scheint die Sonne. Man liegt unter den namensgebenden Mauerbögen des Komplexes in einem streifenhaft schmalen Schatten und schlürft den herrlichen Quality Wine, einen Blancha von den gegenüber gelegenen Hügeln, die, sämtlich unbebaut und karg, das Becken der Bucht säumen. Der Blick dahin geht über eine Plantage hinweg, gemischt gepflanzt mit Olivenbäumen und Palmen. Rasch machten wir Bekanntschaft mit zwei aus Slowenien stammenden Witwen, die, nun, nach Jahrzehnten im Mannheimer Exil, ihre Rückkehr in die Heimat feierten. Von ihnen erhielten wir versichernde Auskunft, dass es sich bei dem Arkada um das erste Hotel am Platze hinter dem Eisernen Vorhang gehandelt hatte. Und auch noch um ein weiteres Jahr handeln würde, doch die Uhr tickt bereits – natürlich und leider –, denn mit Ablauf der Saison 018 wird aus dem Konglomerat ein sogenanntes Resort unter neuer Leitung, dann wohl eindeutig kapitalistisch ausgerichtet und orientiert. Vorbei dann die Zeiten, dass man am obendrein noch gechlorten Meerwasserpool mit einem Glas Blancha zu absolut fair gehandelten Preisen bedient werden wird. Das mit den herrlichen Tortenstücken in Schuhkartondimensionen ist dann ebenfalls perdu. Der dubiose Spannteppich auf den Fluren wird dann wohl durch einen balinesischen Bastausläufer ersetzt worden sein. Räucherstäbchen wird es in den bis dato noch nicht vorhandenen Nachttischschubladen geben. Und Luffa-Schwämme an den Armaturen der Rainforestshowerkabinen von Dornbracht® oder Czech & Speak™. Die herrlich animierende Musik aus der Bar – der kroatische Grind besteht aus einer italienisch anmutenden Volksmusik* mit marschmusikhaften Chören – erzählt dann wohl, wie beinahe überall auf der Welt, vom Sonnenuntergang im Café del Mar oder von einem innerlich wahrgenommenen in der Buddha Bar. Allerspätestens wird hier in der Kulisse des neuen Arkada die Zalando-Kampagne mit Gisele Bündchen fotografiert werden (von Maxime Ballesteros.) Das überbordende Buffet im Speisesaal wird vom Industriezucker, von den Kohlehydraten und leeren Fetten gesäubert sein, es gibt Smoothies, die Taverne wird zu einer Filiale von Nobu umgestaltet worden sein. Und auch der Schlüsselanhänger aus massivem Messing, der anhängende Ring noch wie von Tito selbst, der Marschall hatte ja in seiner Freizeit sehr gerne geschmiedet, noch gerundet, wird dann durch eine schnöde Codekarte ersetzt worden sein. Doch bis dahin: vergeht hier die Zeit noch einen langen Schicksalsnachmittag wie in goldenfarbiges Aspik gegossen.

Als Einsiedlerkrebse des Sozialismus lebend: wunderbar.

*Avanti Popolo, Carlo Tuzzi, 1908

23.9.

Kurz dauert die Überfahrt im kleinen Motorboot und man erreicht die Insel Jerolim, die einst für ihren Nacktbadestrand berühmt war. Den Strand mitsamt den darauf im Sonnenschein lagernden Nackten gibt es noch immer. Die Amo Bar im Kiefernwäldchen scheint unverändert seit den siebziger Jahren. Mit grellen Farben bemalte Bruchstücke von Ästen und Brettern sind Wegweiser oder Hinweisschilder, denn gerade die Freikörperkultur braucht Reglement. Ein dicker, aufrecht in den felsigen Inselgrund gerammter Stamm trägt ein Schild mit der Aufschrift Nudists Welcome since 1896. Der Stamm, der durch ein ovales Loch aus diesem Schild herausstößt, ist an seinem oberen Ende kuppelhaft abgeschmirgelt, dazu noch auf der Mitte dieser Kuppelform suggestiv eingekerbt und mit blutroter Farbe überschüttet. Auf einer weiteren Hinweistafel sind die Grundregeln der FKK festgehalten. Beispielsweise geht es um eine angemessene Kultur des Schauens: »A certain curiosity is natural. But don’t ogle!«

Wer das nicht einhalten will oder kann, findet noch jede Menge anderer Buchten auf dieser Insel, die insgesamt nicht groß ist, so dass sie sich in zwanzig Minuten zu Fuß umrunden läßt. Das Meer ist dort überall von sehr guter Qualität. Und Äugeln darf man hier nach Herzenslust. Wenn gerade kein Schiff heranfährt, gibt es nichts zu sehen, was an die Gegenwart erinnern könnte. Man liegt unter einer krummen Kiefer auf einem weißen Felsen und schaut auf die benachbarte Insel, die aus krummen Kiefern und weißen Felsen besteht. Keine Stromleitungen, keine Abfallkörbe, keine anderen Menschen. Man schaut auf das ewige Wasser, in den ewigen Himmel, und ich träume dann gern von der Zeit vor 2400 Jahren, als die Abgesandten von der Peloponnes hier zum ersten Mal anlandeten. Vielleicht gab es um einiges mehr Vögel, auch noch andere Arten, und das klare Wasser in der Bucht war vermutlich noch derart voll gesteckt mit Fischen, es wimmelte, aber die Felsen waren schon genau so kantig und von Milliarden Sonnenstunden ausgebleicht. Die Boten wurden ausgesandt, um die Insel zu erkunden. Manche kamen nie wieder zurück. Das Land wurde vermessen und auf eine Karte eingezeichnet. Der Kapitän war in einen Seeigel getreten und in der darauffolgenden Nacht wurde ihm das Bein abgesägt. Damals gab es noch keinen Trinkwasseranschluß auf der Insel, also gab es einige barsche Kommandos in altgriechischer Sprache, die Segel wurden gesetzt.

Bei der Rückkehr in den Hafen von Hvar ließen wir die Schuhe aus und gingen barfuß an der ewigen Stadtmauer entlang. Die Steinplatten dort sind über unzählige Jahre von unzähligen Schritten zu Fußschmeichlern poliert. Beim Gehen über diese Platten im Abendlicht kommt man von allein in eine Christoph Ransmayr Welt: man sieht die glänzenden Leiber kapitaler Thunfische, die auf diesem Weg zerlegt worden sind, und auch das viele Blut, das von diesen Steinen gewaschen wurde. Körbe, überall Körbe und Füße. Brände an den Hängen über der Mauer, brennende Schiffe, Schattenspiele in der Nacht. Man hört die Wellen. Man sieht den Mond.

22.9.

Was es bei Natalia Ginzburg über das Verhalten der Kinder angesichts ihres zeichnenden Vaters heißt: »Wenn mein Vater zeichnete, hielten wir Kinder den Atem an«, gilt in ähnlicher Weise ebenso für das Verhältnis der Insulaner von Hvar zum Sonnenuntergang. Wenn das Naturschauspiel beginnt, tritt der Barmann durch das helle Viereck vor seine Tür und fährt wie geistesabwesend damit fort, sein Glas zu polieren. Die Frau an ihrem Küchenfenster dreht das Radio leise. Alle schauen wie gebannt auf den fernen Ort hinter der kleinen Insel, die inmitten des Hafenbeckens liegt. Dahinter scheint die Sonne unterzugehen. Dort verläuft die gerade Linie des Wasserspiegels quer über den Horizont. Darüber färben sich die Wolken ein – so es welche gibt, vorgestern gab es gar keine, gestern nur wenige, kleine – von dorther kommt der inlandige Wind, der durch die Kiefern rauscht, und die unter den Aschenbecher geklemmten Kassenbelege auf dem Tisch vor der Bar zum Flattern bringt.

Gerade noch wurde geredet, es lief Musik, jetzt wird geschaut. Die Faszination des Sonnenuntergangs nutzt sich selbst bei den hier auf dieser Insel Geborenen nicht ab, wie es scheint; und das gilt auch für das herrliche Wasser des Meeres, das ihren Genuss nur noch zu steigern scheint, denn ich habe hier schon mehrmals Männer gesehen, die beim Hinausschwimmen in die vom Sonnenuntergang farbig beglänzten Wellen angefangen haben zu singen wie verzückt.

Ich frage mich, ob der Ursprung des Kinos hier zu finden sein könnte; also nicht dort, auf Hvar, sondern in der Betrachtung von Sonnenuntergängen als kollektivem Erlebnis. Auf großer Leinwand. Größer geht es nun einmal nicht.

20.9.

Exkursion nach Starigrad, der anderen Stadt auf der Insel. Hvar ist, von oben betrachtet, extrem dünn, dafür unverhältnismäßig lang. Ungefähr so, wie ein durch intensive Sonneneinwirkung warm und weich gewordener Autoaufkleber von Sylt, den zwei streitende Kinder an den Enden gefasst, weit und weiter auseinandergezogen haben. Im Gegensatz zu Sylt ist die kroatische Schwesterinsel aber nicht bloß länger, sie ist auch sehr bergig. Die Stadt mit dem Namen Stari — denn Grad bedeutet Stadt, was ältere Leser sich schon gedacht haben werden, denn auch die Stadt Stalin lautet unter anderen daraufhin an — liegt Hvar zwar auf der Karte direkt gegenüber, trotzdem dauert die Fahrt mehr als eine halbe Stunde, in denen der Bus sich einmal ganz in die kroatische Bergwelt hinauf und dann natürlich auch von den Gipfeln wieder auf die Höhe des Meeresspiegels hinunter schrauben muss.

Von solchen Busfahrten durch die karstige Bergwelt des ehemaligen Jugoslawien hat schon Peter Handke geschwärmt. Ich kann ihm nur zustimmen. Die Landschaft, die ausschließlich aus weißen und hellen Steinbrocken, Kiefern und unbekannten Sträuchern besteht, ist wunderbar. Ich kann mich nur an eine vergleichbar schöne Busfahrt erinnern, die führte von Oaxaca zurück in die Hauptstadt und vor meinem Fenster waren an den kargen Hängen der Sierra Madre del Sur ganze Wälder aus Kakteen zu sehen. Die Kakteen gedeihen auf Hvar nur in der Küstenregion. In den Bergen oben war es auch neblig, und an den steilen Hängen waren netzartige Muster zu erkennen: das waren Hunderte Trockensteinmauern, mit denen die Kroaten seit Jahrhunderten die Erosion ihrer karstigen Hänge einzudämmen versuchen. Man kann sich diese Arbeit der Bergbevölkerung nicht schwer genug vorstellen. Sie besteht hauptsächlich aus dem Schleppen und Aufschichten von Steinen.

Dementsprechend besteht das Mahnmal für die Opfer des deutschen Nationalsozialismus im Hafen von Starigrad auch aus einem hühnenhaften Mann mit Hammer. Die Stadt Stari feierte übrigens im vergangenen Jahr ihr zweitausendvierhundertjähriges Bestehen. Es gibt eine im Verhältnis zur Größe des Städtchens gewaltige Anzahl von Kirchen. Eine der ersten, sie steht direkt am mit dem herrlich klaren Salzwasser gefüllten Hafenbecken, ist derart übertrieben niedrig und klein, das daneben stehende Kloster dito, dass sich ein plastisches Bild ergibt von der Körpergröße der Menschen vor sechshundert Jahren: Sie waren winzig. Die Bronzestatue des Arbeiters ragt von der Kirche aus betrachtet geradezu Unheil verkündend empor.

Auch in Stari übrigens keinerlei Fisch. Auch auf dem Markt von Starigrad bleibt die Fischhalle während der Belagerung durch die durstigen Briten dauerhaft geschlossen. Kroatisches Sashimi, eine Platte mit dick aufgeschnittener Salami zum kräftigen Brot, wird serviert. Dazu gibt es Unmengen des inseltypischen Trinkjoghurts, der zäh reißend aus dem Flaschenhals in den Schlund fällt.

Schon vom Bus aus war uns am Ende eines Pinienwaldes ein angenehm brutalistisches Gebäude aufgefallen. Dabei handelete es sich, wie wir durch Erkundung dieses Waldes herausfanden, um die Hotelanlage Helios aus den sozialistischen Zeiten. Einer gewaltigen Stadt aus Bungalows und mehrstöckigen Riegelbauten, die sich um verrostete Tennisplätze, Fußballfelder und Minigolfanlagen gruppiert bis an die Küste erstreckte. Dort präsidierte, gewissermaßen als Krone dieser architektonischen Schöpfung, das schönste Hotelgebäude, das zumindest ich je schauen durfte. Es hieß auch so: Arkadia. Erbaut für circa ein- bis zweitausend ihrer Erholung bedürftiger Arbeiter hatte das Haus nichts von seinem ehrwürdigen Glanz verloren. Ganz im Gegenteil: Es wirkte gerade im heutigen Hvar luxuriös. Zurückhaltend, geradezu dezent waren die Speisesäle eingerichtet und kaum dekoriert, in denen gerne fünfhundert Personen gleichzeitig ihr Abendessen einnehmen konnten. Aus der Küche, die eiserne Tür stand einen Spalt weit offen, hörten wir fröhlichen Gesang. Offenbar ging die Arbeit gut von der Hand. Beinahe sämtliche Zimmer wiesen auf die Bucht hinaus. Der Krümmungswinkel des Gebäudes war so berechnet worden, dass von sämtlichen Fenstern aus lediglich die unbebauten Berge und das herrlich türkisblaue Meerwasser zu sehen blieb. So konnte sich jeder hier während seines Aufenthaltes dem Eindruck hingeben, wie es hier auf Hvar vor zweitausendvierhundert Jahren ausgesehen hatte. Vor der Erfindung von Nationalsozialismus, Pub Crawling, Jachten und elektrischem Stroms.

18.9.

Es gibt hier auf der Insel ein Fischproblem, wie wir heute beim Baden erfahren haben, man hat uns davon während des Herumschwimmens im Meer erzählt. Die Fischmarkthalle, die als ein Teil des kleinen überdachten Marktes im Ortskern noch einmal unter einem Extradach eingerichtet ist, war am Montagmorgen wider Erwarten noch immer mit Gittern verschlossen. Über den steinernen Zuschneidetischen drehten sich die Propeller des Deckenventilators, sonst war nichts weiter los. An der Wand hing ein Blechschild, auf dem das Piktogramm einer durchgestrichenen Katze aufgedruckt war. Die Gummihandschuhe der Zerleger lagen auf den Arbeitsflächen bereit. Wie um den Zwang zur Tatenlosigkeit zu demonstrieren.

Denn es ist wohl so auf Hvar, wie uns von Slavica erklärt wurde: Die Touristen verlangen mittlerweile nach derart großen Mengen von Fisch, dass für die Inselbewohner selbst nichts mehr übrig bleibt. Die Fischer verkaufen ihren gesamten Fang direkt ab Boot an die Restaurants auf der schauderhaften Hafenmeile, deren Wirte sie mit marktfernen Preisen locken können, weil sie die zubereiteten Fische zu exorbitanten Preisen an die Briten loswerden. Hierbei sprechen wir ja von Restaurants, auf deren Terrassen man unter weißen Sonnenschirmen sitzt, deren Stoffe von unten her mit an dem Gestänge befestigten Schwarzlichtröhren beleuchtet werden.

Das Meerwasser hat hier eine besondere Qualität, die meiner Vermutung nach damit zu tun hat, dass hier die Brandung beständig an Felsen leckt. Es ist unglaublich salzig. Von daher erfährt man als Schwimmender einen Auftrieb wie sonst nur im Toten Meer. Man braucht nur wenige Schwimmbewegungen, um voran zu kommen. Das Schweben im Wasser besorgt das Wasser von sich aus. Mühelos bewegt man sich stundenlang in den Fluten, ohne müde zu werden. Am Nachmittag fanden wir uns in der Bucht vor dem Restaurant des mystischen Signor Mustačo ganz plötzlich von einem Schwarm kleiner Fische umgeben. Das Wasser ist ja beinahe schon unwirklich glasklar, man braucht gar keine Taucherbrille, um bis in die Tiefe um einen herum sehen zu können. Diese Fische waren silbrig, mit großen, ausdrucksvoll starrenden Augenscheiben und einer feinen, wie mit Tusche auf Alufolie gezogenen Querlinie. Als Abteilung vor ihrem Schwalbenschwanz hatten sie einen senkrechten schwarzen Blockstreifen wie aufgedruckt. Sie verhielten sich zutraulich, umschwärmten unsere Körper. Über uns war keine Wolke am Himmel. Das blieb auch so, und dementsprechend mild gestaltete sich der Sonnenuntergang.

Hvar wird im Volksmund übrigens so ausgesprochen wie waahr. Aber das nur nebenbei.

17.9.

Europa ist beinahe endlos weit: Nach einer zwölfstündigen Reise, die mit einer Fahrt im Regionalzug begann, dann zweimal Flugzeug, und nach der Ankunft im Fährhafen von Split noch eine Fahrt über die adriatische See, kamen wir endlich auf der Insel Hvar an. Dort war es dunkel. Aber während unser aufhaltsamen Reise hatten wir bereits einige Eindrücke von kroatischer Konsumkultur bekommen und von daher fügten wir den schwarzen Bildern, die vor den Fenstern des Überlandbusses an uns vorbeizogen, die eindrücklichsten von ihnen hinzu. Beispielsweise die in kroatischen Städten und auf den kroatischen Flughäfen omnipräsente Werbung für die kroatische Limonade Pipi, deren kurioser Name uns als Nichtkroaten freilich immer wieder zum Schmunzeln bewegt hatte. Vor allem auch, weil diese überall auf großflächigen Plakaten beworbene, und den gemalten Plakatmotiven zufolge wohl orangefarbene Limonade verblüffenderweise so gar nicht leicht erhältlich war, wie es die überall und großflächig auf Werbetafeln ausgehängten Plakate suggeriert hatten. In Split beispielsweise, wo es in ungewöhnlich großen Tropfen warm geregnet hatte, waren wir an jeder der kleinen Imbissbuden dort am Saum der Hafenanlage abgewiesen worden, weil es an keiner der Buden eine Flasche der von uns verlangten Pipi gab.

Unser Haus erreichten wir um kurz nach 21 Uhr. Ein gewaltiges Rauschen fuhr die ganze Nacht lang durch die Pinien auf dem abschüssigen Grundstück, gemischt mit dem Wellenschlag der nur wenige Meter entfernten Steilküste. Wir sanken in einen tiefen Schlaf.

Die Zikaden hier sind beinahe handgroß, dementsprechend laut ertönt ihr feilender Grind noch vor dem Sonnenaufgang, aber man gewöhnt sich daran. Obwohl es sich bei den Kroaten um extrem orthodox lebende Christen handelt, haben die Supermärkte auf der Insel auch am Sonntag geöffnet. Gleich im ersten, der in einer Art Baracke zwischen zwei Felsen untergebracht war, wurden wir im Kühlregal fündig: Pipi schmeckt wie ein kräftiges, dabei extrem lösliches Brausepulver, das mit viel zu wenig Wasser versetzt wurde. Des Weiteren gibt es in Kroatien eine große Auswahl an Würsten im Mortadellaformat, die aber nicht nur appetitlich geformt sind, sondern dazu noch in fußballtrikothaft schimmernden Plastikhüllen abgefüllt angeboten werden. Raffiniertes Kekssortiment. Die Kroaten selbst sind eher wortkarg, fast ruppig. Ein Lifestyle, der vermutlich auch mit durch die Lebenswelt beeinflusst wird, denn die Insel besteht im Wesentlichen aus Kakteen, Pinien und Granatapfelbäumen. Und alle wurzeln sie auf weißen Felsen. Es gibt auch nur ganz wenig Strand, der ist größtenteils an die englischen Touristen verkauft. Eine Leidensgeschichte, von denen insbesondere die Griechen auf Kreta, aber auch die Südfranzosen von Antibes ein Lied singen können. Auf Hvar in Kroatien zeigen Verbotsschilder von dieser schmerzhaften Geschichte einer Unterwerfung der orthodoxen Insulaner unter das britische Joch. Diese Schilder sind wie Höhlenmalereien, sie zeugen von den Schandtaten, deren man mittlerweile zum Glück nicht mehr ansichtig werden muss. Beispielsweise ist dort ein Piktogramm eines schmerbäuchigen Schluckspechts abgebildet, der den Inhalt eines schäumenden Maßkruges in sein Pez-spenderhaftes Maul hineinschüttet, dabei aber auch noch torkelnd tanzt und singt. Strafe: 120 Euro – es scheint die einzige Sprache, die dieses Volk der Unholde versteht. Die Kroaten selbst sprechen ein schönes, wenn auch schlankes Englisch; sind wie gesagt vom Naturell her eher wortkarg wie ihre geliebten Berge, die weiß und nur von Kakteen, Granatäpfelbäumen und hier und da von Pinien bewachsen aus der Inselmitte in den Hintergrund ragen. Dazu viele Kirchen, deren Türme aus dem Inselfels vierkantig gebaut sind und an den Film Vertigo von Alfred Hitchcock erinnern. Ebenfalls verboten ist das Betreten der Kirchen oben ohne, sowie das Verzehren von dreieckig zugeschnittenen Pizzastücken, während man auf dem Boden sitzt, Maßkrüge in sich hineinleert, und dabei im Sitzen torkelt und singt.

Gottseidank war es aber bei unsererem umsichtig gewählten Ankunftstermin so gewesen, dass dort auf Hvar schon das Saisonende gefeiert wurde. Und Hvar ohne Engländer ist lieblich. Das Meerwasser klar, es fällt von der Steilküste gleich metertief ab und man schaut, im dunkelblau glitzernden Wasser herumschwimmend, auf seine eigenen Füße. Der Felsboden darunter ganz weiß. Es duftet nach Pinien. Seltsamerweise gibt es kaum Vögel. Die Kroaten servieren sehr guten Kaffee.

14.9.

In den vergangenen Tagen waren die beiden halben Stunden jeweils vor dem Aufgang und vor dem Untergang der Sonne mein Geschenk. Beschenkt wurde ich morgens von Stille, die um sechs Uhr noch beinahe absolut ist am See, bis auf vereinzeltes Knarren aus den Schnäbeln von Wasservögeln. Ein Rauschen geht durch das Laub an den Bäumen wie der Wellenschlag. Dazu der tröstliche Anblick des letzten Bildes von Heiner Geissler auf der Zeitung. Die Totenmaske des Bergsteigers im Alpenglühen. Kohls Gesicht: ein schmelzender Haufen von Deftigkeiten. Es gibt Menschen, die behaupten, in meinem Gesicht lesen zu können wie in einem Buch.

Von all meinen guten und schlechten Ideen war es die beste, aus dem Stadtkern hierher an den belebten Rand umzuziehen. Selbst nach einem verstörenden Traum reicht es aus, eine halbe Stunde lang auf das Wasser zu schauen, und ich finde mich wieder hergestellt. Das hält bis zum Abend, wenn es am Boden längst dunkel ist und sich am Himmel zwischen den schwarzen Wipfeln noch Reste von bunt gesäumten Wolken zeigen wie in den blauen Stoff gebrannt.

Vor dem kleinen Hotel gegenüber war gestern ein Trupp aufmarschiert, insgesamt keine zwanzig Menschen, vom Schüler bis zur stämmigen Greisin mit Kurzhaarfrisur, die demonstrierten gegen die allwöchentlich Versammlung der AfD-Ortsgruppe. Von den Polizisten waren sie angehalten, in einem Abstand von zwanzig Metern vor dem Hotelrestaurant zu verbleiben. Unter der großen Kastanie vor der Bäckerei entrollten sie ein Transparent, auf dem mit roter Farbe bespritzten Buchstaben geschrieben stand: »Euer Deutschland treiben wir ab«. Dazu wurden Fahnen der Linken Piraten, der Linken und der AntiFa geschwenkt. Ein junger Mann in einem Anzug aus fleischwurstfarbenem Plüsch, dessen Kapuze mit den Augen und dem Rüssel eines Schweinekopfes bestickt war, las eine Ansprache ab, die über Lautsprecher übertragen wurde. Zwei Männer dokumentierten den Aufmarsch mit den Kameras in ihren Telefonen. Einzelne Passagen der Rede wurden wiederholt, um aus anderen Perspektiven aufgenommen zu werden, dabei gruppierten sich auch die Protestanten mit den Fahnen um, sodass es auf den diversen Einstellungen stets so aussehen würde, als ob sich eine üppige Menge von Fahnenschwenkern spontan um den Redner im Plüschanzug geschart hätte. Für die komplette Studioproduktion vor Greenscreen fehlt der Widerstandsbewegung vermutlich das Geld.

11.9.

Ich stelle fest, dass ich leider sehr ungeduldig bin, wenn Autoren mir von ihren Schreibproblemen erzählen wollen. Ich lese das sehr gern, aber im Redaktionsalltag verfahre ich nach dem äthiopischen Sprichwort* Keine Ausreden, bloß Ergebnisse – der Satz sieht in den wie aus Zweigen gefügten Schriftzeichen der amharischen Sprache dazu noch hübsch aus; er hing in dem Hotel, in dem ich einige Zeit meines Lebens wohnte, über dem Eingang zum Küchentrakt. Das Schild freilich in sich schief und dann noch einmal schief an die Wand angebracht. Und außerdem hielt sich niemand dran.

Die schlechteren der Autoren liefern einen Text, der wie Dornröschens Garten wirken soll. Die angeblichen Gedankengänge schlingen sich umeinander wie Brombeerranken, kaum ein Anfang führt irgendwo hin. Alles scheint miteinander verbunden, so als hätte Adorno nicht eindringlich genug davor gewarnt, dass nur der Laie verbinden will. Da hilft bloß noch abholzen. Und hoffen, dass aus den Strünken dann noch irgendetwas keimt. Im Zweifel mache ich es dann halt selbst.

Die besseren der schlechteren Autoren, und das ist mein Update für Hinter den Spiegel erzählen ihr Thema in drei abgeschlossenen, miteinander beliebig komponierbaren Blöcken. Das macht es dem Redakteur einfacher. Und dem Autoren bringt es den Vorteil, dass er leicht überprüfen kann, ob sich in jedem seiner Blöcke überhaupt ein Gedanke befindet. Adorno und Kubrick kannten sich nicht.

Am Abend, die Bahn legte sich in die Kurve zwischen Zoologischem Garten und Savignyplatz, sah ich zwischen zwei Häusern den Sonnenball. Es gibt sie leider noch nicht, diese App, die mir zu jeder Tageszeit die fraglichen Cafés anzeigt, vor denen ich noch im Sonnenschein sitzen könnte. Aber ich kann auf Erfahrungswerte zurückgreifen. Ich ging rasch bis zum Cheesecake und bekam einen idealen Platz mit Aussicht in die lange Straße, an deren Ende die Sonne versank. Das Pflaster färbte sich orange im Widerschein, die Fassaden gaben es wieder. Um diese Jahreszeit dauert das Naturwunder nur noch zehn Minuten. In der Dämmerung blinkte ein Auto dort noch lange mit orangefarbenen Warnleuchten. Wie ein Sample des vergehenden Sonnenlichts.

*In Äthiopien wird heute das Neujahrsfest gefeiert. Die Regenzeit ist vorüber. Es blüht die kleine Mezkalblume und die bunten Mezkalfinken piepsen all überall aus den Avocadobäumen. Ich wünsche meinen braunen Freunden von Herzen ein Frohes Neues Jahr—Igziabeher Mezkal!

10.9.

Der Absturz des Redaktionssystems sorgte für einen unerwartet freien Samstag. In etwa wie Hitzefrei. Was macht man da? Im Kühlschrank hatte ich die Zutaten für den Pistazienkäsekuchen nach dem Rezept von Eyal Jagermann, von dem ich nur Gutes gehört hatte. Teilweise waren diese Zutaten schwer zu beschaffen gewesen. Andere, vor allem Mascarpone und die vielen Eier, lebten dort in meinem Kühlschrank in der ständigen Gefahr, noch vor der ihnen ursprünglich zugedachten Verwendung aufgegessen zu werden.

Bei Martina und Moritz ging es in dieser Folge um Schönes aus Hackfleisch. Beeindruckend fand ich eine Roulade aus ganzen Mangoldblättern, belegt mit Schinken und darauf noch eine Schicht Käse, in die das Hackfleisch eingerollt wurde. Die Roulade selbst wurde dadurch so lang und auch von ihrem Umfang her wie ein Frauenarm. Es gab dann in der ansonsten gut sortierten Teleküche der beiden nur eine einzige Reibe, in die der dunkelgrün glänzende Stumpf hineingepasst werden konnte (und das auch nur diagonal). Im Anschnitt zeigte sich dann ein appetitliches Schneckennudelmuster – bravo! Ich sehe es übrigens nicht ohne Besorgnis, dass der WDR seit einigen Wochen ein, wie es heißt, Ökosystem, um diese herrliche Sendung, ein Klassiker seit über dreißig Jahren immerhin, drumherumbaut. Vorher, was da zuvor immer lief, weiß ich gar nicht, kommen jetzt auf jeden Fall immer die Cocktailtipps eines Barkeepers. Seit neuestem werden die auch noch durchmischt oder aufgelockert mit zwei kochenden Frauen, die in Schürzen ohne viel drunter Rosenkohl kneten und alles lecker finden. Als Fan und Kenner von Martina und Moritz finde ich dieses Umfeld herabwürdigend. Wahrscheinlich will man sie aus dem samstäglichen Vorabendprogramm gentrifizieren.

Der Kuchen musste dann über Nacht eingefroren werden. Kam mir abstrus vor, hat aber funktioniert. Er ist außen extrem knusprig, im Anschnitt zeigt er sich von innen grün. Die Farbe bekommt er von dem erwähnterweise schwer zu beschaffenden Pistazienmark. Schmeckt tatsächlich so genial, wie von den Gästen des Barbary behauptet wurde. Musste allerdings sofort mit Leberwurstbroten gegensteuern.

Schade, dass die Amseln um diese Zeit im Jahr verstummen. Geräusche machen nun vor allem die Blaumeisen. Eine, ich kenne sie nun schon im zweiten Jahr – zumindest bilde ich es mir ein, dass es dieselbe ist, die im vergangenen Winter an mein Schlafzimmerfenster geklopft hatte, empört, weil ich keine Meisenknödel zur Verfügung gestellt hatte –, hüpft gerne ins zentrale Gelenk der Äste des Kirschbaumes, wo sie noch von den Blättern verborgen sitzen kann, um minutenlang vor sich hinzuschimpfen. Mit einer Stimme, die nicht etwa blau klingt, sondern silbern.

8.9.

Gestern traf ich im Aufzug den alleinstehenden Herrn, der in den Räumen über der Redaktion das sogenannte Pfötchenhotel betreibt. Ein freundlicher Mann. Die Tiere werden allerdings nicht bei ihm auf der Etage aufbewahrt, er nimmt sie dort lediglich von ihren Besitzern entgegen und fährt sie abends dann in einem Sammeltransport nach Brandenburg. Die Hunde, das hat er mir einmal erzählt, spielen auf ehemaligen Weideflächen. Er hat dort für sie eine Ballwurfmaschine aufgebaut. Manchmal wird für ihn Paketpost in der Redaktion abgegeben. So kamen wir ins Gespräch.

Während der Aufzugfahrt fragte ich ihn, welches Tier sein bislang ungewöhnlichster Gast war: »Eine Blaukrabbe (Callinectes sapidus)«. Die war im Gepäck eines Heimkehrers vom Zoll aufgespürt worden. Bis ein geeigneter Pflegeplatz in einem zoologischen Aquarium gefunden war, brachte die Behörde den Meeresbewohner im Pfötchenhotel unter. Der Hotelier erzählte, dass sie sich dafür erst kundig machen mussten, wie sie die Krabbe für die Dauer ihres Aufenthalts im Haus artgerecht verpflegen konnten. Nach einer Woche wurde sie dann in ihr neues Heim, einem Sammelbecken für westatlantische Krustentiere im Aquarium des Zoologischen Gartens umgezogen, das sich am Fuße des Interconti befindet.

Unvorstellbar, eigentlich. Vorstellen kann ich mir hingegen Länder, da würfe der Zollbeamte so einen Fremdling einfach weg.

7.9.

Abends standen am Ende des Fußgängertunnels zur Heimatseite vier Polizisten nebeneinander aufgereiht. In schusssicheren Westen, mit Waffen und allem. Für mich sah das so aus, als ob in dem kleinen Hotel gegenüber wieder einmal die AfD tagte, und dass nun in der sogenannten heißen Phase sogar die Unterführung durch Polizisten bewacht würde, um eine Wiederholung der Auseinandersetzung mit der Antifa, wie im Mai und Juni geschehen, zu verhindern. Aber dann löste sich aus der Mitte des Viererriegels ein Kameramann, die Formation fiel auseinander, weil die Einstellung beendet worden war. Es handelte sich um wirkliche Polizisten, keine verkleideten Darsteller. Gedreht wurde ein Werbespot für den Polizeidienst mit dem Slogan »Stark für Dich«. In der Dämmerung, draußen, war ein Cateringzelt aufgebaut. Der Mann am Suppentopf sah aus, als könnte er bei der Antifa mitspielen. Vor dem kleinen Hotel war, wie immer, wenn die AfD dort nicht tagte, nichts los.

In dem Sommer der Riots am Wannsee war an einem Abend auch der uns bislang unbekannte Bruder des hotelbetreibenden Russen aufgetaucht, er nannte sich Boris. Es war sein Geburtstag, er trug eine Flasche mit Schnaps auf einem Holzbrett herum und lud Wildfremde ein, mit ihm ein Glas Wodka zu trinken, der sich jedoch als Nordhäuser Doppelkorn, eisgekühlt, herausschmecken ließ. Von Boris erfuhren wir an diesem späten Abend, da war es noch hell gewesen bis zehn, dass er die Zimmer des Hotels auch stundenweise vermietet, und dass er die Kellnerinnen in seinem Restaurant, das immer leer ist, wenn die AfD dort nicht tagt, ebenfalls stundenweise vermietet. Vorzugsweise im Doppelpack mit einem der Zimmer. Und dazu machte er, das Tablett hierzu auf einen der Tische des kleinen Cafés nebenan abgestellt, eine Pantomime eines sich durch eine gelatinöse Atmosphäre bewegenden Astronauten, der einen mit Wackersteinen beladenen Einkaufswagen mit blockierten Rollen allein durch die mächtigen Stöße seines Beckens vorwärtsschieben muss, ohne dabei den Griff seiner behandschuhten Hände von der Griffleiste des imaginären Einkaufswagen zu lassen.

Seitdem ich nun weiß, was hinter den mit geklöppelten Stores verhängten Fenstern des kleinen Hotels im denkmalgeschützten Ensemble meines Bahnhofs, wie es heißt: vor sich geht, nehme ich den Tunnel. Der übrigens, so gar nicht wannseehaft, eine derart siffige und zwielichtige Atmosphäre hat, dass er den Location-Scouts der Agentur, die mit den Werbespots für die Polizei beauftragt wurde, als noch streetiger erschienen sein musste als beispielsweise der berüchtigte am Kottbusser Tor.

6.9.

Am Ende der Bahnstrecke stieg ich aus auf einen unüberdachten Bahnsteig inmitten der Ortschaft, umgeben von Baustellen. Hier wurde heftigst gebaut. Wie der Taxifahrer mir später erklären würde, handelte es sich bei seinem Heimatort um die am schnellsten wachsende Kleinstadt in Brandenburg. Einst überwiegend von Villen bestanden, die für die Ingenieure der Siemenswerke in Spandau errichtet worden waren, hat sich die Einwohnerzahl nun in wenigen Jahren verdoppelt. Und es ist, davon zeugen reihenweise Rohbauten im Betongussverfahren mit ihren in gelb daraus aufragenden Kränen, kein Ende abzusehen. Die AfD hat üppig plakatiert. Das Ortsbüro der Partei residiert auf der Hauptstraße in einem ehemaligen Ladengeschäft. Erst sehr viel später würde ich am Ortsausgang noch ein Plakat der CDU zu sehen bekommen. Ansonsten ist es hier vor allem unheimlich flach und weit, das betrifft auch den Himmel.

Die Hauptstraße zog sich ziemlich in die Länge, dabei wurde sie schmaler und mündete schließlich, nach einer Kreuzung zur Straße der Einheit, in eine mit einhundert Jahre alten Bäumen bestandene Allee. Vor dem Haus, in dem sich angeblich die Firmenzentrale von Rammstein befinden sollte, gab es hinter einem schwarz lackierten Zaun einen düsteren Garten. Ansonsten deutete nichts weiter darauf hin, dass hier Geschäfte mit Musik gemacht wurden. Es war also passiert, ich habe im letzten Jahr schon einmal darüber geschrieben, was in Berlin ab und an vorkommen kann - manche Straßennamen existieren zweifach, aber Google führt davon nur eine im System, weil seit der letzten Erfassung die eine von beiden entweder verlängert oder verkürzt, umgeleitet oder gleich überhaupt noch nie erfasst worden war. Man verlässt sich ja nicht allein auf ein Telefon, das aus Glas besteht, sondern auch auf die Autorität eines Navigationssystems für dessen Angaben keinerlei Gewährleistungspflicht besteht.

Mit einem Anruf - exotischerweise - lies sich meine Irrfahrt schnell aufklären. Auch die Schuldzuweisung erfolgte einstimmig, bloß half das nichts zu der Tatsache, dass ich mich wenige Minuten vor dem vereinbahrten Gesprächstermin etwa eine Stunde Autofahrt vom entgegengesetzten Ende der Stadt, dort im Norden befand. Wobei die freundliche Managerin der Rammstein GbR zugab, dass es durchaus wahrscheinlich sein könnte, dass sich die Firmenzentrale in einem unverputzten Einfamilienhaus in Brandenburg befindet. So kam ich zumindest zu einer Spazierfahrt durch die Landschaft um Spandau, sowie durch Spandau selbst, wo dann bald wieder die Plakate sämtlicher Parteien aufgestellt waren, auch die von der FDP mit den stimmungsvollen Schwarzweißaufnahmen Christian Lindners, die beim Hausfotograf Rammsteins, Olaf Heine, in Auftrag gegeben worden waren.

Das Gespräch mit Flake fand dann in einer Fabrikhalle statt, die Hochregale mit dem Merchandising reichten bis an den Horizont. Wir saßen dort auf schwarzen Ledersesseln und tranken Cola Zero, später dann auch Cola Light. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit einem derart sanftmütigen, empfindsamen und, ja: zartfühlenden Mann gesprochen zu haben, dessen Kunst ja für das komplette Gegenteil steht. Wie einfach es scheint, die Wahrheit sagen zu können, wenn man sich seiner Mittel bewusst ist.

5.9.

Das iPad weckt mich um kurz vor halb sechs. Draußen ist alles noch bläulich. Damit geht eine herrlich ereignislose Zeit zuende, von mir aus gesehen: zu früh. Wobei ich nicht untätig war. Um mich auf mein Gespräch mit Flake vorzubereiten, hatte ich mir, gewissenhaft wie ich bin, sämtliche Konzertaufnahmen angeschaut, derer ich habhaft werden konnte. Das waren, auch dies trug bei zu meinem Gefühl einer ereignislos vergangenen Zeit, unendlich viele. Das iPad, um hier einen legendär gewordenen Satz des frühen Helge Timmerbergs zu zitieren, stöhnte wie eine rollige Elefantenkuh. Wobei es dann doch erstaunlich war für mich, wie korrekt und pünktlich, wie im besten Sinne bürokratisch und seriös die Organisation von Seiten der Rammstein GbR abgewickelt wurde: Zack kommt ein wasserdichter Vertrag, den man zu unterschreiben hat und danach zurückschickt; postwendend kommt der paraphiert und als Bestätigung zurück. Kann abgelegt werden. Wurde er, im Original dann auch auf der Gegenseite, also dort, im Brandenburgerischen hinterm Stadtrand. Vom Apparat her und auch sonst eine Weltklasseband. Vergleichbar am ehesten noch mit dem Cirque de Soleil, bloß lauter.

Ich bin nun vor allem auf das Örtchen gespannt, den lauschigen Weiler, in dem sich der Sitz der GbR befindet. Auf der Karte ist außer Häusern nichts weiter verzeichnet als eine Autoreparaturwerkstätte. Die Fahrt dorthin dauert angeblich etwas mehr als eine Stunde, dabei geht es einmal quer durch die Stadt, dann in einer Haarnadelkurve wieder zurück und hinaus ins Grüne. Die Erinnerungen an die Uckermark sind noch frisch. Ich mag das Umland von Berlin nicht. Kaum vorstellbar, dass es ausgerechnet dort, wo Rammstein verwaltet wird, schön sein könnte. Durch meine Anschauung vielleicht.

3.9.

Zur späten Stunde noch mit Jan ins Tanztheater in der entweihten Kirche St. Elisabeth. Sasha Waltz inszeniert Women. Man sitzt, teilweise barfuß, um eine ebenerdig eingelegte Bühne. Vom Stück bleibt mir das erste Bild: Da stehen die Tänzerinnen eng umeinander geschart, sie sind noch vollständig bekleidet und machen mit ihren nackten Armen eine kontinuierlich um sie herum fließende Bewegung. Es wirkt tatsächlich so, als sei dies dort ein Leib des multipeden Wesens. Die Erinnerung an diesen Händebrunnen ist am Morgen sofort wieder da, hat sich eingebrannt.

2.9.

Eigentlich hatte ich den asiatischen Supermarkt nur besucht, um meine Seifenvorräte aufzustocken. Nur dort gibt es diese herrlich duftende Seife aus marineblauem Material, die nicht nur eigenartig geformt ist, sondern auch noch antibakteriell wirken soll. Worauf es mir aber nicht ankommt, mir geht es allein um den schönen Duft, den diese Seifenstücke auch im unaufgeschäumten Zustand verströmen. Das ganze Badezimmer atmet auf. Vor Jahren wurde diese Seife noch in England hergestellt, mittlerweile kommt sie aus Nigeria, der Firmensitz wurde nach Mauritius verlegt. Durch den mehrfachen Export ist sie freilich etwas teuer, aber immerhin kommt sie so überhaupt auf den deutschen Markt.

Der Supermarkt ist riesig. Die langen Wände sind gesäumt von Kühlregalen, in denen es die eigenartigsten Tier- und Pflanzenteile zu kaufen gibt. Ich schaue mir das alles gerne an und muss dabei immer auch an Roland Barthes denken, der viel zu früh verstorben ist, um noch in den Genuss der Globalisierung kommen zu dürfen. Mit Roland Barthes im asiatischen Supermarkt, das wäre die Idee für eine Fernsehsendung, die ich selbst gerne anschauen würde. Zum Beispiel entdeckte ich dort gestern beim absichtslosen Schauen ein hübsch verpacktes Produkt. Dabei handelte es sich um ganze Quallen. Die waren transparent und, von einer klaren Flüssigkeit umgeben, in einer durchsichtigen Tüte aus dickwandigem Gummi eingeschweißt. Die Verpackung war in leuchtendem Pink in einer Helvetica bedruckt. Sah aus wie von Helmut Lang, kostete aber nur 8 Euro 90 das Stück. Ich war nahe dran zuzugreifen, vor allem auch, weil sich die Qualle so angenehm anfühlte. Ich muss da schon einige Zeit mit der Qualle in den Händen, versonnenerweise darauf herumtastend, vor dem Regal verharrt haben, bis es mir auffiel, wie eventuell geistesgestört das auf die anderen Kunden wirken könnte. Sogleich fielen mir die Worte Jack Piersons ein, einem Künstler, dem ich am Vortage nach New York geschrieben hatte, weil er am kommenden Dienstag nach dem Labour Day Weekend ein paar Fotos machen soll von einem greisen Keramikkünstler, dessen Miniaturskulpturen (sie sind kaum größer als ein Tennisball, wirken aber gigantisch) ich endlos faszinierend finde. Also schrieb ich ihm in ein paar Zeilen, wie ich sie sehe, was ich beim Anschauen dieser Skulpturen empfinde, in der Hoffnung, ich würde ja leider nicht anwesend sein können, dass sich mein liebender Blick auf seine Wahrnehmung überträgt. Ich schrieb, die Teile wirkten auf mich, als schaute ich auf vergrößerte Aufnahmen von Moos. Am Morgen darauf erhielt ich seine Antwort: »Thank you for sharing your enthusiasm Joachim.«

Ich finde es selten leicht, mich mit Amerikanern zu verständigen. Ich weiß auch nicht genau, woran es liegt, aber ich finde den Umgangston der meisten Amerikaner, mit denen ich es zu tun habe, lustbremsend. Vielleicht ist meine Begeisterung aber auch wirklich daneben. Nachdenklich legte ich die Qualle zurück ins Regal.

Später dann noch kurz auf dem Sommerfest von Matthes & Seitz, das an einem sehr schönen Ort am Helmholtzplatz eingerichtet war. Machte mich auch ein bisschen nervös, weil ich der einzige war unter siebzig. Ein Dichtergreis mit blond gefärbtem Haar hielt ein Glas Weißwein in der Hand und fabulierte vom kulturellen Niedergang des Prenzlauer Bergs. Nach dem Mauerfall habe sich dort eine knospende Blüte befunden. 2008 wurde sie dann von den dänischen und spanischen Investoren überflogen zur tödlichen Befruchtung mit Kapital.

1.9.

Um sechs Uhr kriecht eine kühle Feuchtigkeit in den Raum, noch ist es still. Wellenhaft fährt ein Rauschen durch das Laub an den Bäumen. Meine ich das bloß, oder fangen die Blätter schon zu rascheln an? Am Ahorn gegegnüber sind wenige Blätter mit roten Rändern gesäumt. Die Bündel der geflügelten Samen, die wie Rotoren kreiseln werden, haben Rostfarbe bekommen. Ohne das Fernrohr zur Hilfe nehmen zu müssen, zeigt sich auf den Blättern des Kirschbaumes ein Belag aus rötlichem Staub über dem dunklen Grün; es ist kein Staub, auch hier beginnt die Färbung. Das iPad meldet eine Lufttemperatur von 12 Grad.

Kurz nach sieben sind die kleinen Wolkenpunkte am eisblauen Himmel zu einer milchigen Schicht verlaufen. Gestern schaute ich um die Mittagszeit aus dem geöffneten Fenster, weil ein heftiger Wind aufgekommen war. Da war am einen Ende der Straße der Fernsehturm im Sonnenlicht zu sehen, umgeben von weißen Wolkenhaufen, aus deren Masse heraus er aufragte, als ob er sie quirlend steifgeschlagen hatte, und am anderen Ende zog eine dunkelgraue Decke heran, die reichte dort wie ein Schatten über die Häuser bis zum Horizont. Augenblicke später ging aus dieser Konfrontation zweier Lagen der Regen hervor.

Dunkel wird es jetzt kurz nach zwanzig Uhr. Meine Schuhe, sie sind weiß, leuchten auf dem Boden zwischen den Kieferstämmen. In 22 Tagen beginnt das astronomische Winterhalbjahr. Am Rhododendron ist alles schon schlaff und hängt runter. Vor ein paar Monaten habe ich angesichts der nackten Bäume geschrieben, ich könnte mir nicht vorstellen, dass an denen bald wieder Grünes erscheinen würde. Gerade kann ich mir nicht vorstellen, dass all dies üppige Grün um mich herum bald schon weggeflogen sein wird. Mitsamt dem Zirpen der Vögel, dem Rascheln des Holzkohlensacks, dem Klappern der Teller, dem Gelächter im Dunkeln und dem guten Duft der Wäsche, die im Freien getrocknet worden war.

31.8.

Wovon wir reden, wenn wir von Matratzen reden: Kaum hatte ich das iPad ausgewickelt, war es schon wieder defekt. Dieses Mal nicht wegen der Benutzeroberfläche – die neue Glasplatte teilte dem Prozessor meine Wünsche einwandfrei mit – jetzt streikte der sogenannte Home Button, der vor der Einlieferung in die Werkstatt als einziges Teil noch funktioniert hatte. Und der leider auch den Sensor für die Fingerabdruckerkennung enthält. Der Mechatroniker vermutete am Telefon, dass dies mit dem nicht von Apple autorisierten Klebstoff zusammenhängen könnte, der in ihrer Werkstatt für die Reparaturen verwendet wird. Für den Glasplattentausch eines normalgroßen iPads oder iPhones wird kein Klebstoff verwendet. Die Glasplatte des iPad Pro allerdings wird in das Metallgehäuse geklebt. Hierfür steht der von Apple autorisierte Klebstoff zur Verfügung, der allerdings extrem teuer ist. Schon wenige Tropfen schmälern den Gewinn der Werkstatt. Also probiert man es zunächst mit einem Alternativkleber, dessen Einsatz natürlich schlechtere Ergebnisse zur Folge haben kann. Der von Apple verwendete Klebstoff würde jetzt, da mein Gerät sich als defekt erweise, aber eingesetzt, sobald ich es zur Beseitigung des Mangels erneut einliefern würde.

Und immer so weiter, und immer so fort. Ich befinde mich heute im dritten Kreis des Reklamationsverfahrens. Wenn ich bloß von dem Gerät nicht derart abhängig wäre. Jan hat mir einmal erzählt, dass er sich während des legendären großen Stromausfalls in New York aufgehalten hatte. Noch am Tag war ihm endlich eine Lösung eingefallen für ein textliches Problem und er fing an zu schreiben wie beseelt. Als dann die Nacht hereingebrochen war, fiel der Strom aus (angeblich wurden daraufhin ja deutlich mehr Amerikaner gezeugt, erzählen sich die Amerikaner – ein Zusammenhang, der mir nicht einleuchten (sic) will), und er saß da vor seinem Laptop und bald darauf ging dem die Batterie aus. Die Gedanken waren aber noch da. Die Kerze brannte. Que faire! Wie Jan erzählte, hat es dann noch eine Weile gedauert, bis ihm einfiel, dass er ja auch mit der Hand schreiben könnte – mit einem Stift auf Papier.

Na ja, so ungefähr. Gestern gingen wir dann noch ins Literarische Colloquium, wo Ijoma Mangold aus seinem Buch vorlas. Man saß dort am Wasser unten, die Veranstaltung war ausverkauft. Florian Illies führte ein und es passierte ihm das, was ich von mir selbst kenne, wenn ich vor Publikum sprechen soll. Es ist ein fürchterliches Gefühl, die Kehle wird zugeschnürt, bis meine Stimme etwas froschhaft Gequetschtes bekommt. Dazu, innerlich und nur für mich fühlbar: Herzrasen und Sauerstoffmangel. Es ist schlimm, es fühlt sich tödlich an, man glaubt wirklich, wenn das so weitergeht, dass man dann erstickt und dabei schauen einem dann wahlweise 100 bis noch viel mehr Menschen zu. Als es dunkel geworden war, es brannte ein gelbliches Leselämpchen auf dem Podest, gab es reichlich Geschnatter unter den Enten auf dem Steg nebenan. Die um ihre Schlafplätze zankten. Aber derart laut und unverfroren! Und vor Schwanenwerder ließ sich einer im Dunkeln auf Wasserskiern ziehen. Der alte Exzentriker. Wer sich auch nicht um die Literatur schert: Stechmücken. Als ich ging, signierte Ijoma noch immer. Fleischwurst zum Frühstück.

30.8.

Beinahe eine Woche lang musste ich auf das iPad verzichten. So lange dauerte die Reparatur der Glasplatte, über die ich es bedienen kann. Das Unglück war passiert, als die das Gerät umgebende Tasche von einer überraschend betätigten Türklinke abgerutscht und zu Boden gefallen war. So etwas prägt sich ein. Der Stoß des Aufpralls hatte dann, so ließ es sich rekonstruieren, von einer der vier abgerundeten Ecken des Metallgehäuses aus den Glasdeckel tsunamihaft durchfahren, dergestalt, dass von dort aus nur noch Brösel in der einen Ecke über langliederige Splitter auslaufend die gesamte Oberfläche unterteilten. Glatt so, als ob man aus kurzer Distanz in die Eisdecke eines winterlichen Sees gefeuert hätte. Sah freilich wunderschön aus mit dem darunter leuchtenden Bild und dem in Schwarz abgehobenen Netz von Bruchkanten. Das Gerät war damit hin.

Und damit begann für mich ein veritabler Grind, wie er in der deutschen Literaturgeschichte zum letzten Mal von Rainald Goetz dokumentiert worden war, als er sich eine neue Matratze kaufen wollte. So ähnlich also, so langwierig auch, aber auch so anders. Oft musste ich an Spandau Ballet denken, und wie weise die auf ihrer zweiten Platte, die den Knaller True beinhaltet, ein auch sehr schönes Stück aufgenommen hatten, das nicht bloß Communication heißt, sondern auch noch davon handelt – sehr lange vor der Erfindung des Mobiltelefons (im Videoclip wird noch mit an den Restauranttisch servierten Festnetztelefonhörern an weißen Spiralkabeln kommuniziert); noch sehr viel länger vor jener Erfindung, die der Consigliere einst auf einer von Jans Geburtstagsfeiern mit kritischem Blick kritisiert hatte: »Wer denkt sich denn bitte so etwas aus — ein Telefon aus Glas

Nun hat eben diese Erfindung einen Geschäftszweig hervorgetrieben – langweilig wird Marktwirtschaft halt tatsächlich nie –, der sich ausschließlich mit der Reparatur zerbrochener Telefone beschäftigt. Beim Nafri an der Ecke kann man sein iPad Pro allerdings nicht einliefern. Die zwar komfortable, aber halt auch sehr große Glasscheibe wird dort nicht bevorratet. Mein aufhaltsamer Weg führte mich dann schließlich doch nach Kreuzberg, in einen sprichwörtlichen Hinterhof, in dem man früher wahrscheinlich auch schon einmal eine tatsächliche Glaserei (für Fenster und Artverwandtes) vermutet hätte. Im ersten Stock dort stand die Türe offen, weil gerade Limonadenkisten angeliefert wurden. Der Empfangstresen war aus Europaletten gezimmert, über dem Kunstledersofa hing ein großer Schwarzweißausdruck jenes Fotos, das die Pariser Kommune beim Rauchen mit nackten Frauen auf den von Oscar Niemeyer eigens für das Rauchen mit nackten Frauen in der Pariser Kommune entworfenen Sesseln zeigte. An der Tür dieses Etablissements – also an der wirklichen Tür, nicht an der auf dem Foto – hing ein Schild mit dem altvertrauten Logo aus vier bunten Würfelchen. Darunter stand Axel Springer Mediahouse. Vermutlich wurde dort also eine App zum Hundefuttervertrieb programmiert.

Im nächsten Stockwerk Architekten, die braucht man ja auch ständig, und darüber residierte die Werkstatt für gebrochene Telefone aus Glas. Die machen nichts anderes. Und gehören anscheinend auch zum Konzern Axel Springer, denn auf der Wartebank, einem ralphlaurenhaft abgeschabten Sprungkasten aus dem deutschen Turnunterricht, lagen wie absichtslos verstreut ausnahmslos Zeitschriften aus den konzerneigenen Verlagen: die Kunstzeitschrift Blau, die Musikzeitschriften Metal Hammer und Musikexpress, die Modezeitschrift MeStyle und die Bildzeitung Bild. Ansonsten, es ist ja glaube ich nicht so schwierig, Glasplatten auszutauschen, arbeiten dort interessanterweise lauter Männer, die aufgrund ihrer Meniskusprobleme nicht mehr als Radkuriere arbeiten können, aber noch immer so aussehen, auch von den Frisuren her, als könnten sie doch. Auch vom Umgangston her, von ihrem Lingo. Es hat sich also, Stichwort Marktwirtschaft und Spandau Ballet, seit den späten achtziger Jahren über der Klasse der Radkuriere eine vergleichbar freigeistig gesinnte Klasse von Entrepreneuren etablieren können, die sich natürlich noch immer am filmischen Vorbild des klempnernden Anarchen Harry Tuttle orientiert. Fahrradkuriere gibt es immer noch. Mein repariertes iPad wurde mir dann von einem solchen gebracht. Und unterhalb der Radkuriere sprießen die Radler mit dem Thermorucksack von Foodora und was es da an Essensbringdiensten noch so gibt.

26.8.

Landpartie zur Rautenklause in der mythischen Uckermark, um Annes Geburtstag zu feiern. In den deprimierenden Straßendörfern wird ein ganz anderer Wahlkampf geführt. Hier sind es vor allem die Plakate von AfD und NPD, die der Linken Konkurrenz machen. Neulich hatte ich noch in der Zeitung gelesen, die NPD sei gar nicht zugelassen worden zur Wahl, möglicherweise aber doch in der Uckermark; oder die Plakate waren da halt schon an die Laternenpfähle gehängt und jetzt bleiben sie dort als Dekoration. Schön sind sie aber nicht. »Hol’ Dir dein Land zurück!« steht bei der AfD, »Maria statt Scharia« bei der NPD (die Kandidatin heißt so: Maria). In dieser grauen, unverputzten und verbastelten Umgebung wirkt die corporate identity der AfD mit ihrem Himmelblau und dem Logo eines signalroten Bumerangs, der bei genauerem Nachdenken eine Fusion ist aus den Logos des Pauschalreisenveranstalters TUI und des Privatsenders Kabel 1, natürlich bauerfängerisch genial. Das genommene Land, von dem die AfD fabuliert, ist abgeerntet, flach und öde. Hier wird das Stroh noch zu Vierkantballen gepresst – wie früher. Schmetterlinge gibt es auch noch und sämtliche Sorten von Stechmücken, sogar die gemeine Viehbremse – in der Stadt längst eine Rarität.

Auf dem Parkplatz des Supermarktes die üblichen Dramen. Bloß dass die Frauen sich hier die Haare färben und man fragt sich, was die beruflich machen. Hier gibt es ja beinahe nichts. Und was es gibt, macht um 18 Uhr zu. Der Sonnenuntergang über dem spiegelglatten See war freilich sehr schön.

Heute hat meine Mutter Geburtstag. Die Bedeutung des Geburtstages wandelt sich im Laufe des Lebens. Vom Höhepunkt des Kinderjahres zum Anlass, eine Party zu veranstalten zur Gelegenheit, mal wieder einige Freunde an einem Ort wiederzusehen zu einem Tag, an dem man sich freuen darf, noch am Leben zu sein. Allerdings auch angstvoll. Egal wie es laufen wird, die Jahre sind gezählt.

24.8.

Was der Schöneberger Wilhelm Furtwängler über die atonale Musik gesagt hatte, gilt andersherum für meine Liebe zur Kleingartenanlage: »An der Hand des Kleingärtners geht man wie durch eine unvorhersehbare Melodie. Am Wege ziehen die merkwürdigsten Klänge und Töne die Aufmerksamkeit auf sich. Selber aber weiß man nicht, woher man kommt und wohin man geht. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins an die Macht elementaren Seins ergreift den Hörer.« Wir gingen dort gestern Abend durch eine Welt, die sich unter einer Autobahnbrücke entlang des begradigten Spreeufers bis über die Schleusenanlage hinaus und in den Schloßgarten Charlottenburg hinein erstreckt. Und zwar ziemlich lang und schmal, dabei, begünstigt durch den vielen Regen in diesem Sommer, so üppig verwachsen, dass von den Autos auf der Brücke hoch oben so gut wie nichts mehr zu hören war. Von der Melodie dieser Gärten deshalb umso mehr. Oder wie es in den Marmorklippen heißt: »Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glückes ergreift. Wie unwiderruflich sind sie doch dahin, und unbarmherziger sind wir von ihnen getrennt als durch alle Entfernungen. Auch treten im Nachglanz die  Bilder lockender hervor. Und immer wieder tasten wir in unseren durstigen Träumen dem Vergangenen in jeder Einzelheit, in jeder Falte nach.«

Auf einer Lichtung kam uns ein Mädchen entgegen. Die kehrte, kaum dass sie uns erblickt hatte, um und rief ihren hinter einem Gebüsch wartenden Freunden zu: »Da kommen zwei!« Die hatten auf dem Süllrand des Flusses eine Reihe von Senfeimerchen aufgebaut, in denen sie Setzlinge vom Sonnenhut feilboten. Dazu, in einem ausgespülten Honigglas, ein paar Stengel eines Krautes, das uns der Junge als Schokoladenminze verkaufte. Jan kaufte davon drei, ich einen Sonnenhut. An der Pforte eines anderen Grundstücks läutete ich eine kleine Glocke, so wie das angeblich die Buddhisten tun, wenn sie vor die Tür treten, um der Natur ihr Eintreten anzukündigen. Es erschien hier ein freundlicher Mann, der mir ein Glas seines Honigs verkaufte, »Vor zwei Tagen erst abgefüllt«.

Das wurde uns von den Fachleuten, die vor der Tunnelklause tagten, bestätigt. Die Wirtin, die angeblich selbst Bienen hielt, neidete mir das schöne Glas, insbesondere den mit Blütenbildern bedruckten Deckel, den ihr Imkerkollege mir draufgeschraubt hatte. Man saß dort auf Monoblocstühlen und auf gepolsterten Fässern und wenn Frank Castorf dabei gewesen wäre, dann hätte er die Klause originalgetreu nachbauen lassen für seine Inszenierung der Marmorklippen, deren erste Szene vor der Tunnelklause stattfinden müsste, bevor dann die in Basler Fetzentracht verkleideten Maskenträger ihren Auftritt bekämen. Ein fröhlicher Greis, der Willy Millowitsch ähnlich sah, allerdings ohne die Brille, dafür mit doppelt soviel weißem Haar, hatte bereits eine Flasche Doppelkorn intus. Die leere Flasche stand neben ihm auf dem Tisch wie zum Beweis. Das wahre Asset der Tunnelklause aber war der namensgebende Tunnel, der uns dorthin geführt hatte. Er windet sich stollenhaft durch den Pfeiler der Autobahnbrücke hindurch. Betätigt man den im Kraut verborgenen Lichtschalter nicht, wird es nach wenigen Metern stockdunkel. Man ertastet sich den Weg zum Licht – und steht dann endlich doch auf dem Vorplatz der Klause, inmitten der Szenerie. So als ob die auf einen gewartet hätten.

Beim Bezahlen am gelb beleuchteten Tresen wurde mir von einem der dort Stehenden aus einer Schale, gefüllt mit rosafarbenem Schaumgummi, angeboten. Die waren wie hunderte kleiner Pilze geformt. Ich scherzte, ob ich dann nach dem Vertilgen des Pilzchens zu schrumpfen begänne, bis ich in den Kaninchenbau passte? Eine Schlaumeierei, die natürlich unbeantwortet blieb. Und es war, wie gesagt, andersherum.

»Freilich ist nicht zu leugnen, dass hiermit ein bestimmter Ton im Lebensgefühl des modernen Menschen angeschlagen ist.« So Jan, Furtwängler zitierend, und der wiederum, damals, zur atonalen Musik.

23.8.

In der Nähe der Redaktion war ein Friseursalon eröffnet worden, der mein Zutrauen geweckt hatte. Trotz seines Namens, der in Leuchtbuchstaben über dem Eingang befestigt war: One Million. Was sich ohnehin als Abkürzung heraustellte, denn quer über den großzügig bemessenen Blechsockel des Empfangstresens im schattigen Hinterzimmer stand er vollends ausgeschrieben als The House of One Million Hairstyles. Was in Anbetracht der ungefähr in Millionenstärke dort beschäftigten Friseure und deren Frisuren übertrieben wirkte, denn die Frisuren der Friseure dort im Reich der vielen Frisuren waren sämtlich identisch. So wie auch draußen, bei den übrigen Männern in dieser Altersgruppe: Sie zeigten die Frisur ihrer Ära, die Frisur Shahak Shapiras, bloß halt in dunkleren Farben.

Dementsprechend ratlos betastete der mir zugeteilte Friseur dann mein Haar, in dessen seidenzarte Struktur sich kein Scheitel einrasieren lässt. Auch war seit meinem letzten Friseurbesuch im Frühling einige Zeit vergangen. Ich sah also so aus wie Peter Handke, wenn er sich im Wald mal so richtig verspätet hatte.

Aus dem opulenten Soundsystem mit seinen allüberal in den Winkeln des Gründerzeitstucks verborgenen Lautsprechern tönte die Stimme von Haftbefehl, der seinen Text über die Parallelen vortrug. Mein Friseur war eher vom schweigsamen Typ, wie es mir lieb ist. Um ihm zu bedeuten, wie und vor allem wo er zu schneiden hatte, bediente ich mich einer Verständigungstechnik, die mir vom Feuergeben in diesen Kulturen vertraut gemacht worden war: Man reicht dem Habibi die Flamme des Feuerzeugs mitsamt einer die Flamme vor dem Wind bergenden, um die Flamme gekrümmten Fläche der freien Hand, er neigt sich mit seinem papierosy der Flamme zu und klopft dann mit den Fingerspitzen zweimal sacht auf die bergende Hand, wenn er sich an dem geborgten Feuer gütlich getan. Der ganze Vorgang hat wortlos vor sich zu gehen. Eine Geste der Brüderlichkeit, des reinen Gebens und Nehmens. Und so klopfte ich dann auch jeweils zweimal mit den Fingerspitzen auf seine Scherenhand, wenn er meinem Gefühl nach genug abgeschnitten hatte von einer Strähne. Nach einigen Malen, so rasch erreichten wir das Plateau wortloser Verständigung, schnitt er dann ganz in meinem Sinne und bedurfte keiner Korrekturen mehr. Die Haarschneidemaschine, an den übrigen Plätzen surrten die ohne Unterlass, blieb in ihrer Ladestation vor dem Spiegel. Es stehen dort jedem Friseur gleich zwei davon zur Verfügung – eine ist im Betrieb, die andere lädt schon nach – weil die Frisur unserer Ära eine Maschinenfrisur ist.

Danach gönnte ich mir in dem seltsamen chinesischen Restaurant namens Selig das Gericht mit dem Namen Böser Chinese, von dem einem die Kellner dort immer abraten wollen, indem sie ein Schweppes-Gesicht machen, weil es angeblich viel zu scharf ist, was aber nicht stimmt. Man sitzt dort in einem extrem langen, extrem schmalen Gang zur unendlich weit entfernten Küche mit dem Rücken zur Wand und schaut auf lauter gerahmte Bilder von Mao Tse-tung. Dokumentiert sind diverse Momente aus seinem Leben, nichts Großartiges: Mao beim Angeln, Mao beim Warten, Mao trinkt Tee. Der Böse Chinese besteht aus einer Schüssel, in der ein zerhackter Karpfen in einer siegellackfarbenen Brühe schwimmt. Man fischt die Stücke heraus, die Brühe lässt man stehen. Sie schmeckt extrem gut, enthält reichlich Sternanis, weswegen man vom sumpfigen Eigengeschmack des Karpfens nichts mehr mitbekommt. Durch den hohen Anteil diverser Pfeffersorten in der Brühe, fangen einem bald die Lippen an zu prickeln, als hätte man eine seltene Droge genommen. Scharf, aber nie zu scharf, sodass man immer nur weiter schlürfen will, um die hypnotische Wirkung des Gerichts weiter auskosten zu können. Im Prinzip ist es eine kulinarische Interpretation der Lieblingsfoltermethode von Maos letzter Ehefrau, des Lingchi, besser bekannt als der Death by a Thousand Cuts.

22.8.

Perfekte Fahrt durch ein von abendlichem Sonnenlicht gestreicheltes Hessen. Die Natur befindet sich jetzt im Zustand kurz nach dem Höhepunkt. Noch nicht müd’, aber schon maximal durchblutet; das Abschwellen und Einschrumpfen steht jetzt bevor.

Insbesondere mal ein paar Tage in Fulda zu verbringen, wäre vielleicht schön (weil dort über dem Papierwerk die Silhouetten von größeren Vögeln aufgeflogen waren). In Kassel eher nicht. In Göttingen war ich schon, da würde sich nie wieder etwas verändern. Eine komische Strecke. Wenn auch nicht unschön. Um das Millenium herum, als ich für kurze Zeit in München lebte, hatte ich regelmäßig in Göttingen zu tun und Martin Fengel, der mir damals als Fotograf zur Seite stand, schickte mir an einem dieser Wochenenden eine SMS, in der stand »Blöde Strecke, dauernd Tunnel«. Und das war noch in der Zeit vor richtigem Internet und 4G. Aber es ist heute, da uns dies alles zur Verfügung steht, noch immer genau so. Eine Platte der Merricks hatten wir gerade jetzt am Sonntag nach dem Straßenfest wieder und wieder gehört. Friederike hatte die Scheibe im Netz bestellt, nachdem ich ihr vor ein paar Wochen von dem Knüllerhit »Einmal im Leben« erzählt hatte und dass ich die Merricks so gerne mal wieder hören würde generell. Und dann war dieses Lied auf der bestellten Platte noch nicht einmal drauf!!! Und an der Künstlerpersönlichkeit Martin Fengels, der bei den Merricks Klarinette spielte und, wie ich glaube, auch Susaphon, entzündete sich unsere Diskussion, ob es nun besser war, ganz viele Talente zu haben, oder doch lieber nur eins, auf das man sich dann zwangsläufig zu konzentrieren hätte.

Note: Ein Mann kommt rein und wie er erfährt, dass er in Hannover nicht umsteigen kann, bekreuzigt er sich.

Im weiteren Verlauf der Nacht wurde der Zug dann noch umgeleitet aufgrund »von Beeinträchtigungen durch Vandalismus«. Interessanterweise hielten wir dann länger noch in Magdeburg. Als ich daheim am See angelangt war, spürte ich die Feuchtigkeit in der Luft. Es roch nach Herbst.

21.8.

Was dem Berliner Stadtleben seit längerem nur noch in einer aus Nostalgie und Tourismuswerbung gemischter Absicht angedichtet wird, ist in Frankfurt noch von Leben erfüllt - wenn vielleicht auch, wie am vergangenen Wochenende, für ein letztes Mal: Da fand in unserer Wohnstraße das von den Anwohnern veranstaltete Straßenfest statt, das in diesem Jahr unter einem entschiedenen, wenn auch in der Ausführung erfreulich sanftmütig formulierten Motto stand. Nämlich einem Protest gegen die sogenannte Flächenintensivierung des Viertels. Im Zuge derer war der auch von uns ab und an besuchten Müllbar der preiswerte Mietvertrag nicht mehr verlängert worden. In den nach hinten hinaus endlos verwinkelten Räumen wird vermutlich bald schon ein von längst vergessen geglaubten Handwerken, ein von Affineuren, Kleinbrauereien, Rosspflugbauern, Regionalschlachtern und Sauerteigbäckern bestückter Feinkostladen eröffnen. Was, aber das hört man hier freilich nicht gern, auch die Lebensweise der Anwohner heben könnte, denn in der Müllbar, die auch nur an wenigen Abenden im Monat geöffnet hatte, gab es nur Erdnussflips und Bier.

Am Samstagabend wurde dann aber noch einmal gefeiert, wie ich es auch nur aus den Comics von Gerhard Seyfried kannte, wenn dort vom bunten Leben der Anarchisten in Kreuzberg erzählt wurde. Vor dem Eingang zu unserem Haus war eine Hüpfburg aufgebaut, deren Gebläse nervtötend schnaufte, während die Kinder in ihrer Gummizelle herumgewirbelt wurden wie Flummis und dementsprechend quietschten. Für die Erwachsenen, die sich teilweise die Gesichter bemalt hatten, um auf Stelzen umherzugehen, manche Männer dabei als Frauen verkleidet, gab es Stände mit Apfelweinausschank, Bier natürlich, gegrillten Würsten und sogar einen mobilen Dönergrill. Am Ende der Straße war eine Kurmuschel aufgestellt, in der eine Band aus wohl legendären Figuren der Hausbesetzerszene eine interessante Parallelversion der Red Hot Chili Peppers verkörperten. Und zwar traten die ohne einen Bassisten auf, was ja, wenn man sich den Sound der Red Hot Chili Peppers vergegenwärtigt, in etwa den Guns `n Roses ohne Gitarren gleichkäme. Aber gehen tat das. Irgendwie. Den Anhängern dieser Band, die sich teilweise mit einem Kopfputz aus Rettungsfolien und in Regenbogenfarben gebatikten T-Shirts vor der Kurmuschel eingefunden hatten, schien es zu gefallen. Wobei man sich ja leichterdings über die sogenannte alternative Kultur beziehungsweise Kultur von Alternativen lustig machen kann - wenn sie dann erst mal weg ist, beseitigt oder ausgebrannt, fehlt sie halt doch. Ich zumindest fühlte mich auf wärmende Weise an die achtziger Jahre erinnert; an das schöne Lokal namens Casino in Stuttgart, einem Treffpunkt der Bunten Hilfe und an die vielen schönen Begegnungen dort mit den aufgeschlossenen Rastamädchen aus der AntiFa Stuttgart, die mir dort habhaft gemacht worden waren.

Kurz vor Sonnenuntergang entdeckte ich inmitten des Kuddelmuddels einen mit strahlendem Laken bedeckten Tisch, an dem, ich traute zunächst meinen Augen nicht, die Mume präsidierte. Sie erkannte mich gleich und machte mit ihrem vom Henna karottenhaft gefärbten Zeigefinger die international verstandene Geste come hither. Vor ihr auf dem Tisch, der Besitzerstolz war ihr anzusehen, ragte eine frabrikneue Rolle mit Küchenkrepp auf. Im Ständer. Daneben lagen auf mehreren Tellern die mit Spinatcreme gefüllten, mit goldgelben Knusperkrusten verzierten Börekschnecken aufgeschichtet, die sie offenbar selbst gebacken hatte. Zum Zwecke des Verkaufs. Kaum war ich vor ihren Tisch getreten - sie hatte sich für den Abend ein mir bislang unbekanntes Gewand samt Sonderkopftuch übergestreift - trat auch schon ihr ansonsten nichtsnutziger Enkel heran, um mich mit wenigen Worten zum Kauferlebnis zu überreden. Ich schlug klaglos zu. Wurde dann, der in einem Stück Küchenkrepp verpackte Börek war mir da bereits überreicht, von der Mume selbst mit einem bulgarischen Wechselgeldtrick der unbekanntesten Sorte herzhaft übers Ohr gehauen, wie es heißt. Der Börek allerdings schmeckte sehr gut. Beinahe unbezahlbar, von daher glich es sich fast wieder aus.

Wenige Augenblicke später eröffnete eine aus Rumänien stammende Anwohnerin, die kurz zuvor noch die Preispolitik der Mume offen und laut, dabei eine überwiegend mit Goldkronen besetzte Reihe von Vorderzähnen vorzeigend, angezweifelt hatte, auf der gegenüberliegenden Seite der Feierstraße einen Stand mit original rumänischen Grilltellern, die ebenfalls zügigen Absatz fanden. Das Fest schäumte da bereits einem ersten Höhepunkt entgegen. Die bislang vor allem durch ihren Wäscheaufhänge-Grind bekannte Enkelin der Mume schleppte Blech um Blech mit Börekschnecken aus der hinter der Hüpfburg gelegenen Küche der mumischen Wohnung. Die Mume selbst hatte derweil ein Zweitbusiness eröffnet und offerierte in klassischer Pose auf einem über dem Trottoir ausgebreiteten Laken diverse neongelbe und mit Strasseruptionen besetzte High Heels der bulgarischen High-Heel-Manufaktur Muse, sowie einen Stapel jener an den Seiten mit Druckknopfleisten konstruierten Trainingshosen, die im Milieu unter einem unapettitlichen Spitznamen bekannt sind.

So ging es dahin. Einige Spinatschnecken später, unter anderem wurde auch ein rumänischer Grillteller erstanden, an dem insbesondere die hausgemachten Hackwalzen hervorzuheben waren, fing es zu tröpfeln an. Synchron zum Umschwung im Konsumverhalten des Publikums stimmte die Kurmuschel nun die aus Jamaika importierten Reggaeklänge an. Seit uralten Zeiten ist das nun der Sound der Bewegung. Und wird es wohl immer bleiben, solange es die Bewegung noch gibt. Angenehm dumpf, dabei auf beruhigende Weise vorhersehbar und überraschungsfrei wiegte uns ein Frankfurter Peter Tosh mit seinem hessisch gefärbten »Legalize it, don’t criticize it/It’s good for asthma« in den Schlaf.

20.8.

Es fing schon traumhaft an. Unter sommerlichem Himmel hingen vereinzelt flaumweiße Batzen, es war auch warm, aber nicht zu warm, und am Fußgängerüberweg belauschte ich zwei Anwohner, die, das war an dem mitgeführten Rollkoffer des dritten abzulesen, ihren Hausgast zum Bahnhof geleiteten. »Schönes Wetter«, fing der einen Satz an, um die Stille zwischen den in loser Folge vorüberfahrenden Autos zu überbrücken. Die Gastgeber bestätigten seinen Eindruck aus ihrer Perspektive. Woraufhin er seinen Gedanken abschließend behauptete, dies schöne Wetter mitgebracht zu haben. Was freilich geflunkert war, denn Wetter lässt sich nun mal nicht transportieren; schon gar nicht in einem Rollkoffer, denn dazu, aber selbst das ist ein menschlicher Trugschluß, ist Wetter an sich viel zu groß.

Wenn man mit anderen Menschen zusammen Tiere beobachtet, macht man dabei vor allem Beobachtungen der anderen Menschen. Jedenfalls schien mir da so, als ich einige Zeit später unter demselben Himmel, aber um etliche Meter erhöht auf dem Dach des Museums für Moderne Kunst angelangt war, wo der Einflug der siegreichen Bienen erwartet wurde. Vom nahen Dom und etlichen anderen Kirchen her wurde das Zwölfuhrläuten herangeweht. Ja, es war doch ein weitaus windigeres Wetter als gedacht. Und es würde mit zunehmender Höhe sich als noch windiger erweisen. In Sichtweite, aber auf Luftlinie tatsächlich 600 Meter weit entfernt, ragte das sogenannte Jumeira-Hotel auf. Von dessen Dach aus würden die Bienen in den Luftraum entlassen. Auf unserer Seite waren sechs Bienenstöcke aufgestellt, deren Deckel jeweils mit den Herkunftsflaggen der wettstreitenden Imker beklebt worden waren. Es waren angetreten die Imker und Imkerinnen aus Frankfurt, Berlin, Polen, Großbritannien und Bulgarien. Der Bulgare indes war der einzige, dem man seinen Beruf auch auf der Gass‘ drunten hätte ansehen können: ein malerischer Typ mit langem, krausem Bart, Pluderhosen und dazu oben in einer reich verzierten Bluse aus weißem Batist - es handelte sich also um eine von ihrem Schnitt her mit jener in der Modegeschichte legendär gewordenen bulgarischen Bauernbluse vergleichbaren, die einst im Jahr 2001 von Tom Ford für Yves Saint Laurent entworfen worden war, und von der, so geht die Legende, am 11. September in den Boutiquen von Yves Saint Laurent in Manhattan hartnäckigerweise Exemplare nachgefragt worden waren, während in Downtown zur gleichen Zeit das Gebäude des World Trade Center brannte und schließlich auch kollabierte, während also mehr als 3000 Menschen starben, hegten nicht wenige ihrer Artgenossen zur selben Zeit unter demselben Himmel ihre gar nicht mal insgeheimen Blusenwünsche.

Am Bienenstock des Polen war indes eine interessante Situation zu beobachten, die von den ebenfalls auf dem Dach anwesenden Fotografen und Kameraleuten dokumentiert wurde: Wespen, als Einzelkämpfer unterwegs, versuchten, in den Stock einzudringen. Rasch solidarisierten sich die Bienen - wie sie untereinander kommunizieren, bleibt rätselhaft; es ist außer ihrem eher gleichförmigen Summen nichts zu vernehmen - und bildeten einen wehrhaften Klumpen vor dem Eingangsschlitz. Von nahem betrachtet, konnte ich erkennen, dass die Bienen die herankrabbelnde Wespe wie mit Faustschlägen ihrer vorderen zwei Beine (sie haben insgesamt sechs!) schlugen. Stechen tun die dazu bekanntlich fähigen Insekten einander nämlich nicht. Schafft es die Wespe trotzdem irgendwie, in den Stock einzudringen, wird sie dort blitzhaft von zig Bienen umhüllt und unschädlich gemacht. Das erläuterte mir der Bulgare, der als einziger seiner Kollegen keinen Kopfschleier aufgesetzt hatte. Vermutlich schützte ihn sein ausladender Bart vor der Stichgefahr durch umherfliegende Bienen. Die Wespe wird im Etui aus Bienen übrigens gargedünstet, in dem die Bienen mit ultraschnellen Flügelbewegungen einen Hitzestau erzeugen. Erst wenn die Wespe in ihrer Mitte keine Lebenszeichen mehr von sich gibt, löst sich die kollektive Umklammerung. Die Bienen gehen zum Tagesgeschäft über.

Den Himmel zwischen dem Dach, auf dem die heimischen Stöcke aufgestellt waren, und dem Dach des 600 Meter entfernten Hotels in der Frankfurter Innenstadt sah ich nun mit anderen Augen. Für ein Lebewesen, kleiner als mein Daumennagel, waren 600 Meter quer durch den freien Luftraum ein gefahrvoller Weg. Vögel kreisten. Mit Sicherheit sagten die zu einem heransummenden Snack nicht nein. Der Frankfurter Imker sagte mir, dass er seine Bienen vor dem Abtransport auf das Hoteldach noch gefüttert hatte, damit die auf dem Weg nach Hause nicht doch noch in die Kleinmarkthalle zum Blumenhändler abschweifen, sondern auf direktem Weg, ohne Kneipe sozusagen, zu ihm zurück fliegen. Die Siegerbiene, natürlich die des Frankfurters, brauchte dann tatsächlich bloß eine Minute und zehn Sekunden für die 600 Meter. Ich war in der Schule immer sehr schlecht bei den Textaufgaben, und so dauerte es auch beinahe so lang, wie mein Heimweg von 4,4 Kilometern, für den ich anderthalb Stunden brauchte, bis ich ausgerechnet hatte, dass die Frankfurter Siegerbiene - die Imker geben ihren Bienen keine Namen, da sind sie anders als andere Bauern, die ihre Milchkühe, aber nun gut - auf über 60 km/h beschleunigt hatte.

Ich ging zu Fuß. Denn plötzlich war überall Polizei aufgetaucht, auf Motorrädern und in langsam heranrollenden Mannschaftswägen, aus deren Kühlergittern sie es blau blitzen ließen. Keine Straßenbahn fuhr mehr. Ich verschluckte mich an einer Zwetschge. Man denkt ja andauernd an Terror. Mir ging aber auch die Bluse des Bulgaren nicht aus dem Sinn. Die bulgarischen Bienen waren übrigens als letzte eingetroffen. Wahrscheinlich, ich dachte an den Fleiß der Mume, hingen einige von ihnen noch in der Kleinmarkthalle fest (oder im Bodensatz eines gerippten Glases, das mit der exotischen Köstlichkeit Apfelwein gefüllt gewesen war.) Doch es war dann bloß eine Demonstration. Ein Korso aus weiteren Mannschaftswagen führte eine müde Menge fetter Kampflesben und Männleins mit spillrigen Bärten heran, die auf oskarmazerathhafte Trommeln eintrommelten. Dazu riefen die Weiber ins Megafon »Kein Profit/Auf Kosten der Tie-Hie-Re!!!«. Es ging also um eine Demonstration von tierfreundlicher Gesinnung. Auf Plakaten waren gewitzt dreinblickende Ferkel abgebildet. Ein junger Mann hatte eine Mütze auf in Form eines Schwans.

16.8.

Am Samstag findet das Bienenwettfliegen statt. Ich freue mich schon (und hoffe auf schönes Wetter). Die Bienen starten um Viertel vor 12 vom Dach des Jumeirah Hotels und werden dann von uns Zuschauern auf dem Dachgarten des Museums für Moderne Kunst erwartet (in Frankfurt). Die Distanz beträgt Luftlinie 600 Meter. Flughöhe: 90 Meter. Start und Flug werden mit Drohnen übertragen (wie passend – wobei doch Drohnen im Bienenkorb die faulen und noch nicht einmal zur Aufnahme des Nektars fähigen Staatsangehörigen sind, deren einziger Zweck (nicht einmal einen Stachel haben sie!!!) es ist, ihren Penis auszustülpen, der ihnen dabei auch noch abfällt, wonach sie dann selbst auch gleich absterben). Die Wartezeit wird mit dem auf dem Dach des Museums geernteten Honig versüßt. Die Einladung zum After-Fly-Drink auf dem Dach des Jumeirah Hotels schlage ich aber voraussichtlich aus.

Vorfreude auch, weil ich in diesem Jahr aus bekannten Gründen so gut wie keine Biene zu Gesicht bekommen habe. Die Hornissen, die in einem Mauerspalt neben meinem Balkon nisten, kommen nur ganz früh am Morgen (und wenn es dann regnet, gleich gar nicht), und kurz vor Sonnenuntergang heraus. Wunderschöne, elegant abschwebende Tiere. Allerdings halt drohnenhaft brummend. Sie hausen dort mindestens zu acht, ich kann sie von anhand ihrer Körperformen ganz gut voneinander unterscheiden. Es sind Fleischfresser. Schinken mögen sie gern. Leberwurst geht aber auch.

15.8.

Beim Verspeisen eines ausgezeichneten Gerichtes, dem Tintenfisch auf zweierlei Arten mit Pfeffer und Salz, das es in der Stadt nirgendwo besser gibt als im betont herzlos eingerichteten Restaurant Aroma (die knusprig umhüllten Tintenfischstücke werden auf einem knusprigen Hügel goldbraun frittierter Knoblauchwürfelchen arrangiert), stellte ich irritiert fest, dass an jedem Laternenpfahl entlang der Kantstrasse ein Bild des jungenhaft lächelnden Tim Renner hing. Weil er, das hatte ich gar nicht mitbekommen, als Spitzenkandidat der örtlichen SPD für den Bundestag kandidiert. Sein Rivale von der CDU heißt Klaus-Dieter Gröhler, bei ihm ist im Hintergrund die charakteristische Fachwerkoptik am Giebel der S-Bahnstation Grunewald zu erkennen – warum ausgerechnet der? Weil er dörfliche Behaglichkeit verspricht. Bei Tim Renner ist, wie bei allen anderen SPD-Kandidaten, Martin Schulz zum Beispiel, der Bildhintergrund weiß gehalten. Anders als Gröhler verspricht Renner zunächst einmal nichts anderes als sein Gesicht.

Im Gegensatz zum Bild von Tim Renner wurde das Gesicht des Kanzlerkandidaten Martin Schulz ziemlich retuschiert. Man erkennt ihn zwar noch, zweifelt aber insgeheim, ob man ihn nicht verwechselt – also ob es in Berlin vielleicht einen Bezirkskandidaten gibt, der ebenfalls Martin Schulz heißt. Ein Phänomen, das neulich schon in einer Karikatur der Stuttgarter Zeitung thematisiert worden war: Dort waren Martin Schulz und Sigmar Gabriel vor einem frisch geklebten Wahlplakat abgebildet. Darauf der Slogan »Wählt Manfred Schulz!« Der gezeichnete Schulz hatte eine Sprechblase, in der er sich über den Druckfehler beschwerte »Ich heiße aber Martin Schulz!« In der benachbarten Sprechblase von Sigmar Gabriels stand der Satz »Ist das denn so wichtig?«

Die Kellner im Aroma ficht dies nicht an. Für die sehen wir Langnasen allesamt irgendwie so aus wie Klaus-Dieter Gröhler, Martin Schulz oder Christian Lindner oder Tim Renner.

14.8.

Nach dem Großeinkauf am Schlachtensee kehrte ich im Café Seepferdchen ein, von dessen Terrasse aus man ungehemmt auf das nahe Ufer starren kann. Die Küche dort wird von zwei Männern aus dem ehemaligen Jugoslawien bewirtschaftet. Es sind Kroaten, vielleicht sogar Slowenen, herauszufinden ist es nicht, weil sie zwar Bestellungen in deutscher Sprache akzeptieren, aber niemals antworten. Was es zu sagen gibt, steht in Kreidebuchstaben auf einer Sinalco-Tafel. Wie jeden Samstagmittag war dort die sogenannte Jardinière angeboten. Denn irgendwie scheinen die beiden auch französische Wurzeln zu haben, die Jardinière jedenfalls ist eine üppig mit separat gegartem Gemüse gefüllte Gärtnersschüssel, zu der ein aus Sardellen und Öl gerührter Dip gereicht wird, wie zum Beispiel auch im Cercle des Amis von Cagnes-sur-Mer.

Diese Köstlichkeit lockt wiederum die Türken an, denn in der Haute Volée von Istanbul wird ja auch heute noch auf Französisch Konversation gemacht und wer sich beim Einkauf dort mit einem Merci bedankt, wird zuvorkommend bedient. Die türkische Runde im Café Seepferdchen besteht ausschließlich aus Gärtnern, die sich in den Vorstadtsiedlungen eine Marktlücke erschlossen haben: Zwar gibt es hier weitflächige Anwesen, deren von Bäumen bestandene Parks von alteingesessenen Gartenbaubetrieben gepflegt werden, aber halt auch sehr viele Einfamilienhäuser mit Gärten von überschaubarer Größe, allerdings sind die Bewohner häufig in einem Alter kurz vor dem Greisenstatus, und können die anfallenden Pflichten nicht mehr zu erfüllen. Um dieses Kleinvieh kümmern sich die Türken. Wenn sie sich allsamstäglich zur Jardinière einfinden, wird die Terrasse des Seepferdchens zum Belauschhimmel – wenn man sich für Gartentalk interessiert. Der eine, mit herrlich grau meliertem Haar, berichtete von einem Problemgarten in der Lohengrinstraße (ich vermutete, es könnte sich dabei um den Bildhauer handeln, dessen Gartentorsäule unermüdlich von der Antifa besprüht wird), wo der Rasen wie von unsichtbarer Hand zweigeteilt auf der einen Seite des Hauses gedeiht, auf der anderen nicht. Und dann ging es natürlich, dabei regnete es gerade einmal nicht, um das Wetter. Einhelliger Tenor der Naturheger und -pfleger: »Langsam reicht’s«. Sowie um die anstehenden Türkeiurlaube im September, wenn – Regen hin, Regen her – die Wachstumsperiode abgeschlossen sein wird.

12.8.

Auch nach so vielen Tagen habe ich noch immer kein anderes Wort für den Regen. Obwohl er heute besonders kleine und anscheinend federleichte Tropfen hat, die, wenn ich sie vor dem dunklen Hintergrund eines Baumes anschaue, während ihres Fallens sich gegenseitig in die Quere treiben, voneinander abprallen wie Funken, was bestimmt faszinierende Aufnahmen ergäbe, hätte ich eine Kamera mit Superzeitlupenfunktion zur Hand. Stattdessen trinke ich gekühlten Birkensaft zum Kaffee. Warm ist es ja schließlich und glücklicherweise. Immerhin.

Trotdem beinahe unglaublich, dass wir vor gerade mal einer Woche noch – in ein und demselben Sommer unter ein und demselben Himmel – durch Stuttgart streifen konnten, ohne Stiefel und Schirm, denn dort und damals war dieser Himmel blitzblau. Im Schlossgarten vor dem Landtagsgebäude türmten sich weggeworfene Pappbecher und Wurstschalen als Überreste des Stadtfestes, das in der Nacht zuvor dort rund um den eckigen See gefeiert worden war. Raupenfahrzeuge wurden zur Räumung eingesetzt. Und auf dem Schlossplatz stauten sich die Transporter diverser Bierverleger und Brauereien. Gleich dahinter, wo am Karlsplatz früher allein das Café Sommer eine Art Attraktion bedeutet hatte, gibt es nun seit kurzem das sogenannte Dorotheenquartier, das ein Einkaufserlebnis verspricht, wie es das früher und damals im ganz Kleinen und Feinen allenfalls in der Calwer Passage am Rothebühlplatz gegeben hatte – die aber ist inzwischen heruntergewirtschaftet und heruntergekommen, daran ist heute nichts mehr, bis auf den Marmorboden, apart. Die beiden kasernenhaft klotzigen Gebäude, aus denen dieses Dorotheenquartier dann letztendlich besteht, haben außer ihren extravagant geformten Fassaden nichts zu bieten, an dem das Auge sich festhalten will. Man wird rasch hindurchgespült und landet am Ende der Reuse dann vor einer ausladenden Filiale von Herbert Secklers Sansibar, die freilich ohne Sand und Wellen und Dünen in ihrer Deftigkeit deplaziert wirken muss in direkter Nachbarschaft zur delikaten Markthalle, aber die Stuttgarterinnen nehmen das Angebot des Exilschwaben Seckler, unter seinen Piratensäbeln aus Neon auf Gartenmöbeln zu loungen, gerne an. Zumal es dort angenehm schattig ist.

Das war es aber auch im Garten der Tauberquelle, die wir nach einem kurzen Rundgang durch das verrufene Bohnenviertel ansteuerten. Dort war allerdings, es war noch am Vormittag, nichts Verrufenes los. In den Schaukästen der Nachtbars waren teilweise noch Bilder von sogenannten Animierdamen ausgehängt, die dort schon hingen, als ich noch keine achtzehn Jahre zählte. Jugendbilder also im vielfachen Sinn. Einige dieser angepriesenen Animierdamen waren vermutlich schon pensioniert, einige gar verstorben, aber ein grünlich verblichenes Ebenbild einstiger Spannkraft wurde in Schneewittchensärgen konserviert.

Noch schiefer und von dem Stapel vergangener Tage deformiert als diese Häuslein im Bohnenviertel ist nur noch die Tauberquelle. Dagegen schaut das direkt gegenüber von einer Verkehrsinsel aufragende Hegelhaus geradezu triumphierend aus – auch wenn dort, sozusagen als Antithese zum lieblichen Anblick des Hegelhauses, die scheußliche Front eines Kaufhofes die Entstehung des idyllischen Bildes zunichte macht. Vom Hegelhaus aus auf die Tauberquelle schauen, wäre wieder etwas anderes. Auf der Straßenseite entsteht jetzt nämlich gleich neben dem majestätischen Tagblattturm ein Gebäude nach dem Vorbild des neuen Innenministeriums in Berlin en miniature, in dem man allerdings, also in dem in Stuttgart jetzt, in Bälde wohnen soll. Das Bauvorhaben läuft unter dem Projektnamen Hegel 21. Obwohl die Fertigstellung mit 2018 angegeben wird.

Dann dort sitzen, im Garten hinter der Tauberquelle, wo man all diese Scheußlichkeiten nicht mehr sehen muss, obwohl man weiterhin mittendrin sitzt quasi. Aber behütet von Rosenbüschen und altem Gemäuer, in dem die Fenster auf einer Höhe eingelassen sind, beziehungsweise in einer Tiefe, die bei uns Heutigen in etwa noch Kniescheibenniveau entspricht. Es gab einen Ochsenmaulsalat, der erfrischend angemacht war. Das Bier wird an solch heißen Tagen, es ist noch nicht lange her, im grauen Steinkrug serviert. Wie gern säße ich jetzt dort. Und bestellte mir den »Oma Anna Teller«. Er ist beladen mit geschmälzten Maultaschen, dazu ein Fleischküchle und ein Schweinsmedaillion. Letzteres wird mit einer Rahmsauce überzogen, in der Champignons in Scheiben geschnitten mitgeschwenkt wurden. Plus Petersilie. Als Beilage Spätzle. Ob die handgeschabt wurden, spielt allenfalls für die Klientel von Herbert Seckler eine Rolle. Die Spätzle in der Tauberquelle sind jedenfalls sehr gut. Und werden, comme d’habitude, mit in Butter gerösteten Semmelbröseln angerichtet.

Herrlich wäre das. Spätestens morgen. Aber ungern allein.

»Aber dann entschied sie sich, noch ein wenig zu warten, machte sich einen Tee, summte eine Melodie von Ace of Base, wurde kurz vom Tod gestreift, griff sich an den Hals und ließ ihre Hand eine Weile dort ruhen, dann zog sie sich Schuhe an und ging spazieren.«

11.8.

Beim abendlichen Betreten der S-Bahn vernahm ich schwäbische Laute. Da stand eine Gruppe von älteren Menschen am Fenster, sie schauten hinaus durch die Glasröhrenwand des Hauptbahnhofes hindurch auf das verzerrt dargestellte Kanzleramt und auf etwas, was für Kenner ganz klar die Schweizer Botschaft war, und unterhielten sich gut gelaunt über den »Mordsbahnhof«. Im Sinne von Mordshunger also, ein Riesenbahnhof, einer der alles verschlingen könnte und der selbst der allerriesengrößten Reiselust von allen als unerschüttelicher Nimmersatt entgegentritt.

Kann man so sehen. Aber in einem Hegelschen Sinne halt auch komplett anders, wie zum Beispiel jene Damen vom Fach, die uns auf unserer Fahrt hinunter nach Stuttgart im Bordbistro bedient hatten. Die hatten, weil es außer uns auf der kurzen Fahrt keine weiteren Gäste mehr gab und sie von daher den Feierabend zum Greifen nah vor sich wähnten, ein Ranking der schönsten Bahnhöfe im deutschen Streckennetz kundgetan: Platz eins war Leipzig, dann Dresden, dann ganz lange nichts. Auf dem letzten aber unumstößlich Berlin. Wir notierten uns derweil in Stichpunkten die Handlung für einen altbackenen Sexfilm mit dem Titel »Bordbistronutten – Sie gehen auf den Roten Strich«, und zwar gar nicht aus Bösartigkeit, sondern weil der frivole Ton, mit dem die Hostessen uns in ihre Kicherei mit einzubeziehen trachteten, uns tatsächlich nuttig vorkam. Seit kurzem verkauft die Bahn ja diese wiederverwendbaren Tassen, die mit naiven Malereien der Landschaften Ostwestfalens bedruckt sind. Die Hostessen hatten sich ihre Belegexemplare dieser von der Bahn sogenannten Mugs gesichert und süffelten daraus jetzt ihren Pseudo-Hugo, den sie aus der Holunderfassbrause und dem Rotkäppchensekt angerührt hatten.

Na ja. Wie gesagt: die Überfahrt währte nur kurz. Aber die Zerstörung des Stuttgarter Hauptbahnhofs: inzwischen sieht es dort aus, als hätten die Bomben des Zweiten Weltkrieges schon wieder eingeschlagen – erbaut wurde er ja während des Ersten. Nun also die Verheerung durch Stuttgart 21. In die Wände der längst nicht mehr provisorischen Bretterverschläge, durch die der Reisende, kommt er nach Stuttgart, auf seinem Weg in die Innenstadt, im Zweifel aber ins nächste Parkhaus, irrt, hat man Guckfenster aus Plexiglas eingebaut, damit man aus der Dunkelheit der Verschläge einen Ausblick hat auf die im gleißenden Sommerlicht sich ausbreitende Baustellenlandschaft ringsum. Wie es sich für eine man-made desert gehört, staubt es überall gewaltig. »Aber Hallo«, wie es in Berlin heißt. Willkommen in der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg. Einst Großstadt zwischen Wald und Reben. Mittlerweile: Feinstaubalarm.

Dass man zu allem Überfluss den neuesten Verlautbarungen gemäß in die ehemalige Haupthalle von Bonatzens Bahnhofsgebäude einen Kubus aus Glas einzusenken gedenkt, in dem zukünftig – also in jener herannahenden Zukunft des Jahres 2021 – Hotelgäste beherbergt werden, erscheint als Skandal. Sowieso, aber das ist in Berlin ja an jeder Ecke so, fallen die auf der Bauvorhabensankündigungstafel gezeigten Planskizzen des zukünftigen Bahnhofs schon jetzt als total altbacken auf. Nicht einmal in Katar würde man diesen biomorphen Blödsinn noch haben wollen. In Katar hätten sie Stuttgart 21 längst wieder herausgerissen aus dem Wüstengrund. Weggeworfen, beziehungsweise weiterverschifft nach Taiwan, oder nach irgendwo in Afrika, wo Geschmack und architektonische Moden keinerlei Rolle spielen. Aber in 20 Jahren wird das kaum noch einen stören können, denn diejenigen, die sich heute noch an den Stuttgarter Hauptbahnhof erinneren könnten, wollten, sind dann vermutlich längst tot.

Bleiben wird aber, Mordsbahnhof hin oder her, in dieser Jahreszeit das gute Wetter über der Stadt. Geblieben sein wird die herrliche Luft und das Licht, um Stuttgart zwischen Wald und Reben auch in der Mordszukunft noch als Glanzstück herauszustellen.

10.8.

In der Redaktion wurde der Wasserspender gegen ein verbessertes Nachfolgermodell ausgetauscht. Es ist von seiner Form her noch glatter, im Grunde ist es ein Block aus glänzend schwarzem Material, in dessen einzige Ausbuchtung man ein Glas stellen kann. Der Wasserwunsch wird mit einem Fingerspitzendruck auf eines von drei blau leuchtenden Quadraten angemeldet. Je nachdem, welches man mit dem Finger antippt, fällt dann genau ein Glasschwer gekühltes, sprudelnd kaltes oder zimmerwarmes Wasser aus der Oberkante der Einbuchtung in das Glas. Das Glas gehört zum Lieferumfang des Spenders. Es scheint sich mit dem Gerät zu verständigen. Es wird immer gleich hoch befüllt. Das sprudelnde Wasser sprudelt stark. Schon nach einem Schluck habe ich hundert nadelspitzenfein eingetrocknete Wasserflecken über die Außenseiten meiner Brillengläser verteilt.

Mittags kaufte ich mir zwei Äpfel, aber es war nicht dasselbe. Bei unserem sonntäglichen Spaziergang über die Streuobstwiesen entlang der Ortsgrenze von Heimerdingen war mein verschüttet geglaubtes Apfelwissen aufgefrischt worden wie bei einer dieser Venusmuscheln, die heute noch verkauft werden, damit man sie zu Hause in ein Glas Wasser wirft. Nach ein paar Stunden haben sich dann unter Wasser die Schalen geöffnet und eine Blume aus grünem und rotem Pergamentpapier steht, unter jedem sich nahenden Schritt erzitternd, im Glas.

So ähnlich also. Es war aber auch ein perfekter Tag, perfekt für das zarte Erblühen und überhaupt, an dem wir zuvor mit dem Auto nach Bad Liebenzell gefahren waren, vorbei am Kloster Hirsau, wo am Vorabend Sting auf einer in die Sandsteinruine hineingebauten Freilichtbühne aufgetreten war. Man ließ uns trotz laufender Um- oder Abbauarbeiten auf das Gelände, als mein Vater auf uns, den weitgereisten Besuch verwies. Im hinteren Garten, der einmal als Friedhof für Mönche angelegt worden war, im 11. Jahrhundert, gingen wir von einer der erhaltenen Grabplatten (aus Sandstein) zur nächsten, um die Inschriften zu entziffern – so dies halt möglich war, denn bis zum 14. Jahrhundert benutzten die Steinmetze wohl eine Art lateinischen Code, der aus einer sinnlos erscheinenden Aneinanderreihung von Großbuchstaben bestand; dann aber, und das wurde uns in Hirsau explizit an der Gestaltung einer Sandsteinplatte aus dem 15. Jahrhundert vor Augen geführt, wird die graphische Gestaltung plötzlich wichtig, ja die Inschrift auf besagter Platte hatte ein geschnörkeltes A, das mich an die mittlere Phase Albumdesign von The Cure erinnerte. Seltsam, dass es in den nachfolgenden Jahrhunderten dann wieder vorbei war hinsichtlich einer Formensprache, die wir heute als zeitlos bezeichnen.

Dem Kloster gegenüber, vor dem steilen Hintergrund des schwarzgrünen Schwarzwaldes, der hier über die Hänge herunterzulaufen scheint wie Raclette: das Institut des Dr. Römer, aus dessen Privatklinik es verführerisch nach Suppe duftete. Dubios allenfalls aber der Insassen wegen, die vor dem großen Fachwerkhaus mit Schindeldach auf Bänken aus Sandstein saßen, die um eine Telefonzelle herumgruppiert worden waren. Einer hatte sich zur Hälfte ein Chanel-Kostüm umgeworfen und ein jeder seiner Fingernägel war in einem anderen Metallic-Ton lackiert. So rauchte der eine dicke Zigarre. Aber hektisch. Das war also eine Privatpsychiatrie. Dass man das auf dem Land aus wenigen Indizien herleiten kann.

Im Café an der Kurpromenade von Bad Liebenzell saßen wir bald vor vier Stücken Schwarzwäldertorte, die hier, von dem Heiratsschwindlercafé in Baden-Baden abgesehen, in ihrer spitzenmäßigsten Bestform hergestellt und serviert wird, obwohl das in Anbetracht eines Tortenstücks nach nichts Außergewöhnlichem klingt. Ist es aber. Und ich hatte Black Forrest Cake schon im Café Facebook von Addis Abeba probiert. Und Friederike in Kathmandu. So ganz leicht herzustellen oder nachzumachen ist diese angeblich zu Tode gebackene Torte nämlich auch wieder nicht. Wenn aber, dann. Oder um es mit den Worten eines Traumgreises aus dem Café Mozart* in Frankfurt zu sagen: »Torte schmeckt immer!« Aber die Schwarzwälder halt nirgendwo sonst so wie dort an diesem Sonntagmittag. Was vermutlich, wie bei psychedelischen Drogen, am glücklichen Zusammenspiel von set und setting gelegen haben wird.

Wie anders ruhig es in der Stadt war. Selbst die als Totenstille wahrgenommene Ruhe zwischen Mitternacht und der Stunde vor Sonnenaufgang bei mir draußen am schon nicht mehr innerstädtischen See hat noch immer ein städtisches Grundrauschen (und in jeder Nacht um zwei Uhr fährt ein beinahe minutenlanger Güterzug durch die dann schon längst geschlossene Station hindurch und weiter in Richtung Potsdam), in Heimerdingen gibt es nichts davon, nicht einmal mehr heimkehrende Autos von Heimerdingern waren zu hören, da Schulferien.

*Wo es seit neuestem in der Platte eines der Tische vor der Tür des schönen Cafés eine goldene Plakette gibt, auf der eingraviert steht, dass an diesem Tisch Bodo Kirchhoff seine mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichnete Novelle Widerfahrnis verfasst hat. Verfasst haben wird. Empfangen vielleicht sogar auch. Also dass sie ihm dort widerfahren ist.

9.8.

Als wir nach drei herrlichen Tagen im Strohgäu nach Frankfurt zurückkamen, war dort die partielle Mondfinsternis wie angekündigt zu sehen und zwar dergestalt, dass der Mond in riesiger Vergrößerung und dazu in sattem Goldgelb knapp über den Dächern Sachsenhausens stand. Die partielle Verdunkelung, ein Streifen des Erdschattens, ließ sich am unteren Rand vielleicht erahnen; der lichte Teil überwältigte doch.

Auf der Untermainbrücke, die von dem Uferabschnitt, der Nizza genannt wird, zum Schaumainkai hinüberführt, hatten sich die Frankfurter zu Hunderten eingefunden, so wie auch am Ufer, das mittlerweile im Dunkeln lag. Ein mit bunten Glühbirnen beleuchtetes Riesenrad drehte sich, dahinter der Kaiserdom – selbst in der Dunkelheit war es für uns deutlich, dass der Bau aus Sandstein bestand. Wie das Kloster Hirsau im Schwarzwald. Durch die Tage im Schwäbischen waren wir für dieses dort überreich vorkommende Material sensibilisiert worden. Es hatte sich ein neuer Rezeptor herausgebildet, ein Sandsteinspürsinn. Und so, wie wir dort auf hier und da aus den Steilhängen herauswachsende Sandsteinadern gedeutet hatten, wie wir das Vorkommen des mal rosenfarbenen, mal gelblich gestromten Materials an den Fassaden der Häuser, in Form von Fensterstürzen und Simsen registriert hatten, fühlten wir uns auch im nächsten Kulturraum darauf geeicht, die Umwelt nach Sandsteinvorkommen abzusuchen. Vielleicht war dies aber auch eine Funktion des aufgefrischten Heimatbewusstseins.

Möglich auch, dass es der seelische Nachklang der herrlichen Tage war, bestimmt tat auch der gelbe Riesenmond sein gewisses Etwas dazu, jedenfalls erschien mir das Feuerwerk als das prächtigste, das ich jemals gesehen hatte. Auch von seiner Dramaturgie her, die, in drei Akte geteilt, ungestüm war und tatsächlich unvorhersehbar. Der letzte Akt wirkte sogar zufällig, wie ein Naturereignis, so als ob da ein Wiedergänger von Hrundi V. Bakshi sich versehentlich auf die falschen Knöpfe zur falschen Zeit gesetzt hätte, um sämtliche noch verbliebenen Ladungen in einem wilden Durcheinander zu zünden. Im Mittelteil aber entstanden auf dem schwarzen Untergrund goldene Strukturen, die ich vor mir nicht anders bezeichnen konnte als Blumen, die aufblühten. Es regnete und bogen sich Schwälle aus goldenen Sternen bis auf das tiefdunkle Wasser des Mains hinab.

Überwältigung. Applaus. Nur kurz war der Gedanke präsent, dass hier ein Lastwagenfahrender, der in die Applaudierenden auf der Brücke rasen wollte, Verheerendes anrichten könnte. Seltsam, dass man mittlerweile so denken kann. Als Kind hatte ich mich beim alljährlichen Feuerwerk auf dem Killesberg vor dem Krachen der Donnerschläge gefürchtet. Die gab es in Frankfurt heuer auch, aber der Donnerschreck wurde mittlerweile vom Massenschreck auf Platz zwei herabgestuft.

5.8.

Adieu, sagte die Blume. Und so bestieg ich am Abend einen ICE, der verblüffend leer sich zeigte. Beim Nachrechnen der veranschlagten Fahrtzeit erschien es mir kurios, womit denn die beinahe sechs Stunden totgeschlagen werden sollten – das reichte ja bei gewöhnlicher Geschwindigkeit bis weit hinter Frankfurt hinaus. Bloß fuhr dieser Intercity-Express halt tatsächlich nur bis Frankfurt, dorthin aber mit einer spürbar gedrosselten Geschwindigkeit, so als hätten wir Passagiere unser Transportvolumen für den noch jungen August bereits aufgebraucht.

Ich war durch die Dokumentation noch ganz im Geiste Martin Margielas, und so fiel mir beim Auftreten der sogenannten Zugchefin, deren schrille Stimme, wie es mir schien, andauernd aus den unabschaltbaren Bordlautsprechern erscholl, die Verbesserungswürdigkeit ihrer Tracht auf. Ihre Waden, auf denen sie stelzte, dazu müsste sie Pumps angezogen bekommen, die wie aus Sauerkraut geflochten waren; oder aus wirklichem Sauerkraut gemacht. Dazu auf dem glasierten Schweinsköpfchen die traditionelle Ratsherrengarnitur aus einem keck aufgesetzten Tomatenviertel mit einem Petersiliensträußchen daran. Oder, aber das wäre dann eben Jean-Paul Gaultier, mit einer trillerpfeifenförmigen Kappe aus Silber (die Schnute als Schild). Ganz gut eigentlich, dass es Berufe gibt, in denen Menschen ihre sadistischen Neigungen zum Beruf machen können: Nach ungefähr zwei Stunden hatte unser Zug Stendal erreicht, um dort an einem verwaisten Bahnsteig für zwanzig Minuten zu verschnaufen. »Zu ihrer eigenen Sicherheit«, so die Stimme der Stelzenden aus dem System, »bleiben die Türen während unseres Aufenthaltes verschlossen.«

Ich las das Buch von Flake, dem Tastenficker von Rammstein, das im S.Fischer-Verlag erscheinen wird. In diesem Text beschreibt er auf dreihundert Seiten einen Auftritt seiner Band in Budapest, sehr detailliert. Seine Beschreibung geht von Song zu Song bis zur letzten Zugabe und es ist von daher vor allem eine extrem detaillierte Beschreibung lebensgefährlicher Experimente in Sachen Pyrotechnik, wie es sie meines Wissens nach noch nicht gegeben hat in der Literaturgeschichte. Von daher ein wichtiges Dokument.

Kurz vor Mitternacht kamen die Türme ins Bild. Und ein beinahe voller Mond leuchtete. Der Aufzug, das hat jetzt neun Monate gedauert, ist repariert und ich betrat so mit zum ersten Mal die Kabine, die bislang versperrt geblieben war mit einem Schild, auf dem die Hausverwaltung die Mieter in unmissverständlichem Ton dazu aufgerufen hatte, von telefonischen Nachfragen »abzusehen«. Die Wände des fahrenden Zimmers sind in einem vergilbendem Weiß lackiert. Dicht an dicht sind dort in die Lackschicht mit Schlüsselecken, Bowiemesserspitzen, teils auch Fingerspitzen, größtenteils unverständliche Botschaften eingraviert – very Margiela. Die einzig sichtbare Verbesserung, neben dem für Fahrstühle nicht unwesentlichen Fakt, dass der nun wieder auf und nieder fährt, ist ein in qualligem Blau leuchtendes Display. Auch diese Idee könnte freilich von Martin Margiela sein.

Am Ende der Dokumentation sagt Axel Keller, ehemals Verkaufsleiter bei MMM, den für mich wesentlichen Satz. Er glaubt auf gar keinen Fall, dass Martin Margiela, wie es heißt, ausgebrannt war. Er glaubt auf gar keinen Fall, dass er die Firma, die seinen Namen trägt, verlassen hat, weil ihm nichts mehr einfiel. Martin ließ seinen Namen zurück wie eine Hülle, für andere darin zu wohnen und damit zu arbeiten, weil »es ihm keine Freude mehr machte, unter den veränderten Arbeitsbedingungen nach dem Verkauf der Firma dort weiterhin kreativ zu sein«. Axel Keller erklärt den Move von Martin Margiela damit, dass sich ein Schöpfer seine Arbeit vor allem für sich selbst interessant und unterhaltend gestalten will. Das schließt eine Tätigkeit, die im Funktionieren, im Abliefernmüssen oder -können besteht freilich aus. Es muss ein Spiel bleiben. Das war auch so bei Helmut Lang. Und beide kann ich sie in ihrer finalen Entscheidung sehr gut verstehen.

4.8.

Mint Film Office hat die Dokumentation über Maison Martin Margiela tatsächlich fertiggestellt. Der Film ist so ganz anders geworden, als ich es erwartet hatte. Nämlich einfach hinreißend. Ergreifend. So kann also Wehmut verfilmt werden. Kyotoesk um den verschwundenen Meister angeordnet, erinnern sich die ehemaligen Mitarbeiter, darunter Lutz Hülle und Patrick Scallion an ihre Zeit im Laborkittel. Es gibt Filmaufnahmen von der von Bakterienstämmen aufgegessenen Kollektion, die im Garten des Museum Boijmans van Beuningen ausgestellt war, während die Schaulustigen sie vom leergeräumten Inneren her durch die Scheiben betrachten konnten. Jenny Meirens, die am 1. Juli starb, ist selbst nicht im Bild, man hört bloß noch ihre Stimme und dazu erscheinen die Untertitel in weißen Buchstaben auf weißem Grund. Auf der Tonspur liegt ein Knistern, so als ob der Film von einer Flohmarktschallplatte abgespielt würde. Und als ich dann später ins Freie kam, meinte ich es noch immer hören zu können. Das Knistern hatte sich über die Geräusche der Stadt gelegt. Bis ich begriffen hatte, dass es die ersten großen Tropfen des Regnens waren, deren Auftreffen auf den warmen Platten des Gehweges ich hörte. Über der Spree standen knallweiße und violette Wolken wie aneinander vorbeifahrend fotografiert. Auf der entgegengesetzten Seite war schon alles grau.

Ich dachte an den Abend mit Iskender und seiner Frau Anna Fasshauer, die sich einen Katalogtext von mir wünscht. Wir hatten über unsere Liebe zum Zeichnen gesprochen. Der am schwersten verkäuflichen Kunst. Sie wollte genau von mir wissen, warum ich Birken zeichne nach der Natur. Und ich erklärte ihr, weil ich ihr aufrichtiges Interesse spüren konnte, mein Hell-Dunkel-Modell.

2.8.

Abends blätterte ich im Vorabzug des Bildbands Xerophile, den der Californische Verlag Hat & Beard nun bald herausbringen würde. Es ist ein Prachtband für die Freunde von Kakteen geworden, wie es ihn bislang noch nicht gegeben hat. Jedenfalls ist mir nichts auch nur annähernd Vergleichbares bekannt. Da ich die Bilder auf dem iPad betrachtete und dabei zudem noch vor einem sagenhaft lohfarbenem Sonnenuntergang am offenstehenden Fenster saß, bekamen diese leuchtenden Bilder von den teils bärtigen, teils gurkenhaft über Geröllfeldern thronenden Gesellen einen zusätzlichen Reiz, sodass ich beinahe schon damit angefangen hätte, die Bilder eines nach dem anderen zu beschreiben, um diese Wirkung auf mich, zu dieser Stunde, festzuhalten.

Doch traf dann eine E-Mail ein von Iskender Yediler, was mich verblüffte, denn zum letzten Mal hatte ich von ihm vor etwa zwanzig Jahren gehört. Damals hatte ich noch eine E-Mail-Adresse bei Compuserve, die aus einer langen Folge von Zahlen bestand, also ungefähr wie eine IBAN mittlerweile. Dazwischen, also zwischen Compuserve und IBAN, hatten wir voneinander nichts mehr gehört. Vergessen hatte ich ihn aber nie. Was auch daran gelegen haben wird, dass wir uns in Bangkok kennengelernt hatten, und damals dort zur Regenzeit, weswegen spektakuläre und schwer zu vergessende Momentaufnahmen sich eingebrannt hatten in mein Gedächtnis (also beispielsweise wie mir durch eine wadentief mit Regenwasser gefüllte Seitengasse die Ratten entgegen geschwommen kamen mit senkrecht in die vom Monsun erfüllte Luft gestreckten Schwänzen, um damit wie mit einem Querruder zu navigieren). Gut, nun würden wir uns also wiedersehen, denn wie so viele andere lebt Yediler, der damals auch vor allem deshalb viel in Bangkok war, weil er ja aufblasbare Skulpturen macht, und die sich dort in Thailand unkomplizierter herstellen ließen als bei uns, jetzt auch in Berlin – regnen tut es hier schließlich auch, und deswegen entschloss ich mich, nach dem Beantworten seiner E-Mail auch dazu, den ungewöhnlich trocken gebliebenen Augustabend noch weiter auszukosten.

Im Nachbarsgarten war, wie an so vielen anderen Abenden auch, ein geselliger Abend anberaumt. Dieses Mal allerdings ohne Discjockey, was ich sozusagen begrüßte (neulich, als es extrem regnete, feierte eine zusammengeballte Gemeinde dort in dem Notzelt unter anderem das Horrorstück Africa von Toto, das ja, im Gegensatz zu anderem Vintagepop wie Year Of The Cat, noch nie gut war, und es dementsprechend auch niemals werden wird), stattdessen lernte ich dort auf der lauschigen Terrasse ein reizendes Ehepaar aus Baden-Württemberg kennen, die sich für ihren Urlaub dort im Literarischen Colloquium eingemietet hatten. War mir gar nicht bekannt, dass man dort als Nichtstipendiat auch wohnen darf. Die Urlauberin sprach mit der mir vertrauten, weil für Schwaben charakteristischen Zurückhaltung, von ihrem Privileg: »Wir sind affin.« Womit eine gemeinsame, in ihrer Ehe kultivierte Hingabe an die Literatur gemeint war. Der weitere Abend verlief dementsprechend, als ich in der von einem veritablen Hofstaat umgebenen Gestalt, die dort hinter einem mächtigen Glas präsidierte, den legendären Jörg Sundermeier erkannte.

1.8.

Die französische Vogue hat eine ganze Ausgabe mit Tieren gestaltet. Alle Leserinnen, die ich bislang darauf ansprechen konnte, finden das doof. Mir hatte im Winter die Beilage vom Purple Institute schon so gut gefallen mit den Vogelbildern von Carsten Höller. Das Lebewesen als Objekt wie bei Pierre Huyghes und Anne Imhof. Zunehmend auch das Intersse für die unter dem Meeresspiegel verbleichenden Korallen. Gestern scrollte ich den Instagram von Olivier Zahm ein paar Jahre nach unten und fand so heraus, dass es wohl dieser Tastemaker war, der den Trend zum Kaktus ausgelöst hatte mit einem veritablen Kakteengrind, der bis heute nicht aufgehört hat, aber mittlerweile fällt das nicht mehr auf, weil jetzt überall Kakteen herumstehen und alle anderen auch Kakteen fotografieren und posten; im Zweifel aber nicht die aus dem Kakteenhaus, sondern halt eine von denen aus dem kuratierten Kakteendepartment im Conceptstore The Store

Von sich aus schön wie ein Kaktus, wie eine Koralle, wie eine Eule. Ein Hase, ein Fuchs, fotografiert auf den Modeseiten wie in einem Garten – und seltsamerweise wirken diese Tiere bekleidet, denn wir kennen sie, zumindest Artgenossen, nackt, von der Verzehrsituation her. 

In der S-Bahn, die tokiomäßig gestopft vorgefahren kam, saß eine Frau und umarmte einen Karton mit einer, laut Aufdruck, batteriebetriebenen Strauchschere der Marke Garden Feelings

Meine Garden Feelings sind das jedenfalls nicht, dort die Sträucher und das Gras mit einer vom 7,2-Volt-und-2,8-Ampère-Lithium-Ionen-Akku getriebenen Elektroschere zu attackieren. Im Garten will ich noch nicht einmal beobachten, ich schaue. Ich lasse das dort auf mich einwirken. Ich zeichne eine Birke nach der Natur. Samt orangefarbenem Abfallkorb am gelben Mast und dem Schild für die Bushaltestelle. 

Im Naturkundemuseum an der Invalidenstraße (!) hier in Berlin gibt es ein Diorama aus der DDR-Zeit, das Thema heißt »Tiere in der Stadt«, darin sieht man ausgestopfte Spatzen sich um den Inhalt eines Abfallkorbes streiten. Und eine struppige Ratte, Tauben natürlich, einen verirrten Fuchs. 

Was Tiere nicht können: wertschätzen 

Insbesondere Formen (Architektur), sprachliche Äußerungen; Sprache an sich
sich selbst
Komplimente, allgemein social fluid, Nettigkeiten: wie junggeblieben der andere ausschaut beispielsweise
Farben
Liebe
Geld

31.7.

Um das Freibad drängten sich die Menschen in Schlangen, die reichten bis zum Easy Rider. Andreas als Shiva: rechts Biere, links Würste — ich hoffte, er würde den versäumten Umsatz noch an diesem einzigen Tag reinholen.

Ich zog mich zurück. Durch den Wald, wo Flecken von Sonnenlicht zwischen die Reifen der Radfahrer fielen. Und über uns rauschte es gewaltig. Die ganz in Knallrot gekleideten waren die von der DLRG.

Anders als im letzten Jahr ließ sich Max Goldt nirgendwo blicken. Ich befürchtete, dass er bald sterben würde, vermutlich, denn im vergangenen Jahr wurde er hier noch, und das war täglich, von einer Vertrauten herumgeführt – damals schon heftiger Tremor– nun entweder Toskana, Ostsee, oder es hatte sich eben erfüllt.

Bei der Schützenkönigin brachte das Sonnenlicht die Blätter der Kirschlorbeersträucher zum Leuchten. Und ich fragte mich, zeitungslesend, warum es in Deutschland nur eine einzige Tracht gibt, die für das Zünftige steht; für die Biergartenkultur: Warum in jedem Biergarten Deutschlands sich alle Bedienkräfte als Bayerinnen verkleiden müssen (wobei ich die hochgeschobenen Brüste im Ausschnitt ja gerne sehe.) 

Ich träume von Schwarzwaldstuben überall, wo sie alle den Bollenhut tragen müssen.

Bei der Schürzenwirtin, tief im Wald, ist es zudem so, wobei das Lokal wohl einem Mann gehört, weswegen sich obendrauf noch die Genderfrage stellt, dass dort im Hintergrund die Geräusche von Maschinenpistolen und Pumpgun-Gewehren ertönen – ich schrieb darüber –, während man, als nicht schießender Gast, dort im Garten der sogenannten Schützenkönigin seinen Durst stillt.

Shisha-Düfte, Waldfruchtaroma, zogen derweil durch das Unterholz.

Mir gegenüber saß eine Familie, während ich den süffig geschriebenen Text von Lars Jensen las über den neuen Pressesprecher von Donald Trump. 

Diese mir gegenüber sitzende Familie, sie bestand aus Gesichtern, wie man sie aus dem Fernsehen kennt, wenn es um Überschuldung geht, oder um Auswanderungswünsche, hatte offenbar einen Urlaub in Frankreich geplant. Die Frau forderte ihren Sohn, ihren Mann, ihre Männer dazu auf, eine App herunterzuladen, um die französische Sprache ins Deutsche übersetzen zu können. 

Der Sohn fragte daraufhin demonstrativ den Vater ab:

Gabel?

La Fourchette.

Messer?

Couteau.

Usf.

Woraufhin der Vater, der offenbar in Frankreich stationiert worden war, sagte: »Ich bin für den Dienst an der Waffe ausgebildet worden; um Menschen zu töten.«

Als die Burger serviert worden, kam seine Frau auf ihr Thema zurück: »Ich glaube trotzdem, das reicht einfach nicht.«

30.7.

Nach zwei langen Nächten in der Obhut der Höhle verspürte ich erste Gedanken; am Neocortex tat sich etwas; minimal zwar, aber immerhin. Ich zog den Vorhang beiseite, öffnete die Tür und setzte mich, die Dunkelheit im Rücken, vor das leuchtende Bild, das vergleichbar schön anzuschauen war wie diese Fotografie von Günther Förg, die den Ausblick durch das große Fenster der Casa Malaparte zeigt.

Casa come me: freudvoll, sanft und heiter. Ich dachte an Enea, der, das zeigte mir die Armbanduhr, nun schon wieder seinen Wohnsitz in der Toskana erreicht haben würde. In einer Pause hatten wir neulich noch über sein mögliches Vorgehen gegen die Stachelschweine gesprochen. Es gibt dort sehr viele. Seine Frau benutzt deren abgefeuerten Stacheln, die wohl so hart und auch aus einem durchscheinenden Horn wie unsere Fingernägel sind, als Haarnadeln; sie steckt die durch ihren Dutt.

In einem italienischen Rezeptbuch aus dem Seicento fand ich ein Rezept für die Zubereitung der Nagetiere: man hölt sie aus und reibt sie mit Schmalz und irgendwelchen Gewürzen reichlich ein – vermutlich, um den Eigengeschmack des Stachelschweinfleisches zu überdecken. Wobei Enea erzählte, dass die Stachelschweine sich rein vegetarisch ernährten. Weswegen er überhaupt bloß gegen sie vorgehen muss, weil sie sich nachts in seinem Gemüsegarten mit Salat und Tomaten vollfressen. Das Schmalz übrigens, so stand es in dem Rezept, müsste aus den Vorderläufen des zum Grillen vorgesehen Stachelschweins gekocht werden. Warum ausgerechnet aus denen, war uns beiden nicht klar. Wahrscheinlich gibt es dort ein Fettdepot.

Der Himmel heute ist in Weiß und Blau gestreift, so gleichmäßig wie ein Zebrastreifen im Limonadenland. Der See liegt wie gestrichen da, über den dunkler erscheinenden Untiefen kräuselt es sich, sobald es in den Baumkronen rauscht. Die Nachbarn sitzen en famille an einer Riesentafel auf dem Rasen. Es wird, in der Unterhaltung der Männer, mit Riesensummen hantiert. Auf einem sarghaften Holzkasten steht eingebrannt »Crocket«.

Im Zauberberg gab es für mich immer nur diese eine Stelle, die rätselhaft blieb. Wenn Hans, während Joachim stirbt, zu der verborgenen Stelle im Wald hinaufsteigt, um »zu regieren«. Heute früh, am Fenster sitzend, habe ich begriffen, was damit gemeint ist.

29.7.

Es entspricht meiner Lebenserfahrung, dass sich Menschen mit Geld zwangsläufig zu absolutistischen Herrschern entwickeln, wie im Geschichtsbuch beschrieben. In meiner Klasse gibt es das nicht. Obwohl ich das wie auf den Zehenspitzen federnde Abwarten dort bei dem einen oder der anderen schon spüren kann. In dem Sinne also, dass bei ihnen der Moment schon herbeigesehnt wird, dass es passiert. Der Moment, an dem man sich vom bloß Befehlenden zu jemandem, der durch seine Befehle auch tatsächlich nach eigenem Wunsch gestaltet, aufschwingen wird.

Und wenn man Glück hat, dann landet man als einer von Nicht-Ihnen bei einem, der sein Gebäude nicht bloß zur Selbstverherrlichung aufrechterhält, nicht bloß zur weiteren Bereicherung; man landet bei einem, der sich sein Leben einfach nicht anders vorstellen kann, als so: inmitten eines Hofstaates – gleichwas ihn der kosten mag.

Sehr still war es geworden. Aus dem hinteren Teil der Redaktionsräumlichkeiten, wo die Grafiker saßen, war bloß noch das Klicken der Mäuse zu hören. Selbst das Rauschen des Vierfarbenkopierers war verstummt. Nichts mehr übrig, das zu layouten war. Sämtliche Ideen umgesetzt. Ein Wind, überall standen die Fenster offen, blies durch die beinahe menschenleeren Räume der Denkfabrik. Die Rückseiten der davon über den Fußboden gewehten Ausdrucke leuchteten weiß. Sie waren unbrauchbar geworden. Vor ein paar Tagen noch standen darauf eventuell wertvolle Informationen – in den Formen von Schrift oder Bild –, die in das Gestaltungssystem eingezogen worden waren, manche auch nicht. Was gedruckt würde, zählte. Selbst Google schwieg.

Irgendwann, ich weiß es genau, es war 23 Minuten nach fünf, konnte ich das Gebäude verlassen. Und dass es nicht regnete, schien wie ein Fehler. Da waren Menschen auf der Straße, Menschen in der S-Bahn. Ich hatte gelebt als ein schreibendes Tier.

Meine Freilassung feierte ich vor dem Easy Rider, dessen Wiederaufrichtung ich verpasst hatte – es war wohl vor einer Woche gewesen. Ist schön geworden, beinahe wie vor dem Niederbrennen, aber halt doch ein bisschen anders. Veränderungen mag ich ja eigentlich nicht. Ich bestellte bei Andreas eine Rote als Bratwurst und zwar extra dunkel, er fragte »Wo kommst Du eigentlich her«, weil nur Schwaben die sogenannte Curry mit Darm als Bratwurst bestellen. Und ich erklärte, dass es ein Festessen würde, unter anderem auch aus der Vorfreude heraus auf die Reise nach Hause, ins gelobte Land am nächsten Wochenende. Aber so wie die von mir als Königin der Würste gerühmte Stuttgarter Rote schmeckte seine »Curry als Bratwurst« dann doch nicht bis in die Feinheiten hinein.

Ich saß unter dem schwankendem Baldachin eines Ahorns mit Blick auf das flirrende Grün der alten Akazien, das ich so liebe. Dahinter stand unverrückbar eine weiße Wolke am Himmel. Schwalben kreisten in großer Höhe. Meine Pläne für morgen waren: viel einkaufen, viel essen, bis ich wieder müde bin. Think Orlando.

Auf dem Heimweg ging ich durch die Hintertür durch das alte Viertel. Hier war ich schon wochenlang nicht mehr gewesen, nicht bloß aus Zeitgründen, es hatte ja andauernd geregnet. Was ich, was wir alle hier währenddessen verpasst hatten! Mir kam es so vor, als war ich grünblind gewesen. Technicolor hatte ich in den vergangenen Wochen reichlich gesehen.

Auf dem Trottoir traf ich auf Markus, der seit kurzem ja mein Nachbar hier ist. Er sah erschöpft aus. Ich auch vermutlich, einen Spiegel gab es hier nicht. Aus der Buche sang, hochdroben, der Amselhahn. Er hatte ein Gefrierpaket mit Grillfleisch in den Händen, also Markus, und einen Kasten Bier. Damit ging er rein.

Frau Fröse, im letzten Sommer noch Dame, die sich von ihrem Psychiater Slash Chauffeur im Porsche Panamericana vor dem Café hatte vorfahren lassen, lebt mittlerweile in dem Wärmehäuschen auf dem Bahnsteig. Neulich traf ich sie im Supermarkt, wo sie Ansprachen an die Kassierer hielt. Sie breitet die Arme aus und ruft: »Nicht alle sind hier willkommen, aber er hier trägt oben Rot, Weiß und an seinen Füßen Blau!«

Es heißt, sie habe das Elternhaus in Heckeshorn versucht niederzubrennen.

Man zeigt Bilder herum.

Was aus ihrem Chauffeur geworden ist, das weiß niemand.

Frau Fröse geht barfuß. Sie ist sehr intelligent. Ihr neuer Begleiter trägt drei Armbanduhren am linken Handgelenk. Sie fuchtelt mit einem Schuhlöffel.

23.7.

Vom späten, vielleicht war es auch der mittlere Georges Bernanos, gibt es die Anekdote, dass er, wenn er sich dann mal von seinem Schreibtisch weg in das kleine Café gegenüber geschlichen hatte, nach einem halb ausgetrunkenen Milchkaffee schon eine seiner Töchter zu ihm hinlaufend sah. Die war gekommen, um ihn zu ermahnen: »Vater, denken Sie doch bitte an ihr Pensum«.

Dieses kleine Mädchen kam seit dem vergangenen Sonntag an jedem Tag zu jeder Zeit zu mir gelaufen. Und ich saß doch nie in einem der Cafés. Ich war tief eingesunken in die sogenannte Produktion der Septemberausgabe. Ich las und schrieb. Dann las ich das Geschriebene wieder. Schrieb etwas dazu, oder löschte von den geschriebenen Sätzen gerade so viel, dass ein ausgeglichenes Zeilenbild entstehen konnte. Dann dachte ich über eine sinnvolle Bildunterschrift nach. Oder über eine appetitliche Überschrift. Ab und an sprach ich mit anderen am Telefon. Und stets stand dabei vor mir das Mädchen. Die Tochter von Georges Bernanos, die mich an mein Pensum erinnern sollte. Das Mädchen war natürlich ich selbst.

Nachts, wenn ich träumte, dann träumte ich von formlosen Formen, die so gewaltig waren, dass sie den Raum, in dem ich mich mit ihnen befand, gleichwohl bilden konnten. Ich träumte die Träume von Anish Kapoor.

Tagsüber fühlte ich mich schlecht. Nicht direkt übel, aber so, wie einer der ausblutet. Hilflos schaute der sich dabei zu, ohne auch nur das Geringste dagegen tun zu können. Ich hätte dem Mädchen gegenüber sehr gern etwas entgegengehalten, aber ich hatte doch nichts. Ich dachte an mein Pensum. Aber um es erfüllen zu können, fehlte mir nun endlich wohl die Kraft.

Ich saß oft, oder stand, und wartete auf eine seelische Regung, aber das Feld lag niedergedrückt wie nach einem heftigen Regen. Violette Farben ballten sich dahinter am Horizont.

Nach den Tagen im Wald, wo ich mich von Beeren und Pilzen ernährt hatte (zu Trinken gab es Morgentau und das Wasser aus einem Trog auf der Weide) wurde die Situation aber leider nicht besser. Vor mir lag zwar der Text des Gespräches mit Roehler, aber nun war ich von dem Verdacht wie infiziert, dass er es war, Roehler, der mich mit seiner Schwächung angesteckt hatte, weil auf dem Band ja andauernd von der Hinfälligkeit und der Erschöpftheit die Rede gewesen war. Vor allem waren es aber wohl seine schonungslosen Worte gewesen, die in mir eine Art von psychotischem Erdrutsch ausgelöst hatten, der mir nun das nichtmechanische Schreiben für immer unmöglich gemacht hatte. Das Schreibtier, ein weißer Hase, lag verschüttet unter diesem Haufen. Er war vollends verdeckt worden und atmete nicht mehr.

In der Frühe, längst überwunden geglaubte Sätze tauchten in mir wieder auf und hatten die alte Bedeutung zurückerobert. Vor allem jener aus Faserland, das Buch selbst besaß ich schon seit Jahren nicht mehr, worin sinngemäß stand, dass eines Tages alles aufhören würde, ohne jeglichen Hinweis darauf, warum; ohne einen Grund. Aber auch Thomas Melle, dessen Bild ich in der Zeitung fand, weil er in Bergen-Enkheim zum Stadtschreiber ernannt worden war. Und seine Erzählungen aus dem Reich von Selbsttherapie und Verausgabung, insbesondere seine Zeilen aus einer E-Mail, in der er mir von den Verstopfungen der Kanäle schrieb, durch die der Schreibfluss geleitet werden kann, verfolgten mich jetzt bis in den Schlaf.

Ich machte mir Notizen. Einmal sah ich einen in Stücke gesägten Baum. Die Stücke lagen aufeinandergestapelt am Rand einer Kreuzung. Ein anderes Mal regnete es blitzartig stark, sodass ich gerade noch meine Hand vor den Augen erkennen konnte, aber der Rest von der Welt war wie weggewaschen von einem einzigen Schleier aus Grau. Dann trat ich hinaus vor die Tür und überall waren Menschen, die von einem Festival im Olympistadion in die Innenstadt gespült worden waren. Jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, war über und über mit rosafarbenem und hellblauem Pigmentstaub – wie überbacken. Das Festival war des Regnens wegen abgebrochen worden und nun irrten sie, das MDMA noch im Blut, über die Bahnsteige. Ich hatte ein weißes Hemd zu weißen Hosen an und musste sehr darauf achten, dass mir keine dieser schwankenden Gestalten zu nahe kam. So landete ich bald in einem wie verlassen wirkenden Zug aus Waggons, dem im Depot durch den Regen die Kippfenster aufgedrückt worden waren, dergestalt, dass dort auf dem Boden eine dünne Schicht Wasser schwappte, während die Sitzbänke sich vollgesogen hatten mit den Regentropfen wie Schwämme. Aber keine dieser Beobachtungen löste bei mir die ersehnte Folge von Sätzen aus. Das Feld lag weiterhin wie niedergedrückt. Der Hase hielt still.

Ich dachte, dass ich mich von der Literatur fernhalten müsste. Das war dann ein Gedanke von La Rochefoucauld, den ich mit einem Mal als verinnerlicht erkannt hatte. Kracht Roehler Melle: egal wie ich diese Worte auch hintereinander gestellt vor mich hindachte, sie ergaben doch stets einen auf fürchterliche Weise mich behexen wollenden Spruch. Und dann war da ja noch Rainald Goetz, der einst in der Münchner Schellingstraße 48 zu mir gesagt hatte: »Du darfst auf gar keinen Fall jemals herausfinden, wer Du bist! Sonst ist es mit dem Schreiben vorbei.« Das fiel mir ein in meiner Not und ich dachte: Ist es jetzt soweit? Weiß ich nun endlich wer ich bin, um den scheußlichen Preis, alles, alles andere verloren zu haben?

Gebraucht zu werden ist eine schöne Idee für den Menschen. Wenn man selbst unbrauchbar geworden ist, freilich ganz und gar nicht.

15.7.

Vor der Abfahrt, dieser langen Reise meines Tages an das Ende der Nacht, aß ich bei Gosch Sylt im Berliner Hauptbahnhof ein Fischbrötchen, während auf dem großen Bildschirm hinter uns die Pressekonferenz des französischen Präsidenten und seinem Gast, Donald Trump, gezeigt wurde. Ohne Ton.

Die Verspätung war mittlerweile mit einer halben Stunde angegeben, also, so dachte ich, konnte ich mir das in Ruhe anschauen. Macron, so nennt man ihn, wirkte auf Anhieb ziemlich verzwergt im Vergleich zu dem geföhnten Giganten. Aus dessen Revers quoll ja auch eine Krawatte aus blau schimmerndem Gewebe, wie Seide, das wirkte auf mich wie ein Wasserfall, wie der endlose Brunnen in einer Inszenierung der Nibelungen, von der mir Beate einst erzählt hatte, also: einfach märchenhaft. Dazu aber noch seine Gesichtsveranstaltungen. Donald Trump kann ja anscheinend nicht einfach sprechen wie ein Mensch. Das macht nichts, wirkte auf mich aber verstörend, dass dieser Mensch, immerhin Präsident, wenn er, was er andauernd tat, seine Mundwinkel bis zum Äußersten seines Gesichtskreises hin verziehen ließ. Denn, ja, so wirkte das dort auf mich: es gab in ihm noch andere, die ihn bewegten. Wollte er aus dieser Position des Bis-zum-äußersten-Lächeln-gespannt-seins dann wieder zurück in eine neutrale Mundposition, so kam es mir vor, während ich dort vor dem Bildschirm bei Gosch Sylt schauend mein Fischbrötchen aß, dann musste er den Knechten seiner Mimik den Befehl erteilt haben, ihm das Lippenmaterial über die bekannte Position »Trötmündchen« hinweg wieder auf »Normal« zurückzuziehen. Einiges aber, so schien es mir, war noch nicht genügend einstudiert: So gab es bei Donald Trump, wenn er Zuhören signalisieren wollte, nur eine wenig überzeugende Routine, bei der seine Augen urplötzlich haselnusshaft und wie vom Klappern der Kastagnetten begleitet auf und zu klickerten.

Insgesamt wirkte das Mein-des-amerikanischen-Präsidenten-ansichtig-werden aufgrund dessen Mienenspiels so, als ob unter seinem Gesichtsfleisch kardanische Stangen ihren Dienst versehen müssten, um ihrem Herrn das für die Verständigung mit Außenstehenden nötige Mienenspiel zu ermöglichen. Dann wiederum schien es, aber es war ja unmöglich, dass sogenannte Hacker sich nun eines Menschen bemächtigt hatten. Gerade so, als ob er nicht mehr Herr seiner selbst war.

Emmanuel Jean-Michel Frédéric Macron hingegen: tadellos. Nein: tadellöser! Was eventuell auch schlicht daran lag, dass ich ein Europäer war wie der Franzose, wohingegen Trump, als Ami, ein für unsere althergebrachte Kultur halt noch immer einen Artefakt repräsentierte. Ein Produkt. Na gut, im Zweifel ist halt Space doch The Place.

Um mein durch Television niedergedrücktes Empfindungsfeld wieder aufzurichten, lernte ich dann auf der Zugfahrt die Farbnamen meiner Buntstifte auswendig. Die stehen bei den Polychromas von Faber in goldener Prägeschrift auf dem jeweils in der Minenfarbe passend lackierten Zedernholz und sind, auf Deutsch zumindest, auch noch überwiegend interessant:

Fleischfarbe Hell / Light Flesh

Krapplack Rosa / Pink Madder Lake

Alizarinkarmesin / Alizarin Crimson

Warmgrau IV / Warm Grey IV

Van-Dyck-Braun / Van-Dyck-Brown

Und immer so fort. 120 Stifte später sah ich die leuchtenden Türme von Frankfurt, deren Namen ich längst im Herzen bei mir hatte.

14.7.

Am Morgen traf ich auf Oskar Roehler. Das war, als ich gerade die Treppe zu einer U-Bahnhaltestelle hinunterhüpfte. Wir erkannten uns wieder, erschraken, und er sagte: »Wohin des Wegs?«. Woraus sich wiederum ein die Stunden verstreichen lassendes Gespräch entspinnen sollte – wie zur Feier unseres Wiedersehens; zur Feier des Unverhofften an sich. Andy Warhol hat über die Eigenartigkeit des Stadtlebens im Manhattan seiner Zeit geschrieben: »Wenn Du jemandem 20 Dollar schuldest, triffst Du ihn an jeder Ecke. So lange, bis Du ihm deine Schulden zurückgezahlt hast. Um ihn dann niemals wiederzusehen.«

Wir schuldeten uns nichts. Ich ihm allenfalls noch den Text. Er zeigte mir eine antiquarisch erworbene Kiste kostbarer Zigarren, die er zusammen mit einer noch zu kaufenden Flasche Whisky zu seinem Produzenten zu bringen beabsichtigte. Es war kurz nach zehn Uhr am Morgen. Die Selbstverfickung würde verfilmt.

Auf der Kantstraße holte ich in einem Fachgeschäft für Bonsaibedarf eine Sukkulente ab, die dort über ein Jahr lang nach der Vorlage meiner Zeichnung in eine Form gebracht worden war – mit den Mitteln von Schlinge und Klinge nach altjapanischer Tradition –, mit der ich Friederike zum Geburtstag beschenken würde. Das Ergebnis war, frei nach D’Arcy Wentworth Thompson, seltsam geraten, konnte sich aber total sehen lassen. Dass die Zeichnung, dernach das stoisch vor sich hin wachsende Geschöpf in Form geschnitten und gebunden worden war, in Wahrheit nicht von meiner Hand stammte, es handelte sich um den Toten Maulwurf von Peter Handke, musste ich dem Japaner nicht preisgeben. Er nahm das Geld und lächelte, natürlich geheimnisvoll, in sich hinein. Dort hielt er wohl auch den ursprünglich lateinischen Namen des Gewächses, aus dem er seine Bioskulptur geschaffen hatte, verborgen. Und gab ihn, selbst auf Nachfrage hin, nicht heraus.

In Frankfurt dann, am Morgen nach der langen Fahrt durch die sommerliche Heide hinter Braunschweig: strahlender Sonnenschein. Es ist so warm hier, auch ganz unfeucht – ich war völlig falsch angezogen in meiner Berliner Kluft mit schweren Schuhen. Ein blauer Kran hievte stapelweise Dämmstoffplatten von der Straßenseite her auf das abgedeckte Dachgebälk des gegenüberliegenden Hauses, vor dem kürzlich erst die tote Akazie gefällt worden war. Immerhin dann doch bloß eine Maßnahme zur Wärmedämmung und nicht, wie ursprünglich befürchtet, ein Ausbau des Dachgestühls zum Penthouse mit Blick auf die Türme der nahen Innenstadt. Also würde die Gentrifizierung dies schönen Viertels noch ein paar Jährchen auf sich warten lassen.

Bei der Mume gibt es heute Frittiertes. Auf dem Balkon drängt sich rauchend Verwandtenbesuch.

13.7.

Im Treppenhaus des Ullstein-Verlages hängt eine Galerie der Autoren, sie windet sich, der Beschaffenheit des Treppenhauses gemäß, spiralförmig den darüberliegenden Geschossen entgegen und dort oben, weil es keine Lichthöfe mehr gibt, ist es dunkel. Zu Anfang der Reihe, ganz unten, wo Licht aus dem umgebenden Garten durch das salathafte Laub von den Hortensien dringt, hängt ein Portrait von Gerhart Hauptmann. Ich blieb davor ein paar Augenblicke lang stehen. Wie der aussah! Eingefangen in einer späten Periode mit sowohl zerzaustem Backenbart als auch von imaginären Windstößen aufgewühlter Frisur (beides blendend auf einer Schwarzweißfotografie), bekleidet in einer Art von Talar mit breiter Kröse, der ihm, dem Dichter der Weber, dem Schöpfer des Alten Hilse, der mit geweiteten Augen etwas außerhalb des Bildes mit seinem nackten Blick zu zähmen scheint, etwas Mythisches schenkt. Kein Wunder, dachte ich, dass, wer solche Figuren um sich wusste, auf Sätze kam, die mit Wendelin beginnen und im gleichen Atemzug darauf: Tamtam.

Ein Thema übrigens, auf das ich mit Oskar Roehler in der ein paar Stockwerke über dem Bildnis Gerhart Hauptmanns eingerichteten Interviewsuite des Verlages zu sprechen kam. Es wurde, sowieso, ein angenehmes Gespräch. Animiert, wie man zu Hauptmanns Zeiten wohl geschrieben hätte. Was gar nicht mal unbedingt bloß am Titel seines Buches lag, das auf einem kleinen Tisch, der zwischen unseren tiefen Sesseln stand, aufgebaut war, sodass ich mich, was ursprünglich so nicht geplant gewesen war von mir, mit Bezug auf dieses zwischen uns aufgestellte Buch und dessen herrlichen Titel, zu meinem Aufnahmegerät, der Olympussy, hinlehnen konnte, um Satzanfänge wie »In ihrer Selbstverfickung schreiben Sie«, oder »In der Selbstverfickung geht es ja«, aber auch »Selbstverfickung — das ist doch« dort hineinzusprechen.

Anfänglich noch zu jeder halben Stunde, nach zweimaligem Abwinken roehlerseits dann in weiteren Abständen, öffnete eine Betreuerin des Verlages die Tür, um an das Verstreichen der Zeit zu gemahnen. Den zwischen uns ebenfalls aufgestellten Snackteller rührten wir beide kaum an. Ich hatte dafür einen guten Grund. Denn an den Abenden und Morgen zuvor hatte ich aufgrund einer anstehenden Reise sämtliche leicht verderblichen Nahrungsmittel aus meinem Kühlschrank noch aufessen wollen. Wie Peter Handke es einst in seinem Tagebuch schrieb: »Kindergeburtstag. Ich esse die Reste nicht aus Hunger, sondern um aufzuräumen«.

12.7.

Im Traum war ich in aller Munde. Man sprach von mir, untereinander, innerhalb einer sich in Bewegung befindlichen Gruppe von Personen, mit denen ich mitging. Man strebte einem Ziel entgegen, wo, als der Pulk zum Stehen gekommen war, angeblich ich betrachtet werden konnte bei dieser Tätigkeit, von der uns bis dahin nur berichtet worden war.

Ich saß dort und flocht aus vielleicht Stroh das Dach eines niedrigen Hauses. Das goldgelbe Material war fein und glänzte wie junger Draht in dem Licht, das so warm leuchtete wie ein Widerschein der untergehenden Sonne auf dem Spiegel eines Sees. Und es schien ebenso flüssig, es rann dem, der angeblich ich sein sollte, von oben herab durch seine flechtenden Finger. Und war es geflochten, schien es erstarrt.

Der duldsame Waldboden, auf dem wir standen, reichte bis über die Klippen, an deren Rand das Haus erbaut worden war. Ob die Lichtung von Kiefern gesäumt war, ob dort Heidelbeeren wuchsen, daran konnte ich mich nicht nach dem Aufwachen nicht mehr erinnern. Die Frage danach aber, die Suche nach Hinweisen auf diese Details in meiner Erinnerung, wie genau dieses letzte Bild beschaffen war oder eingerichtet, beschäftigt mich intensiver als die Frage nach der geteilten Perspektive. Dass ich, von anderen angesteckt oder transportiert, zu einem Schauplatz gebracht worden war, wo ich mich in Selbstvergessenheit flechtend anschauen konnte. Vom Traum bleibt ein unergründliches Glücksgefühl.

11.7.

Diese regnerischen Wochen sind wie eine neuartige Jahreszeit, mit einem angenehmen Klima, das die Innerlichkeit ermöglicht: ein grüner Winter. Ich sitze gern am offenen Fenster und schaue in den tropfenden oder dampfenden Garten. Ich friere nicht, trotzdem habe ich keine Lust, hinauszugehen, mich unter dem Himmel zu bewegen, wenn sich dort schon die Wolken ineinanderschieben. Ich sehe das aus einer Perspektive wie am Grund eines Sees liegend, es sind große Schiffe, die dort oben treiben.

Im Bett liegen, kühle Himbeerspeise löffeln und sich gegenseitig aus dem Buch mit den Straßenportraits von Hermann Lenz vorlesen: Stuttgart – Geheimnisse einer Stadt. Mit welcher Hingabe er da nur zum Beispiel die gar nicht wechselvolle Geschichte der Markthalle beschreibt (und das einzig spektakuläre Detail, nämlich dass den Marktleuten dort früher die Waren mit einer Spezialstraßenbahn auf Schienen bis in die Halle hinein angeliefert worden waren – letzte Spuren der dafür dorthinein verlegten Schienen findet der Kenner bis heute –, verschweigt). Nicht um Werbung zu betreiben, oder um, wie es leichtfertig hieße, »Denkmäler zu setzen«; die Denkmäler stehen ja bereits, sondern als Liebesdienst.

Da ist er mein Vorbild. Wenn ich, wie am Sonntag, am späten Vormittag aus dem Fenster schaue und auf dem Rasen hat sich eine Gruppe von elf Nebelkrähen niedergelassen, andere Vogelsorten gibt es nicht zu sehen weit und breit. Diese Großen gehen umher und beackern den Rasen. Es waren wenige Minuten, nach denen es aufgehört hatte zu regnen, anscheinend würde es bald wieder losgehen und in dieser trockenen Phase steckten die Regenwürmer ihre Hinter- oder Vorderteile, da sie keine Augen haben, war das nicht entscheidend, an die frische Luft. Die Schnecken, nackte, von denen es in diesem Juli enorm viele gibt, hatten sich aufgemacht, einen Fleck mit ihrer Erfahrung nach noch zarteren Halmen oder noch schattigerem Grün zu erreichen. Jetzt wurden sie allesamt abgeerntet und vertilgt von den Krähen, die mit ihren fingerlangen Schnäbeln die dafür ideal ausgebildeten Gartengeräte besitzen. Wasserscheu sind sie aber trotzdem. Sobald es anfängt zu regnen, verziehen sie sich in die Bäume und warten dort ab.

Es scheint, wenn ich mich an den letzten Sommer zurückerinnere und die entsprechenden Einträge nachlese, ein Juli für Krähen. Krächzen am Morgen, Krächzen zur Nacht. Kurz nach vier in der Früh flattern sie von den Schlafplätzen herunter, um sich zu laut zu streiten. Vielleicht ist es auch kein Streit, vielleicht ist es eine Art Triumphgeheul, ein Besatzergesang, denn der Garten gehört seit geraumer Zeit ihnen, weil kein Mensch dort sitzen will oder Federballspielen, so lange es andauernd regnet (oder auch bloß bewölkt und diesig ist). Am Samstagmittag hatten die Nachbarn schon alles für ein langwieriges Sommerfest vorbereitet. Es gab einen belastenden Soundcheck und ich befürchtete schon, der kostbare Abend und die Nacht könnte uns verhagelt werden durch solche Musik, wie sie bei dem Soundcheck vorgeführt worden war wie ein Folterinstrument. Dann aber, kaum standen die Stühle und waren behusst, fing in den Bäumen das schöne Rauschen an und ein schlanker Kahn mit bleigrauer Unterseite trieb seitwärts heran. Perlgraue Schleier wehten vor der Freilichtbühne im Wind. Aus dem notdürftig bereitgestellten Zelt auf der Terrasse war ein Grummeln zu hören. Grimmiges Gläserklirren. Ansonsten blieb es lauschig. Und wir schliefen sehr lang in der Vorfreude auf einen Tag, an dem man beim besten Willen nicht vor die Tür gehen können würde.

8.7.

Gestern Abend traf ich mich mit Jan vor einem Supermarkt. Er hatte mir vor einiger Zeit schon einen Spaziergang versprochen als Geschenk, jetzt war die Gelegenheit. Damals war ich noch in Cagnes und es schien mir fast unglaublich, dass angeblich erst knapp zwei Wochen vergangen sein sollten, seitdem ich dort gewesen war. Damals schrieb er mir, er könnte mir eine Welt in Charlottenburg zeigen, in der alles anders ist.

Es war Starkregen angesagt worden. Am Himmel hing schon eine dunkelgraue Fläche und vor dem Imbissstübchen auf dem Parkplatz klappten die Betreiber ihren Sonnenschirm ein und umwickelten das Gestell zur Sicherheit mit Dönerfolie. Ein schmaler Weg führte hinter den Supermarkt auf eine Packstation zu und dann entlang des Bahndamms bis auf eine Anhöhe, von der aus wir die Fassaden der Häuser sehen konnten auf der einen Seite, auf der anderen die Haltestelle der S-Bahn und dazwischen, wie aufgespannt von Wohnen links und Fahren rechts, war alles grün und buschig – ein waldiges Tal. Eine Kleingartenkolonie. Aber was für eine. Wie vergessen. Mit krummen Wegen, die auch einmal vor ein Gebüsch führten, vor dem eine Bank stand und es also nicht weiter ging. Mit überwachsenen Schienen einer Kleinbahn, die immer wieder auch freigelegt waren. Mit Obstbäumen. Und nur in einem einizigen Garten waren überhaupt Menschen zu sehen. Sie saßen vor ihrem niedrigen Haus dort, vielleicht aßen sie etwas, das Gebüsch war verwildert. Es war sehr still. Bis auf die Vögel. Vom S-Bahn-Verkehr war hier nichts zu hören. Bald hatten wir einen Teil des Gartens erreicht, der grenzte an die Autobahn. Und dahinter ragte der absurd silberfarbene Block des Messehallengebäudes auf.

Das Vereinsheim, es lag auf einer weiteren Anhöhe, erreichten wir gerade noch rechtzeitig – auch hier nur drei Leute, zwei Hunde und die Wirtin, die im Inneren vor einem riesigen Bildschirm, der Angela Merkels Rede vor den G20 in Hamburg zeigte, Gläser sortierte. Kaum hatten wir unter der Markise Platz genommen, fing es zu regnen an. Man ist ja mittlerweile verwöhnt, was den Regen angeht. Starkregen war das jedenfalls nicht, denn durch den grauen Schleier waren noch immer die Fassaden der Stadt dort unten zu entziffern. Und ich fragte mich, weshalb ich von diesem Garten in all den Jahren nie erfahren hatte. Ich fuhr ja nun wirklich beinahe täglich mit der S-Bahn ganz nah dort vorbei.

Von unten her glich die Markise sozusagen zunhemend einem blau und weiß gestreiften Beutel der mit Hochdruck von Wasser gefüllt wurde. Es knarzte dort schon. Im Inneren drohte der laute Fernseher. Aber ansonsten? Es gibt ja kaum noch gemütlicheres, als bei Starkregen im Juli mit einem Freund unter einer Markise zu sitzen mit Ausblick über üppig grünendes Land mitten in der Stadt. In die man jederzeit zurück könnte. Und dies an einem Ort, für den das schöne Wort verwunschen erfunden wurde. Die Frau neben uns, vielleicht war sie einst Schauspielerin, erzählte uns von ihrem Gefühl, als sie zum ersten Mal die eiserne Pforte, die es damals wohl noch gab, aufgedrückt hatte, und dahinter die Gartenkolonie entdeckte: »Ich dachte, ich bin Alice im Wunderland«.

Nach dem Regen gingen wir heim auf gewundenen Wegen. Bald stieg nebliger Dampf auf zwischen den Hütten. Bäume und Boden schwitzten aus. Und immer wieder, da ist das Einmalige an dieser Anlage, im Hintergrund städtisches, oder auch mal geradezu ein Talblick und dort unten lag die Bahnstation. Mal war es Caracas, das wir dort sahen, mal war es wie dort, wo ich aufgewachsen war. Mittendrin auch eine Brücke aus verrostetem Eisen quer über ein vom Efeu erobertes Tal.

Und kaum steht man wieder auf der Straße, mit den Häusern im Rücken, und vor sich hat man nun eine nichtssagende Garagenwand, in der sich die kleine Pforte befindet, kann man es wirklich nicht glauben, dass auf derart wenig Land sich eine reichhaltige Welt verbirgt. Aber es war so: Hier drüben sieht man das Messegebäude, dort verläuft die Autobahn, das ist die Lautsprecherstimme vom Bahnsteig her.

7.7.

Joachim Meisner, der Kardinal, war angeblich im Sitzen gestorben, mit dem Gebetbuch in der Hand, also quasi lesend, behauptete Adson. In unserem Disput war es ursprünglich um das Aussterben meines Vornamens gegangen und um den von Joachim Lottmann, den wir beinahe zufällig vor dem Lokal in der Uferstraße getroffen hatten, in dem die von Anne und Holm Friebe veranstaltete Talkshow Nun – Die Kunst der Stunde anberaumt worden war – und das nicht zum ersten Mal. Also keine Premiere, aber wieder war es so voll, dass wir gezwungenermaßen durch weit geöffnete Fenster vor dem Gebäude stehend in den mit zahlendem Publikum gefüllten Raum hineinlauschten und ab und an auch schauten. Wobei, das fiel dem Novizen freilich nicht so stark auf, das Geschehen dort auf der niedrigen Bühne vergleichweise unspektakulär geworden war. Verglichen mit dem Premierenabend vor allem, als Holm selbst dort in einem schwarzen Morphsuit aufgetreten war.  Jetzt gab er, der bei den Zukunftsforschern Horx und Urch das Handwerk von der Pike auf gelernt hatte, den Routinier. Joachim Lottmann gefiel das sehr gut. Vor allem wohl, weil das alles gut zu seinem allerneuesten Textvorhaben passte, einem Roman, der vom Stillstand unserer Tage erzählen würde. Der Titel stand schon fest: Die Welt von Gestern. Es gab da wohl tatsächlich auch eine leibhaftige Begegnung von ihm mit dem Sterbezimmer von Stefan Zweig und von dort aus, durch die weit geöffneten Fenster des Sterbezimmers von Stefan Zweig, würde sich die Erzählung dann entrollen bis in unsere Gegenwart und somit auch vor dieses weit geöffnete Fenster des Lokals mit dem Namen Dujardin.

Ich war mit meinen Gedanken wie immer weit weg. Nämlich eben dort: in Gedanken. Beispielsweise fragte ich mich, wie Lottmann sich das alles merken konnte, was an diesem Abend erzählt und auch bloß geredet wurde. Es würde sich ja einst in Der Welt von Gestern wiederfinden. Dabei machte er sich offenbar niemals Notizen. Ein Gedächtniskünstler? Oder, schauderhafte Vorstellung: fing er wie manisch an zu notieren, sobald er außer Sichtweite war – ein noch schlimmeres Heimlich wohl, als hinter vorgehaltener Hand; sitzend in seinem Wartburg bei ausgeschalteter Kabinenbeleuchtung. Und dann lange ausatmend bis er den Zündschlüssel umdrehte.

Für Adson, den Novizen, war es die erste Begegnung mit Joachim Lottmann gewesen. Als drin auf einer Leinwand ein bis dato unbekanntes Bild projeziert wurde vom auf seiner Mitte gespaltenen Hochbunker im Volkspark Friedrichshain, dessen Ruine heute von einem überwachsenen Schuttberg verborgen wird, machte er davon eine Aufnahme mit seinem Telefon. Ein aus Friesland stammender Künstler mit dem Vornamen Menno mischte sich ein und so entstand dann das Gespräch über Vornamen, weil es jetzt außer Gauck, Lottmann, Sauer und Bublath nur noch mich gab mit dem Namen vom Großvater Christi. Früher war ich weit und breit der einzige Joachim gewesen. Schon als Kind hatte ich mich deshalb wie ein Greis gefühlt.

5.7.

Der Mond stand neben dem Fernsehturm, so als sei er ein Trabant der silbernen Kugel. Kleine Wolken hatten sich darum geschart. Der übrige Himmel schien blau und leer. Es war kurz nach 18 Uhr.

Adson von Melk, Novize der Modewoche, hatte mich vom Hotel Adlon, das sein zwanzigstes Firmenjubiläum seit der Wiedereröffnung mit einer Modenschau von Anja Gockel, einer Pfälzerin, gefeiert hatte, bis hierher, auf die von frühabendlichen Sonnenstrahlen beschienenen Terrassenplätze vor dem mythischen St. Oberholz, begleitet. In wenigen Minuten würden wir zur Präsentation von Herbert Grönemeyers T-Shirt-Kollektion aufbrechen, und wie es sich für einen mythischen Ort gehört, tauchte gerade in dem Augenblick, als ich dem Novizen die essentiellen Informationen zur Person des Gründers Ansgar Oberholz sowie freilich auch zur Geschichte des Hauses – dass sich in den Räumen ursprünglich ein Burger King befunden hatte et cetera – in freier, launig gestalteter Rede diktierte, stand eben dieser, Ansgar Oberholz selbst, vor uns und hieß uns dort willkommen. Er trug einen schwarzen Fischerhut, an dessen Seite er ein A aus silbernen Lochnieten zeigte. Wir hatten uns, seitdem ich an den See hinaus gezogen war, nicht mehr gesehen. Er war im vergangenen Jahr erneut Vater geworden, sein Lokal hatte sich farbthematisch etwas verändert, aber noch immer saßen dort dicht an dicht die Surfer und Entrepreneure an ihren Laptops. Nebeneinander aufgereiht, aber wie träumend: ein jeder für sich.

Wir sprachen über die Seelenhaftigkeit von Twitter. Dass es unmöglich ist zu erklären, was man dort erlebt, obwohl einem, sobald man dort wieder eintaucht, klar ist, dass man etwas erlebt. Aber was, das entzieht sich der Vermittelbarkeit. Merkwürdigerweise. Ein Zwiegespräch, das uns bis zur Ankunft bei dem temporären Laden für die T-Shirts von Herbert Grönemeyer in Atem halten sollte. An dem kleinen Platz vor der Einmündung zur Weinmeisterstraße saßen die Essenden zu Hunderten auf kippeligen Plastikstühlen, die dafür aus Thailand importiert worden waren. Zusammen mit den originalgetreuen Plastiktischen aß man hier nicht nur wie auf einem Nachtmarkt in einem subtropischen Entwicklungsland, man saß auch so.

In der Mode, führte ich aus, und der Novize machte sich Notizen in einer App auf seinem Telefon, einem älteren Modell von Samsung, ist es nicht immer möglich, so andauernd etwas Neues zu präsentieren, wie es der sogenannte Kollektionsrhythmus zu den Modewochen vorgibt. In Paris beispielsweise, wo zur Stunde die Haute Couture gezeigt wurde, war es an diesem Tag wohl um den Farbton Grau gegangen (dies hatte uns eine bayerische Bloggerin berichtet, die selbst wiederum in einem Polohemd mit aufgestickten Logos der Supermarktkette Lidl gekleidet war; darauf hatten wir sie angesprochen. Und es stellte sich heraus, dass dieses Polohemd tatsächliche Berufskleidung für die Angestellten von Lidl war. Die Bloggerin verfolgte durch das zweckentfremdende Tragen von Berufskleidung ein journalistisches Projekt. Am nächsten Tag stünde Ikea an, am Tag darauf Foodora usf.) An der Bar von Herbert Grönemeyer gab es zwar keine grauen T-Shirts, aber dafür einen neuartigen Drink aus Gurkensaft und Gin, der mit einem Dillsträußchen verziert wurde. Und Christ Stricker trägt ihr Haar neuerdings mit Indigo gefärbt. Im schattigen Hinterhof relaxte Herbert Grönemeyer. Sein Händedruck war angenehm fest, dabei trocken und warm.

Es würde Regen geben, erklärte ich jetzt Adson von Melk, da am Himmel sich ein Vlies von Wolkenfasern gebildet hatte, für das ich, obwohl ich den Anblick dieses Phänomens liebe, noch immer keinen Fachbegriff wusste. Es sieht dann so aus, wie die Gewelltheit des Sandes in der Sahara kurz vor Sonnenuntergang. Bloß halt aus Wolken und in weiß, dann aprikosenfarben, dann hellgrau auf zunehmend dunkelblauem Grund. Sehr gern hätte ich ein Dictionary of Clouds, einen dicken Band aus Wolkenbildern, wie das Dictionary of Water von Roni Horn. Gibt es aber nicht.

3.7.

In der Moabiter Kirchstraße, sie mündet auf der einen Seite ans Holsteiner Ufer, auf der anderen Seite öffnet sie sich in einer gedachten Linie dem nicht nur sogenannten Sommergarten von St. Johannis, folgen nicht nur auf ein- und derselben Straßenseite, sondern auch noch in direkter Nachbarschaft drei Cafés aufeinander. Bei den vom Sommergarten aus betrachtet hinteren zweien sind die Stühle und Tische stets besetzt, obwohl die Plätze dort die meiste Zeit über im Schatten liegen. Das erste Café wiederum hat schon ab acht Uhr morgens vollen Sonnenschein, aber dort sitzt kaum je irgendjemand davor. Der Grund dafür ist einfach: Es ist der Kaffee, der hier unglaublich scheußlich schmeckt. Und zwar, ich habe es ausprobiert, über sämtliche Spezialitäten dieses auf Kaffeespezialitäten angeblich sogar spezialisierten Cafés. Woran es liegt, ist so schleierhaft, wie es dem Neuling in der Kirchstraße schleierhaft erscheinen wird, weshalb dort ausgerechnet alle im Schatten Kaffee trinken wollen. Bis er dann auf einem Sonnenstuhl Platz genommen haben wird, um einen Cortado, einen Cappuccino oder, den im Sonnenschein Sitzenden erscheint diese Spezialität ja besonders verlockend: den seltenen Affogato zu sich zu nehmen. Ein Vorhaben, das er zwar nicht direkt bereuen wird, aber je nach Geldbeutel halt schon, denn billig ist es dort ebenfalls nicht; obwohl man das zumindest annehmen wollen würde. Wobei: Der Begriff Spezialität an und für sich bedeutet vielleicht auch noch nicht von vorneherein, dass es sich bei einer Spezialität um etwas Angenehmes handeln muß. Eine Kaffeespezialität darf auch besonders scheußlich schmecken, dann ist das eben das Spezielle daran. Der Barrista dort, ein übrigens extrem freundlicher Mensch, was den Besuch dort noch unangenehmer macht, weil man sich nicht traut, ihm die Meinung zur miserablen Qualität seiner Kaffeespezialitäten ins freundlich lächelnde Gesicht zu offenbaren, verkauft sozusagen den Sonnenschein teuer.

Es ist eine auch ansonsten besondere Straße, an deren hinter der Brücke gelegenem Ende das historische Baumkuchencafé liegt, dann kommt ein kroatisches Grillrestaurant und hinter der S-Bahnstation die im Grünen gelegene Akademie der Künste. Früh am Morgen und in der Mittagszeit dann auch wieder wird die Straße zudem von besonders gekleideten Menschen frequentiert und, weil es jeden Morgen dieselben sind, die hier rauchen und stehen, bevölkert. Die T-Shirts, die sie tragen, sind gut geschnitten, dunkelblau und quer über die Rückenpartien steht in weißen Versalien das Wort Justiz. Ein buzz word zum einen, man will gleich Vetements-Witze machen, aber hier in der Kirchstraße handelt es sich bei den T-Shirts mit Potential um Berufskleidung. Denn in der zierlichen Kirchstraße ist, je nach Betrachtungswinkel, auch noch oder vor allem das große Strafgericht untergebracht. Obwohl es sich bei den auf der Straße cornernden Justiz-T-Shirt-Trägern vorrangig um Frauen handelt, spricht man sie freilich nie an. Es ist ja klar, weshalb sie diese T-Shirts tragen. Es steht ja groß hinten (und etwas dezenter auch auf der Vorderseite über der linken Brusthälfte) drauf. Dort, also unterhalb des dezenteren Justizlogos auf der Vorderseite des T-Shirts ist übrigens noch eine ebenfalls in Weiß, ebenfalls in dieser klaren, supremehaften oder vetementshaften Type in serifenloser Schrift eine fortlaufende Nummer aufgedruckt, die dem gesamten T-Shirt-Konzept den Flair einer limited edition verleiht. Heute, als ich hinschaute, war beispielsweise 100026 eine rauchen mit 100027. So etwas merke ich mir, seltsamerweise. Die Namen der beiden wohl kaum.

Richter muss es freilich auch geben. Man erkennt sie an der weißen Krawatte zum weißen Hemd, so überqueren sie die Schnellstraße, um in die Kirchstraße einzutreten. Den Talar dabei oft lässig über die Schultern gehängt.

2.7.

Ich war schon auf einigen, wenn auch wenigen Trauerfesten eingeladen gewesen. Doch ich nehme an, dass deren Zahl nun doch mit der zunehmenden Anzahl meiner Geburtstage ebenfalls zunehmen wird – »die Einschläge« und so weiter usf.

So dachte ich denn gestern an die Feier zu Ehren von Marc Fischer in dieser Aussegnungshalle in Hamburg: Heiß war es gewesen. Und Gerüchte sirrten durch den Busch: Wer, wo, wann, wieviel von was genommen hatte. Und vor dem Sarg aus Eiche, ohne jegliche Decke, lag ein Blütengesteck in Form des Logos von GQ, gesandt von seiner letzten Redaktion, aus München. Als über die Lautsprecher ein Bossa-Nova-Lied abgespielt wurde, schluchzte links hinter mir Bernd Begemann laut. Und weil niemand es verhindern wollte, hielt Otmar Jenner dann eine Rede; eine von vielen. Deren Inhalt war dyadisch konzipiert, es ging um einen von ihm, Otmar Jenner, als möglich gedachtes Wiedersehen mit dem Toten (Marc Fischer), der in einem Sarg, bekränzt mit dem aus Blumen geformten Logo der Zeitschrift Gentleman’s Quarterly dort zu seinen sogenannten Füßen vor ihm stand oder lag.

Die Übertragung aus dem Dom zu Speyer hat mich gestern so erfasst: also innerlich, so als ob sich da eine Faust um meine Innereien geklammert hätte – die blauen Lichtfinger, die sich entlang der Kathedralbögen empor und so weiter, besonders aber die sogenannten Handlungen der Leute, der Masters of Celebration, jenen mit den roten Käppchen auf: Ich hatte so etwas noch nie gesehen, es nie bezeugt als Protestant, der ich ja nun bin, diese Power of Love by the Church of the Catholics: einmal vor dem Straßburger Münster zur Osterzeit, als sie dort allesamt Grün trugen. Aber bei Kohl waren es dann die Gesänge, die funkelnden Geräte dann. Ich muss unbedingt Jan fragen, der bei seiner Inszenierung der Arabella in Leipzig ja dieses Funkeln der Geräte mir erstmals vorgeführt hatte, ob er, als Katholik, seine Inszenierungsidee eventuell von dieser Aufführung des sogenannten Hochamtes von päpstlichen Gnaden her und so weiter und so fort.

Jedenfalls musste ich weinen. Die Tränen kamen bei mir einfach so. Und als die Kaiserglocke schlug und es, wie es heute ja in der Berichterstattung noch einmal betont worden war, »still blieb«, strömten sie noch minutenlang und nur noch weiterlängs nach.

Ich musste mich, als ich erwachte – nachdem ich wider Erwarten traumlos geschlafen hatte –, zurückziehen in die Obhut der Mutter Fourage. Wo die Hochbeete blühten, die Greise in hellblauen Hemden und kurzgeschnittenem Haar ihr Lachen inwärts lachten; wo sie es verschluckten. Lavendel blühte dort neben der persischstämmigen Rose. Umrahmt von rotfarbigem Sandstein. Weiter vorne stand Kirschlorbeer, Cotoneaster, dazwischen wohl auch Oleander. An den Tannen hingen frisch und grün die Zapfen. Um das Stadion herum, das war der Grund meines Herkommens: die herrlichsten, krummsten, wettergeformtesten Kiefern. Das Europa, von dem Helmut Kohl geträumt haben mag: In den deutschen Vorgärten gab es das schon.

1.7.

»Kosmischer Staub lässt die Sterne erröten.«

Am Vorabend hatte mir Joachim Lottmann mitteilen müssen, dass er aufrgund der Pleite der Fluggesellschaft Air Berlin nun doch nicht und entgegen seiner Ankündigung nach Berlin kommen kann. Daraufhin schlief ich dann gut, wachte aber auf in dem Pflichtbewusstsein, teils auch aus Neugierde, wie denn dieser europäische Staatsakt zum Tode Helmut Kohls geprägt würde. Eine Feier des dyadischen Denkens: Bill Clinton zum Beispiel, im Gesichte bedenklich gerötet, wünschte dem Toten ein »sleep well«.

Das Christsoziale zeigte sich, möglicherweise zum letzten Mal auf eine bizarre Weise (man fuhr den Leichnam nach Straßburg, flog ihn nach Ludwigshafen, schiffte ihn nach Speyer), an Bizarrität nur noch übertroffen von der Witwe des Altbundeskanzlers selbst, hier noch eventuell gleichgezogen habend mit Ulla Berkéwicz. Und ich lag im Bett, sah das auf Phoenix Live und es wurde mir deutlich gemacht: das mit der BRD ist nun endlich vorbei.

Antonio Tajani beginnt seine Ansprache zum europäischen Staatsakt für Helmut Kohl mit dem wunderschönen Wort Oggi. Das ja so viel schöner ist als unser »Heute«. (Silvio Berlusconi schlief kurz darauf ein.) Am Himmel war schon wieder diese Situation zu sehen, ich musste noch einkaufen, und in den See springen wollte ich auch. Da kreuzte ein Segelboot mit gewittrig farbenen Segeln. Und ein anderes, mit zwei roten Blockstreifen, fuhr schnittig vorbei.

In der Pause zwischen Krypta und Kondukt war ich im Supermarkt Schlachtensee einkaufen, währenddessen fing es zu regnen an. Der Himmel weinte Rotz und Wasser um den Vater Europas im Sarg. Die Offiziere in den gemischtfarbigen Uniformen, so machte es den Eindruck, hatten Mühe, ihn auf das ihm zugedachte Podest zu hieven – comme d’habitude.

Am Schlachtensee, wo man selbst in der Filiale von Butter Lindner die Feierlichkeiten auf Phoenix verfolgte, kaufte ich im Andenken an Helmut Kohl ein Bauernbrot, ein halbes Pfund Mondseer Käse und eine Scheibe Kaisersülze, wie sie Helmut Kohl selbst dort (in der Filiale Am Roseneck allerdings) stets für sich eingekauft hatte. Dann fing es wieder zu regnen an, ich schaute den Trauerzug auf Phoenix Mobile, und ein Ludwigshafener im himbeerfarbenen Langarmunterhemd ohne Jackett beklagte sich, dass der Konvoi viel zu schnell an den Ludwigshafenern vorbeigefahren worden war. Wider der Ankündigung.

Und draußen, die Fenster standen beide offen: grau und leer der See. Ewig rauschen die Wälder. Krähen singen. Das Leben (als Drohung für die Lebenden): it will go on.

30.6.

Als ich gestern am Morgen durch den kleinen Tiergarten ging, der in Moabit zwischen zwei stark befahrenen Straßen liegt, sah ich dort unter einem Baum eine Gestalt liegen, die hatte sich in eine weiße Steppdecke eingewickelt, so eng, dass ihr das Haar wie zu einem Bund Schnittlauch zusamengeschnürt aus der Rolle oben herauslugte. Die Decke war unbefleckt, der Baum eine zierliche Birke, die kaum Schatten geben würde – es handelte sich also um einen symbolischen Schlafplatz, so wie ein gezeichneter Hund auch stets einem Baumstamm entgegenpinkeln wird. Kurz darauf fing es zu regnen an.

Und zwar so, dass aus den stark befahrenen Straßen bald schon ganz schwach befahrene wurden. Ein Regnen, für das die Fenster überhaupt erst erfunden wurden, weil zuvor, bevor es Fenster gab, die Leute bei tagelangem Regen in ihren dunklen Häusern ausharren mussten, um durch ehrfürchtiges Lauschen herauszufinden, ob es denn bald schon wieder aufgehört haben würde mit dem Regnen, oder ob denn das Wasser noch immer und immer nur weiter vom Himmel fallen würde, fiele und fällt.

Ein Regnen, das freilich auch, für das man das Internet erfunden hat. Ich schaute gleich nach, ob es denn jemals in der Geschichte des städtischen Lebens schon einmal etwas vergleichbar grässliches gegeben hatte wie diesen Regen – ja, ich stieß sozusagen auf den Bostoner Sirupstrudel vom Anfang des 20. Jahrhunderts, im Symmetriejahr 1919 (noch vor dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust): gar kein Vergleich. Augenzeugen konnten oftmals gar nicht mehr erkennen, ob ein noch lebendes Lebewesen ein Tier war oder ein Mensch, wenn es sich, bis zur Unkenntlichkeit mit dunkelbraunem Sirup verkleistert, aus dem die Straßen von Boston erstickenden Melassestrom hatte befreien wollen, »woraufhin sie darin nur noch tiefer versanken«. Gottseidank, dachte ich im Stillen bei mir und schaute aus dem Fenster auf die von Menschen und Tieren befreite Natur des Parks nebst seiner Straße, hat Adalbert Stifter das nicht mehr mitbekommen. Der Bostoner Sirupstrudel hatte seine Sonnenfinsternis glatt in den Schatten gestellt.

Ähnliches schien auch Moritz von Uslar zu empfinden. Es kam ein Tweet mit seinem Lob des Regenschirms.

Und schon war wieder der Tag vorüber. Ich betrat nach den vielen Stunden des Zuschauens durchs Fenster zum ersten Mal selbst das Szenario und stellte fest: der Regen war ja ganz warm. Nass freilich auch, aber das fand ich nicht schlimm, denn ich war ja bereits verschnupft. (Und mehr als das würde nicht möglich sein. Superlativisch verschnupft sein – nichts, das nicht schwönde!) Ich wurde so nass wie schon lange nicht mehr, fühlte mich aber, nachdem ich die nassen Sachen zuhause abgelegt hatte, so trocken wie noch nie. Und dachte an die Worte von Justin Andre, der Dicken Bürste, wie scheußlich unser Leben doch wäre, wenn Wasser niemals trocknen würde.

Rasch zu Bett. Zuvor stellte ich aber eine Blechschüssel auf den Balkon, um darin das große Trommeln zu fangen. Und trank heute früh, da regnete es noch immer, meinen ersten Kaffee mit dem Wasser des Regens gebrüht. Er schmeckte natürlich himmlisch.

29.6.

Um 5 Uhr 11 in dem bestimmten Gefühl erwacht, dass sich draußen etwas Außerordentliches ereignet hatte. Der Garten hatte sich bis in die Wipfel hinauf mit Nebel gefüllt, so dicht, dass das Wasser des Sees nicht mehr zu erkennen war. Alles grau im Dunst, aus dem die tiefgrün und satt belaubten Zweige herausstachen teilweise, manche blieben nur sichtbar wie in einem beschlagenen Spiegel im Badezimmer.  Es fehlten nur noch ein paar Gorillas. Dazu die Vögel, es war dies ja ihre Morgenstunde, die schrien wie immer, aber nun klang es so, als schrien sie wie wild. Ich selbst war noch ganz müde und vom Träumen verklebt, es war ein Traum gewesen, der viel von den Raffinessen der französischen Backkunst erzählt hatte, die ja, insbesondere bei den kleinen Kuchen, eine auf megahohem Niveau ist – ganz nebenbei oftmals auch, und, selbst in randständigen Bäckereien: für alle verfügbar und einfach so; da hätte ich jetzt einerseits sehr gerne noch länger davon mir erzählen lassen, andererseits wusste ich aber, dass diese außerordentlich schöne Naturbildsituation sich mit jeder weiteren Viertelstunde würde auflösen in etwas weniger Außerordentliches. Es handelte sich also um einen bezwingenden Anblick. Also gab ich mich hin. Und wurde unter anderem belohnt durch das Keckern des Eichelhähers, irgendwo, unten links wie immer, aber heute in einem unscharfen Grünkleks treibend, im Schleier des einen Nebels. Selbst das Klappern seines Schnabels, das ich ansonsten nicht mag, klang nun irgendwie tropisch durch die Surround-Erfahrung. Ich lehnte mich weit aus dem Fenster und berührte den Film warmen Taus auf einem Kirschenblatt.

Als es hell geworden war, hatte sich das Mystische in dem Bild ins Gelbliche verflüchtigt. Und wieder einmal frage ich mich, warum ich meine Träume nicht fortsetzen kann.

28.6.

Eine andere Stille, ein anderes Blau, die Stimme sagt »Hier ist zum ersten Mal seit zehn Tagen das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau« (ich fand es am Morgen schon so komisch, die Zeitung zu lesen. Im Politikteil schien alles so stehengeblieben, im Feuilleton, so kam es mir vor, vergeht die Zeit eher rückwärts, sobald ich eine Weile nicht hinschaue – mein bannender Blick).

Angeblich sollte es die Nacht hindurch regnen, tat es aber nicht; zuletzt lag ein goldener Schein auf dem See. Der Mond stand als klassische Sichel zwischen den Wipfeln. Das deutsche Gebiet ganz in Signalrot auf der Karte im Wetterbericht. 

Mit Lupinenkernen und dem Wetzen der Schwalben lässt sich das Gefühl einer Ankunft, des allmählichen Übergangs, dehnen. Das des Zusammenseins nicht. Das des Ohne-einanders nicht. Nicht einmal im Warmen auf einer Anhöhe sitzend, mit dem Blick auf das Wasser, umgeben vom nächtlichen Grün. 

27.6.

Schön, wenn man mehr als eine Heimat kennt. Beim Landeanflug auf Frankfurt neigte sich das Flugzeug über der Innenstadt in eine Kurve, sodass für ein paar Augenblicke dort unten die Türme sich zeigen konnten: verheißungsvoll. Bald schon würde sich dort noch ein weiterer in die Höhe schrauben. Gleich hinter meinem lieben Einkaufszentrum übrigens, dem Skyline Plaza, wird seit ein paar Wochen am allerhöchsten Hochhaus von allen gebaut. Es heißt The Tower! So viel ist schon bekannt.

Gut wäre beim Fliegen, wenn man auch unterwegs schon aussteigen könnte, aber so wurden wir auf der Fahrt vom Flughafen wieder zurück ins Zentrum, das wir ja zuvor bereits genüsslich im Fluge überquert hatten, mit lieblichen Ansichten vom sonnenbeschienenen Waldboden sowohl vor, als auch nach dem ehemals Waldstadion genannten Stadion, verwöhnt.

Nicht alle Pflanzen hatten es überlebt, andererseits waren sie auch nicht sämtlich verdorrt auf dem heimischen Balkon, sodass man dem mit dem Gießen beauftragten Nachbarn weder ein ehrliches Lob hätte aussprechen können, noch aber ihn wütend zur Rede stellen. Eine unbefriedigende, weil lauwarme Situation, die man so lauwarm wie möglich halt hinter sich bringt, ohne sich auch nur irgendwas anmerken zu lassen. Wenn auch die toten Blumentöpfe vorwurfsähnlich starren. 

Die Schwalben hier sind kleiner von ihrer Spannweite her, aber sie gaben, weil für den nächsten Tag ein großer Regen angesagt war, ähnliche Geräusche von sich, sodass der deutsche Abendhimmel dem französischen noch einmal zum Verwechseln ähnlich war. Beinahe. Denn es ist dann doch ein anderes Gefühl, wenn man von einem Hügel aus auf eine Landschaft herunterschauen kann, und von dort aus auch weit ins Land hinein bis zu den Bergen auf der einen Seite und auf der anderen zum Meer. Da stimmt vermutlich diese Theorie, dass es den Menschen über die Evolution hinweg eingeprägt wurde, dass so ein idealer Ort für eine Siedlung beschaffen ist: auf einer Anhöhe, mit Blick aufs Gewässer, umgeben vom Grün. 

Aber miteinander in einen weiten Frankfurter Innenhof hinein, mit einem freundlichen Himmel, in warmer Luft mit einem Kreisel aus Schwalben: auch gar nicht schlecht. Schön.

Wir knuspern das letzte Pfund Lupinenkerne, das sich in den Falten und Schründen der Reisetasche noch hatte verbergen lassen. Dazu einen Apfelwein vom Duttenhoferschen Apfelgut, auf dem Etikett signiert von Martina und Moritz mit ihrem Geburtstagsgruß. Es läuft eine Dokumentation über von Altersarmut bedrohte Deutsche, keine Künstler, die ihre Häuser in Deutschland verkaufen, um sich mit dem übrigen Geld noch größere und anders hässliche Häuser in Bulgarien zu kaufen, weil sie sich dort mit der schmalen Rente aus Deutschland einen ums zigfache opulenteren Lebensstil leisten wollen. Super gut gemacht, toll gefilmt, mit vielen schönen Ansichten von Schwarzmeerstrand, Dorfleben, Einkaufen an der Strandpromenade et cetera.

Auf dem Balkon der Mume eins drunter blüht es mittlerweile verhalten aus den Balkonkanistern. Als einzige Neuerung steht dort jetzt eine dicke Rolle eines Perserteppichimitates herum. Dazu ihre frisch gewaschenen Pantoffeln aus rubinrotem Samt. Schon seltsam, dass die Deutschen nach Bulgarien ziehen, um ihren Lebensabend intensiver auszuschöpfen und die Mume verlässt ihr Bulgarien, zieht hierher in die Stadt Frankfurt, vermutlich mit demselben Ziel im Sinn.

26.6.

Abschied von Cagnes-sur-Mer. Unterhalb der Dachkante des gegenüber gelegenen Hauses münden die von zwei entgegengesetzten Seiten aufeinander zugeführten Dachrinnen in eine Art Siphon, einen weitrandigen Trichter aus verzinktem Blech. Die weiße Taube (hell leuchtet ihr Federkleid vor dem gewitterschweren Wolkenhaufen über der Stadt) hat sich diesen schattigen Platz zum Nisten ausgesucht. In der Wikipedia steht, dass der Taubenhahn, in ihrem Fall ein Exemplar gewöhnlicher Stadttauben, seiner Henne diverse Nistplätze anbietet, unter denen sie auswählt. Dass dieser, den die schöne Weiße sich ausgesucht hat, ziemlich unstatthaft erscheint für unsere Augen, dazu noch niedrig und auch unbequem, spielt im Taubenmindset keine Rolle. Allerdings saß sie jeweils nur tagsüber dort, währenddessen er ihr einzelne Rispen eines Büschels wildwachsenden Thymians überreichte, anfliegenderweise. Ob daraus dann wirklich ein duftendes Nest enstanden sein würde im Trichter? Wir werden es leider nicht mehr miterleben. 

Schade auch, dass wir nun nicht mehr dem Ritual würden beiwohnen können, bei dem Jean, der Wirt der Petit Bar, allabendlich seine Topfpflanze, die drei blaßrosa Blüten hat, ins schattige Innere räumt, um die damit seiner Aufforderung zur letzten Bestellung noch stummen Nachdruck zu verleihen. Am Morgen räumt er sie dann als erste Handlung nach dem Aufstellen der Tische und Stühle auf einen Sonnenplatz hinaus.

Gestern wurde einer der beiden Sonnenschirme dort vom Mistral zerlegt, während wir unter den rauschenden Palmen lagen. Das Wasser war seidenweich und türkisfarben, mit sanftem, aber energischem Wellengang.

Eine Vorhut der Mume hatte auf dem betonierten Ufersaum Platz genommen. Mit vom Henna rübengelben Fingerspitzen wurde ein Lammbraten in olivgrüner Sauce goutiert. 

Ein Fingerzeig nach Bulgarien, unserer Abenteuerreise gleich schon im nächsten Jahr.

Das Abschiedswort heißt Au revoir.

25.6.

Eine Leerstelle in der Abfolge von Tagen wie die mit Silber gefüllte Lücke im Gebiss des Oberkellners, bei der man sich bei jedem Hinschauen fragt: Was war geschehen?

Eine durch aggressive Bazillen verursachte Halsentzündung hielt mich über zwei Tage lang hingestreckt. Erst kratzte es, dann tat es weh und ich bekam Fieber. Schließlich fielen mir von Hegel die beiden Vornamen nicht mehr ein. Als Kurort hatte ich mir den Rasen auf einer Verkehrsinsel ausgewählt, wo ich, im Schatten zweier Palmen, dem Meer zumindest nahe sein konnte. Das Wasser war warm, ab und zu tauchte ich für eine Weile dort ein, um meine Atemwege mit Salzwasser zu spülen. Ansonsten lag ich dort und las im letzten Band der Tagebücher von Ernst Jünger, wo er, da war er schon über hundert Jahre alt und beinahe tot, auf Sardinien, den letzten Strandurlaub in seinem Leben genießt. Und er beschreibt, wie seine Frau den Wellen des Tyrrhenischen Meeres entsteigt und auf ihn, den im Sand lagernden, den Tagebuch führenden Greis, zustrebt. Ihre Fußabdrücke in dem Strand sind längst verweht. Seine Sätze nicht. 

Vorgestern fingen sie hier dann mit Aufbauarbeiten an für die aufwendigen Feierlichkeiten zum 20-jährigen Jubiläum der Strandpromenade. Zwanzig Jahre – als ich, da war ich 19 Jahre alt, zum ersten Mal nach Cagnes-sur-Mer gekommen war, wie hatte es da hinsichtlich Promenadensituation ausgeschaut? Mir fehlt die Erinnerung. Ich hatte in einer Pension gegenüber des Hippodroms übernachtet, die hieß La Gelinotte, Schneehuhn. Es gibt sie nicht mehr. 

Wie schon vor ein paar Tagen in Nizza bezeugt, wo in einer schweißtreibenden Mammutaktion unter blauestem Himmel hunderte von pneumatischen Pfosten in den Boulevard des Anglais betoniert werden, um die Strandpromenade für den Nationalfeiertag abzusichern, so wurden dann auch in Cagnes in Rot und Weiß gestreifte Betonquader quer über Radweg und Spazierzone abgeladen. Bald war somit ein vom Verkehr abgeteiltes Stück Asphalt entstanden, das ich von meinem Platz auf der angrenzenden Verkehrsinsel aus gut überblicken konnte. Als ich aus einem Schläfchen erwachte, tanzte dort ein Greis, vielleicht hieß er Maurice, in Cuban heels auf Rollerblades eine Choreografie zu einer Melodie, die nur er hören konnte, weil sie in seinen Kopfhörern entstand. Ein anderer, er war mir dort schon mehrmals aufgefallen, rollte auf seinem von unsichtbarem Aggregat angetriebenen Einrad vorbei. Er ist stets ganz in Weiß gekleidet und an dem elektrischen Einrad, das hier auch die Strandpatrouille benutzt, ist bei ihm noch eine kleine Flasche mit Sauerstoff befestigt, von der ein transparentes Schläuchlein bis hinauf unter seine Nüstern führt. Zu dem auf  Rollerblades tanzenden Altersgenossen schaute er aber nicht hin.   

Nach einem Ausflug zu dem von Pinien umstandenen Antibes, wo es ja im Grunde herrlich wäre, vor allem geruchlich, wenn es die am winzigen Strande sich aalenden Briten nicht gäbe, stand alles bereit für die Feier, die, weil der runde Jahrestag des Jubiläums in die Hochsaison fiel, in jedem der für den hiesigen Tourismus entscheidenden Monate noch einmal wiederholt würde. Beim Aperitiv in der Petit Bar kam an jenem Abend, der mit einem Feuerwerk über blinkenden Minnie-Mouse-Ohren ein vorläufiges Ende fand, der Betreiber der Autoreperaturanstalt Verdun an unseren Tisch und verabschiedete sich mit Handschlag. Uns erzählte er, dass schon seine Eltern sich in Cagnes-sur-Mer kennengelernt hatten. Er selbst war hier geboren worden. Und nun war ihm in den letzten Tagen aufgefallen, dass er uns, wo auch immer er uns begegnet war, gerne gesehen hatte. Er hieß uns damit herzlich willkommen. Und Jean, der Wirt, wies uns darauf hin, dass es im Käseladen um die Ecke heute eine Platte im Sonderangebot gäbe: die ganze Platte für nur 10 Euro. Er schaute uns an: viel ist das nicht.

Heute, am Anfang des letzten Tages wird von den Alpen her ein weißes Tuch in Richtung des Meers vom Himmel gezogen, der sich, comme d’habitude, sonnig und blau zeigt darunter, als hätte er sich bloß zugedeckt.

Morgen ist mein Geburtstag. Ich werde circa eintausend Jahre alt.

20.6.

Am Haus von Auguste Renoir bleiben die Läden an der Westseite den ganzen Tag über geschlossen. Am Abend, wenn es etwas kühler wird, während die Sonne hinter die Berge sinkt, hat das Museum geschlossen. Zu ihm gehört auch der abschüssige Olivenhain, die Bäume sind mehr als 120 Jahre alt. Es muss schön sein, dort auf dem Rasen unter einem der Bäume zu liegen, nachts, wenn von Weitem der Leuchtturm von Antibes seine Lichtstrahlen abschickt, aber das ist nicht gestattet; auch der Garten wird mit dem Einbruch der Dämmerung abgeschlossen. Mit dem Fernrohr kann ich aber sogar den Giebel des Bauernhofes erkennen, in dem Renoir seine Hauswirtschafter untergebracht hatte. Die Waren des täglichen Bedarfs wurden von seinen Angestellten auf seinem Stück Land hergestellt. Eine malerische Idee. Am Abend nach getaner Arbeit schlendert man durch den Olivenhain und schaut, was die Bauern dort so treiben. Wie sie buttern oder Eier in Körbe legen. Karotten aus der Erde ziehen. In Kassel, im Höhenpark, ließ eine der hessischen Fürstinnen sich ein ganzes Bauerndorf anlegen, das zu ihrer Erbauung unter ein chinesisches Motiv gestellt wurde. Weil sich aber keine Chinesen auftreiben ließen, die dort in der Mühle und in den Küchengärten auf malerische Weise ihrer angeblichen Arbeit nachzugehen bereit waren, nahm man damals kurzerhand ein paar Neger, die ja ebenfalls exotisch wirkten. Marie-Antoinette hatte angeblich auch so ein künstliches Bauerndorf, mit Schäfern und allem. Die Frühform des Bio-Supermarktes war damals in.

Ich kann es verstehen, im Renoir’schen Sinne. Wie er neige ich zu höfischem Denken. Vermutlich eine milde Ausprägung meines Strebens nach Harmonie. Kaum bin ich hier angelangt, und alles ist schön und die Sonne scheint, vermisse ich natürlich die Mume. Obwohl ich ich ja mit ihr nicht unterhalten kann, weil ich von ihrem Bulgarisch kein Wort verstehe; und vermutlich auch nur, weil ich sie gern dabei beobachten würde, wie sie mit einem Fernrohr hinüberspäht zum Garten von Auguste Renoir, wo dann gerade, also jetzt, jemand auf malerische Weise etwas Müll verbrennt. Wie ich durch mein Fernrohr erkennen kann. Die Mume selbst besitzt natürlich gar kein eigenes Exemplar. 

Abends träfen wir sie dann in der Petit Bar, wo sie, mit ihrer vom Henna karottengelb gefärbten Fingerspitzen dem Polizeipräfekten a.D. die Nüsschen aus dem Aschenbecher stibitzte, die der dort immer für die von ihm gezähmte Taube, die auf den Namen Céline hört, hintut. Und ab und an, wenn alle hinschauten, spuckte sie dort für alle hör- und sichtbar auf den Boden vor der Petit Bar aus, wie sie es sonst daheim in Frankfurt bloß von ihrem Balkon herunter wagt. 

So wäre das Reisen schön, also noch schöner, als es sonst schon ist: Es wäre himmlisch, wenn ich mit allem, an dem ich um mich herum Gefallen gefunden habe, verreisen könnte. Beziehungsweise wenn die Heimat einfach viel größer sein könnte.

Erste Innovationen im Start-up Grande Nation lassen übrigens aufhorchen: Oreo-Kekse mit Himbeerfüllung! Direkt aus dem Kühlschrank genossen, idealerweise bei offenstehender Kühlschranktüre vor dem Kühlschrank stehend, sind die ziemlich möglicherweise geeignet, den disruptiv umkämpften After-Eight-Markt zu rasieren.

19.6.

Es war die Zeit der Bougainvilleenblüte. Schon als die Maschine sich in die Landeschleife über das weit in die Wellen hinausgebaute Rollfeld von Nizza legte, schauten wir aus dem Kabinenfensterchen die vielen weißen Segel, von Schäumen umkränzt. Die Soldatinnen trugen Sonnenbrillen zur scharf geschnittenen Uniform, eine Hand lässig über dem Holm des umgehängten Sturmgewehres präsentiert, es war Wahltag, und angesichts der an den Bäumen reifenden Orangen, der zig Meter hohe Blütenstände treibenden Americana und den in jedes Armaturenbrett eines Omnibusses eingebauten Alcometer, ohne deren Betätigung pustenderweise sich kein öffentlicher Bus starten ließ, erschien es einfach unvorstellbar und beinahe unmöglich, dass auch die Côte d’Azur bald schon so handeln, aber vor allem auch denken wollen würde wie ein Start-up. 

Gut, seitdem die Eigentümer der Petit Bar derart oft gewechselt hatten, schien nun eine Phase der Konsolidierung eingetreten, indem nämlich die allerdubiosesten Stammgäste selbst dort den Betrieb übernommen hatten. Insbesondere Marcel, der, sobald es einem gelungen war, ihn zum Lächeln zu bringen, eine seltene südfranzösische Variante des sogenannten Grills, eine silbern glänzende Leiste aus Gussstahl, entblößte, die bei ihm sämtliche Zähne des Oberkiefers ersetzt, wie ähnlich, aber dann doch wieder anders auch jener Neuzugang, der, mit glatt rasiertem Schädel und einigen im Elendsknast von Les Baumettes ihm zugefügten Tätowierungen, an den Roger Chapman der mittleren Werkphase erinnerte: Sie schienen beide a priori zunächst dazu geeignet, etwaige Neuzugänge zu der ausgehärteten Gemeinde der Stammgäste abzuschrecken; kaum aber hatten wir dort Platz genommen, um das klandestine Treiben zu studieren, stellten wir bald schon mit Erleichterung fest, dass auch die neue Petit Bar noch ganz die alte geblieben war.

Das Konservierende, das die südfranzösische Lebensqualität vermittels ihrer Waffen des Lichts, des Rosés, der Molkereiprodukte und des Brotes bis tief in die zu integrierenden Teile der Gesellschaft versprüht, lässt sich kaum je irgendwo besser studieren, als aus einem Korbstuhl vor der Petit Bar heraus: ob Muselman, ob kohlrabenschwarzer Fidget-Spinner-Verkäufer, ob als als Veteran in Ehren gehaltener Greis, ob mit dem Vollbart geschmückter Brillenträger: Keiner kommt am Geschäft der Bäckersfrau vorbei, ohne sich von ihr ein Baguette unter den Arm klemmen zu lassen.  

Als wir, zu Hause eingetroffen, dort zum ersten Mal die Läden aufgestoßen hatten, um die Sonne nun auch dorthin einzuladen, saß auf dem Nachbarsfirst eine weiße Taube. Die war mir unbekannt, die hatte ich in all den Jahren hier noch nie zu Gesicht bekommen. Ein wunderschönes Tier, zierlich, mit appetitlich leuchtendem Gefieder. Wie ein leeres Blatt.

16.6.

Lustige Idee von der Bundesbank, einen Schein in Umlauf zu bringen, für dessen Besitz man wie ein Krimineller behandelt wird.

»Der Fünfhunderter ist zum Transportieren von Geld da«, sagt die Kellnerin vom Probierstübchen, »nicht zum Bezahlen.«

Haftbefehl: »Seit es den Euro gibt, habe ich eine neue Lieblingsfarbe: Lila!«

Die Capulets waren draußen. Und am Roseneck blühte der Salbei. Wir trafen uns dort, um Twin Peaks noch eine weitere Chance zu geben. Aßen Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat, und was gibt es in einer Freundschaft denn Förderlicheres, als gemeinsam einen langweiligen Film anzuschauen – kommt man doch endlich mal wieder dazu sich zu unterhalten.

Jan meint zu wissen, dass David Lynch seinen Schauspielern jeweils nur ein Blatt aus dem geheimen Buch ausgehändigt hat, damit sie die jeweilige Szene sozusagen vom Blatt spielen, ohne jemals zu wissen, worauf das im Ganzen hinauslaufen wird. Und genau so sieht es ja aus: irgendwelche Personen machen irgendwo irgendwas. Irgendwann, das fehlte ja noch, fing es dann in der Wirklichkeit, in der wir saßen, zu regnen an. Und ich zeigte auf eine Stelle hinter der Markise, das Offene, wo sich die Kiefern in Zeitlupe schüttelten wie in dem Film von Cyprien Gaillard. Wiederum hatte der Dirigent eine Pause eingeräumt. Ich sah V förmlich vor mir, auf das kleine Gemälde in seinem Wohnzimmerwinkel hinweisend: »That’s a Caravaggio«.

Ob es für Schauspieler denn tatsächlich von Wichtigkeit ist, über den Fortgang der Handlung Bescheid zu wissen, fragte ich später meinen Freund. Betrifft das dann auch den Pianisten, muss der wirklich wissen, wie die gesamte Partitur verläuft, oder spielt er einen daraus entnommenen Teil des Ganzen vom Blatt? Macht das einen Unterschied?

»Schauspieler: Nein, Pianist: Ja«, sagte Jan (comme d’habitude), »ausführliche Begründung mündlich«.

Ich kann sie kaum erwarten. Wird allerdings zwei Wochen lang dauern. Im Café gegenüber läuft eine gefühllose Version von Love the one you’re with, die mich trotzdem zu Tränen rührt. Am 26. Juni wird im Babylon Kino die restaurierte Fassung von Space is the Place präsentiert. Im Hause Chanel bereitet man sich derzeit auf den Abschied von Karl Lagerfeld vor, die Abschiedskollektion heißt angeblich: Der weiße Sun Ra. Auch bei Steidl in Göttingen in der Düsteren Straße sind alle schon recht aufgeregt. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, was ein deutscher Modejournalist ohne Lagerfeld-Zitate noch machen soll – vielleicht folgt ein Massensterben à la Jonestown. Außerdem verpassen werde ich die Vernissage der Zeichnungen Peter Handkes. In Anwesenheit des Künstlers von 19 bis 21 Uhr, in Abwesenheit von mir 24/7. Wer die Texte liebt, der besehe sich besser nicht den defekten Rest, laut Arno Schmidt. Right on, fight on. I am going south.

15.6.

Fernweh – gestern am Abend saß ich noch mit V im Café Pinguin und er erzählte mir highspeed eine Geschichte nach der anderen aus dem Fürstentum Monte Carlo, wo man ja, also ich zumindest glaube, dass es dort unfassbar uninteressant ist. Doch falsch geglaubt. Zumindest wird es anscheinend selbst dort, zumindest wenn man, wie V angeblich, zehn Jahre lang gewohnt hat, beinahe unsagbar interessant. Vor allem wohl im Café Sass, das ich mir, so V, in etwa so vorzustellen habe wie das Café Pinguin – bloß anders. Same same but different, wie es unter Reisenden in den Neunzigerjahren hieß, jener Erzählzeit seiner Geschichten. Doch habe sich dort in Monaco bis gestern noch nichts geändert. Monaco konserviert, auch wenn durch die Erschießung von Hélène Pastor vor ein paar Jahren sich auch einmal kurzfristig eine Veränderung angekündigt hatte. Man könne dort im Café Sass noch immer sein Portemonnaie und die Armbanduhr, die man zum Essen abgenommen hat, auf dem Tisch liegen lassen, während man zur Toilette geht, und wenn man dann zurückkehrt, liegt alles noch genau so da. Das zum Beispiel geht im Café Pinguin natürlich nicht. Noch nicht einmal im Hotel Adlon sei das zu empfehlen.

Kann man das Telefon auch auf dem Tisch im Café Sass liegen lassen, wollte ich wissen.

»Wer klaut denn bitteschön ein Telefon«, sagte V, »es hat doch jeder eins.«

Am Himmel zeigte sich die Abendfarbe, sommerlich und wie ein grauer Film, dahinter war ein dunkles Blau gespannt. Zwei nadelfeine Streifen überkreuzten sich in etwa über jener Stelle, von der ich wusste, dass dort der Flughafen zu finden ist. Ganz kurz wurde es ganz still. Eine Pause im Straßenverkehr. Wie vom Dirigenten eingeräumt.

14. 6.

Auf dem kleinen Platz vor der Schaubäckerei im Bergischen Viertel, wo, wie ich vor ein paar Tagen schrieb, die Leute noch so leben, wie es ihnen gefällt, sitzt ein Paar Wandervögel und hält eine frühe Brotzeit ab. Allerdings ohne Brot: Jeder der beiden hält die Hälfte einer Schlangengurke in der einen Hand, eine halbe Fleischwurst in der anderen. Die untere Hälfte der Pelle aus orangefarbenem Kunststoffschlauch noch unabgeschält, als Griffschale. Und heißhungrig, so als äßen sie nicht, sondern müssten die Nahrungsmittel schleunigst in sich verschwinden lassen, beißen sie unaufhörlich und in einem ungefähr aufeinander abgestimmten Abbeißrhythmus, dabei aber jeder für sich gleichmäßig, abwechselnd in die grüne Stange, dann wieder in die orange-rosafarbene, dann wieder in die grüne, und immer so fort.

Ob es an dem ansprechenden Gegensatz der Farben dieser stangenförmigen Nahrungsmittel liegt, an der Choreographie? Es sieht jedenfalls kultiviert aus. Eine idyllische Szene. Ein Genrebild des 21. Jahrhunderts (des orangefarbenen Kunststoffschlauchs und ihrer Funktionskleidung wegen). Die Schaubäckerei bäckt übrigens ausgezeichnete Brötchen, die, mit Kümmel bestreut, dort als Römerle verkauft werden. Schwaben also. Ich sagte es ja bereits.

Nur wenige Meter von hier, auf der anderen Seite der Straße, wo es rasch sehr laut wird, leben die Leute ganz anders. Nicht unbedingt so, wie es ihnen nicht gefällt, aber es fällt schon sehr schwer, daran zu glauben, dass es. Ich saß dort gestern mit Ingo zum Mittagstisch vor einem Imbiß, der unter anderem ein Gericht auf der Speisekarte stehen hat »10 Knackwürste« und in Klammern dahinter: (kalt). Erinnerte uns beide natürlich an Äthiopien, wo es ein von allen Äthiopiern gerühmtes Restaurant gab, das in einem kreisrunden Zelt aus vorchristlichen Tagen untergebracht war und das so hieß wie die Stadt, in dem es stand: Addis Abeba. Dort gab es zum Honigwein, in dem stets noch halbierte Bienen und Fetzen von deren Waben zu schwimmen hatten, ein Gericht das nannte sich »1 Kilo Meat«. Und das war genau so.

Hinter dem Imbiß, daneben steht eine Kirche, wurden von der Bezirksverwaltung einige in ansprechendem gelb lackierte Schiffscontainer aufgestellt, die ausgerechnet zur Schnellstraße hin mit panoramafensterhaft dimensionierten Sichtlöchern versehen wurden. Da drin dämmern und wohnen nun die Heroinabhängigen, jedenfalls machten sie auf uns diesen Eindruck, wobei Ingo dann wiederum der Meinung war, das Morphinderivate eher geräuschempfindlich machen würde – von daher fragten wir uns, wie halten die es dort so nahe an der Schnellstraße aus? In Basel, wo Ingo lebt, wohnen die Heroinabhängigen angeblich in Wohnungen und zücken in der Straßenbahn ihre Umweltpässe. In den Küchen der Wohnungen von Heroinabhängigen in Basel liegen die Injektionsspritzen samt Nadeln in der Besteckschublade in einem Extrafach.

Mir fiel dann aber später noch auf, dass diese Moabiter Container halt schon wieder in Gelb gestrichen wurden, und nicht etwa in der Todesfarbe Schwarz. Was wiederum meine gestrige Theorie zum bösen Briefzentrum stützt.

13.6.

So dschungelhaft werden die Bahnraine bald schon nicht mehr bewachsen sein. Die Bahn fährt minutenlang durch das Grün zu beiden Seiten. Die Zeit-Leserin liest die Zeit in einem sommerlichen Poncho mit langen Fransen, die Facebook-Leserin öffnet einen längeren Post, der den Bildschirm ihres Senioren-iPhones auf ganzer Länge mit Buchstaben füllt. Die Bleiwüste beginnt mit den Worten »Ich freue mich schon auf heute Abend. Ein Streit ist im Anmarsch« und danach steht zentral ein mir unbekanntes Emoji vor dem ganzen Rest vom Schützenfest.

Auch dass die Bäume so schön rauschen werden wie gestern Nacht, also das Laub an den Ästen und Zweigen der Bäume, beziehungsweise; the wind in the willows, aber bald schon, bald stehen sie wieder nackt und leer. Es ist nichts, wirklich gar nichts mehr übrig in meinem Gedächtnis von Twin Peaks. Auch nicht im Angesichts rauschender Bäume. Was vermutlich vor allem daran liegen wird, dass es in den neuen Folgen kaum noch Waldcontent gibt, auch keinen Sägewerkcontent. Dafür mystische Hubschrauberflüge an nächtlich spiegelnden Hochhäusern vorüber. Leute die rückwärts sprechen, die in Steckdosen leben, und ein Würfel aus Glas. Wie ein englischer Magazinmacher mir einmal die Formel erklärte, mit der man ein erfolgreiches Independent-Magazin macht: »Make it strange. Make it less understandable.« Der hyperstilisierte Hinterwäldlercontent hingegen, den ich in den ursprünglichen Folgen (von denen ja auch lediglich etwa zehn gut waren) so bezaubernd fand, ist ebenfalls weggefallen. Selbst die wunderschönen Innenräume des Great Northern Hotel, in dessen Geheimgängen einst Audrey Horne ihr Unwesen trieb, sollen nun lediglich an ein »abgelebtes Futur« erinnern. Woher hat David Lynch diesen schröcklichen Begriff? Von Botho Strauß (Aus dem Jungen Mann).

Fürwahr mystisch finde ich hingegen den Fall einer von einer Postkarte verschwundenen Briefmarke, von dem mir Friederike berichtet. Es gibt ein Beweisfoto, der Poststempel hängt da nachgewiesenermaßen sozusagen in der Luft, dabei weiß ich genau, dass da eine Marke geklebt hatte, eine kleine, auf der eine Rispe Maiglöckchen abgebildet war, denn schließlich hatte ich diese selbst da draufgeklebt. Und wie auch sonst wäre die Postkarte zugestellt worden. Der Verdacht fällt hierbei zum einen auf die Muhme, doch ist sie ja hauptsächlich in der Wiederverwertung von Pfandflaschen und Kleinstmobiliar aktiv; dass sie gut erhaltene, heißt versehentlich nicht auf dem Motiv bestempelte Briefmarken von fremder Mieter Postkarten schält, kann, aber will ich mir nicht vorstellen. Bleibt, als wahrlich David-Lynch-hafter Kandidat: das Briefzentrum in der Gutleutstraße, das ich ja einst auf meiner Wanderung nach Griesheim und zurück in Augenschein genommen hatte. Als auf der Brachfläche nebenan noch jene im Regionalteil der Zeitung beschworenen Zustände herrschten angeblich, die einer Existenz unseres Sozialstaates zu spotten schienen. Gut, und da hatte ich damals schon den Eindruck eines unguten Brummens, das mir sich subkutan mitzuteilen schien, als ich mich dem fensterlosen und ansonsten komplett schachtelhaft gestalteten Bauwerks gegenüberstehend befand. Um ihre mystisch okkulten Dunkeltaten vor dem allzu Offensichtlichen zu verbergen, besteht der Trick der Post freilich im Einsatz ihrer Markenfarbe Gelb. Selbst das diabolisch fensterlose Briefzentrum in der Gutleutstraße mit seinen heruntergelassenen Läden schaut noch vergleichsweise vertrauenserweckend aus, weil hier und da in freundlichem Gelb verziert. Ganz anders freilich UPS.

12.6.

Am Samstag hatte ich mich früh am Abend mit Jan verabredet, um endlich die auf Sky bereitgestellten Folgen von Twin Peaks anzuschauen. Aber wie das so ist mit etwas, an das man große Erwartungen stellt: Man fürchtet sich insgeheim auch schon vor der Enttäuschung. Und so schaute ich auf dem Weg durch den Grunewald noch auf der Terrasse des Bistro Floh vorbei, wo sich traditionell, aber im Sommer noch intensiver, die diversen Unternehmer im Ruhestand treffen, die sich übrigens gegenseitig mit den Namen ihrer Unternehmen ansprechen, also »Togal Werner« et cetera.

Die Sonne schien auf Kiefernstämme, die es in dieser Gegend überall gibt. Das Trottoir lag schon voller Zapfen, die knackten und knisterten auf dem warmen Belag. Auch das war natürlich schöner als Fernsehen: Gespräch über Kiefern, warum man die so schön findet (die orangefarbenen Stämme im Abendlicht; wie sie sich in den Himmel biegen; dass der Blick an ihnen entlang oben ins Blau fahren kann und dann erst kommt deren Krone; das Palmenhafte; dann die Details: die Zapfen, die Nadeln, die Borke, die Rindenhaut, die sich abziehen lässt und dann, hältst du sie gegen das Licht, entsteht dort ein Camouflagemuster in Orangetönen; nicht zu vergessen die Standorte, also wo man die Kiefer vorzugsweise vorfindet: auf sandigem Grund. In schönen Wäldern. An den Ufern von schönen Seen. An Wäldern, die zu einem Strand hinführen, an ein Meer).

Es gab dann die üblichen Probleme mit dem Decoder, dann, als die gelöst waren, hatten wir Hunger bekommen. Unkonzentriert durften wir uns das Werk nicht einverleiben. Im Auto lauschten wir der Stimme einer Albanerin, Ermonela Jaho, die etwas Regnerisches hatte und etwas vom Kiefernwald hatte sich in mein Hörerlebnis auch noch hineinverirrt, und so entstand auf der kurzen Fahrt also ein Hochgenuss. Wobei wir auch noch an einem erstaunlichen Bauwerk vorbeigefahren waren, es handelt sich um einen Baumarkt, der am äußersten Ende des Ku’damms errichtet wurde, an der Spitze sozusagen, aber das mit den Mitteln der zeitgenössischen Museumsarchitektur. Man fährt dran vorbei und glaubt, dort stünde die Kunsthalle Siegen oder eine dergleichen. Na ja.

Als wir dann nach dem Essen und der Rückfahrt, mittlerweile war es passenderweise dunkel geworden, auf der Terrasse den Serienapparat in Betrieb genommen hatten, war es ja im Grunde schon zu spät für eine objektive Kritik am Œuvre. Wir fragten uns aber schon, wenn auch nur kurz, weshalb eigentlich niemand im Feuilleton darüber geschrieben hatte.

Ich schlief lang und gut und, wie es mir schien, traumlos in einen Sonntag hinein, der warm war und den Wünschen von Hunderttausenden entgegenkommen sollte, die auf ihren Fahrrädern über gesperrte Autobahnen ins Berliner Stadtzentrum eindringen wollten. Ich sah einige Tausend von ihnen aus dem Fenster der S-Bahn. Sie stauten sich in eine Autobahnauffahrt hinein. Die Sonne heizte. Und überall war Polizei.

Am Abend dann wies einiges am Himmel hin auf ein anstehendes Hitzegewitter. Was gibt es schöneres, als dabei am offenen Fenster einzuschlafen. Man liegt dort geschützt und im Dunkeln und lauscht bei schwindenden Sinnen den Tropfen, die unablässig tropfen, wie um zu sagen: Schlaf du nur ein, wir kümmern uns derweil um die Arbeit.

10.6.

Takis Würger hatte bereits Platz genommen. Der Tisch stand, da wir vor dem Themroc saßen, auf dem Bürgersteig der Torstraße. Der Verkehr rauschte und die Aussicht ging auf einen hinter den vier Fahrspuren gelegenen Plattenbau, von dem ich erzählen konnte, dass es dieser brutale Anblick gewesen war, der die Gründer des Themroc auf diesen Namen für ihr ursprünglich illegal eröffnetes Lokal gebracht hatte. In jener Anfangszeit, natürlich im Winter, war ich dort regelmäßig zu Gast gewesen. Damals schrieb ich noch einen Foodblog, Der Spitze Löffel, der sich unglücklicherweise nicht hatte erhalten lassen. Die Way Back Machine findet nichts mehr davon, ich hatte die Texte direkt in WordPress geschrieben und nicht auf Festplatte gesichert. So wurde dann schließlich die Seite mitsamt ihren Einträgen im Internet verweht. Das gibt es also doch auch; das Internet vergisst.

Aus diesen Treibsandzeiten kannte ich Leon Kahane, der Takis Würger gegenüber saß, und der, wie es sich im Laufe des Gespräches herausstellte, ein Nachfahr von Victor Klemperer ist. Ich hatte ihn damals als Möbelpacker kennengelernt, der mir bei einem meiner vielen Umzüge geholfen hatte. Mittlerweile hat er sich als Künstler etabliert, an das Tragen meiner Habseligkeiten erinnert er sich heute nur noch ungern, weil es vor allem Kisten mit Schallplatten und Büchern gefüllt gewesen waren. Mittlerweile halte ich es mit Astrud Gilberto*: »I’m travelling light«.

Leon war auf Empfehlung Maxim Billers hin an den Tisch des Verlegers eingeladen worden. Maxim Biller selbst war leider verhindert, krankheitshalber. Ein Schnupfen. Später stieß dann noch Malakoff Kowalski dazu, der in diesen Tagen ein neues Image launcht: Er trägt nun nicht mehr die Kapellmeistermütze, sondern einen enganliegenden Hut mit schmaler Krempe (schwarz). Kaum da, klingelte schon sein iPhone. Ich spähte aus beiden Augenwinkeln auf dessen Display und entzifferte darauf »Maxim«, sowie ein mir unbekanntes Emoji. Um das Gespräch anzunehmen aber verließ Malakoff Kowalski das Restaurant – mittlerweile hatte es ja zu regnen angefangen – und als er nach einer Weile wieder zu uns sich setzte, richtete er allseitig Maxim Billers herzliche Grüße aus. Der Schnupfen hatte sich anscheinend verschlimmert.

Mittlerweile war unser Tischgespräch bei Arno Schmidt angelangt, es gibt ja doch sehr viele Menschen, die viel über Arno Schmidt wissen, aber noch nie etwas zu lesen angefangen haben von ihm. Die Dokumentation auf Arte neulich hat das Interesse an der Person Arno Schmidts von Neuem angefacht, die Interessensfackel wurde in die nächste Generation getragen, aber ob das der Verbreitung seiner Schriften helfen wird, wenn auch nur der schönen Bildbiografie, scheint mir ungewiss. Dabei ist doch die Literatur selbst auch eine Mediathek. Wenn auch mit heftigen Downloadzeiten.

Takis Würger lobte Das Große Heft und ich empfahl ihm Der Fang von Kenzaburo Oe. Er versprach mir, sich den Titel gut zu merken (inzwischen gab es Gin Tonics), aber wie immer, wenn jemand etwas festhalten wollte, hatte niemand etwas zu Schreiben dabei. Dann verließ uns der Verleger, dann die Lektorin, dann die Literarische Welt. Übermorgen beginnt die Buchmesse in Jerusalem.

Dieser Abend, das bekam ich als Wehmut zu spüren, hätte vor ein paar Jahren noch bis um zwei Uhr oder drei Uhr, oder auch noch länger dauern mögen. Einmal, da hatte ich mit Adriano Sack im Themroc getagt, crashte ich mit meinem extrem schnellen Elektrofahrrad in eine Baugrubenumzäunung, die, unbeleuchtet und dementsprechend fahrlässig, mitten auf der Torstraße aufgebaut worden war. Meiner damaligen Ansicht nach hinterrücks. Von den bad Heinzelmännchens. Während wir nichtsahnend im Themroc gesessen hatten.

Stattdessen dann gab es in der nächtlichen S-Bahn die leider üblichen Szenen von Verzweiflung und Wahn, an die ich mich seit so vielen Jahren schon nicht gewöhnen kann.

Was soll’s: Früher begann der Tag mit einer Schusswunde.

* September 17, 1969, Verve Records

9.6.

Seit meiner Rückkehr nach Berlin leide ich an dem Wetter. Zumindest glaube ich das, weil ich den Weissagungen Claudia Kleinerts vertraue. Es liegt wohl an dem ausgeprägten Tiefdruckgebiet, das einen fiebrigen Namen trägt. (Und tatsächlich hat es vorvorgestern und vorgestern auch heftigst geregnet. Beide Male befand ich mich zufällig an derselben Straßenkreuzung, als die ersten Tropfen fielen. Gerade so, als hätte ich mich dort mit dem Regen verabredet.) Nachts schlafe ich wie ausgegossen und beim Aufwachen fühlt es sich an, als ob ich einen kleinen Ballon im Kopf hätte. Tagsüber wird dieser Ballon manchmal noch aufgepumpt.

Da man es der Natur draußen nun wirklich nicht ansieht, dass sie unter einem ausgeprägten Tiefdruckgebiet liegt, fällt mein Verdacht mittlerweile auf das Wasser aus dem Wasserspender in der Redaktion. Es handelt sich um ein neuartiges Gerät, das aus dem Berliner Leitungswasser, das ich eigentlich gut vertrage, durch Filterung und anschließender Bestrahlung mit ultraviolettem Licht und dabei noch durch Zugabe von Kohlensäure (es wurde eine kleine Flasche von der Firma Linde angeliefert!), eine Art Mineralwasser ohne Mineralien macht. In der Mündung des Spenders, der in einem extrem maskulinen Design mit viel Schwarz und einem Paneel aus gebürstetem Aluminium gehalten ist, leuchtet es in einem geheimnisvoll kühlen Blau hinter dem Strahl. Kann man mit Licht desinfizieren? Und, ob ja oder nein: ist das gesundheitsschädlich?

Das Gerät steht dort seit guten zwei Wochen (könnte sich herausstellen, dass es schlechte waren), und es wird fleißig genutzt. So auch von mir. Und seitdem, zumindest kommt es mir so vor, gibt es allseits die Klagen über Müdigkeit und ein latentes Gefühl des Überfahrenwordenseins. Gestern berichtete ich einer Kollegin von meinem Gespräch mit Adwoa Aboah, sie kam aus dem Gähnen nicht heraus.

5.6

Klagend, durchdringend, spitz, aber trotz alledem unerhört meldet die Waschmaschine das Abgeschlossensein ihres Waschvorgangs (Baumwolle, 40°, 1800 Umdrehungen pro Minute im Schleudergang). So geht das über die Stunden. Offenbar ist kein Mensch dort drüben vorhanden, der sie erhört. Und abschaltet. Um denen den von Menschen den Menschen zugedachten Verrichtungen nachzugehen (ausräumen und aufhängen). Wer denkt sich so etwas aus? Ein Maschinensignal vom Prinzip her wie der angebliche Gesang eines Amselhahns. Unbeirrbar piept die Maschine vor sich hin.

Ein freudloser Tagesbeginn nach schlaflos verbrachter Nacht. Schawül, Roman. Einsamer Höhepunkt war ein lautstark ausgetragener Streit auf sogenannter offener Straße gegen halb drei Uhr. Es ging um die Überbleibsel von Sperrmüll. Zu heiß, um die Fenster zu schließen, das Lärmen auszusperren. Rhabarber Rhabarber, hört hört!

Die Handlung als Intimfeind der Schrift. Das an sich hässliche Wort Plot als eine die Schönheit der Schrift zersetzende Instanz. Wie Peter Handke über die Entstehungsgeschichte des Chinesen des Schmerzes, nach Carlo Emilio Gadda, verriet, hatte er damals noch ab und an eine crime-storyhafte Action in seine Erzählungen eingebaut. Warum, das erschien im selbst wie durch Schleier ergründlich; ob es die Zeit war, auf jeden Fall eine Mode, er sagte aber, dass er im Schreibvorgang dann die Luft angehalten habe, wie für einen Tauchgang, bei solch einer Stelle. Und mit angehaltener Luft schrieb er sich durch die Action hindurch.

Ich kann zwar lange, aber nicht so lange die Luft anhalten, um mich zur anderen Seite des Lebens hindurchzuleben, wenn mir eine Action widerfährt. Freudlos heute alles. Ein Flugzeug zieht waagerecht durch ballenweise Wolken dort auf seiner Bahn. Morgen ist Wäldchestag. Die Feierlichkeiten werden in meiner Abwesenheit abgehalten. Das nimmt mich mit. Ich nehme es hin mit chinesischem Lächeln. Eins ist so gut wie das andere heut.

4.6.

Es war ja freilich auch noch Ramadan, weswegen sich die Menschen zäh und langsam durch den warmen Regen vorwärts schoben. In einer Parallelgesellschaft bereitete man sich derweil auf den Wäldchestag vor, der am Dienstag gefeiert wird. Laut Regionalbeilage entstand der Feiertag aus dem kernigen Brauch, dass die Frankfurter Buben dann in die umliegenden Wälder auszuschwärmen hatten, um sich dort Stecken zu schneiden und ihren Lehrern zu überreichen, damit diese sie damit dann im nächsten Schuljahr züchtigen sollten. Die Gläubigen im Ramadan wussten von dieser Tradition vermutlich nichts. Manche kamen von der himmlischen Erfrischungsgabe herausgelockt aus den Call Shops und ihren Bäckereien, um zumindest auf dem feuchten Pflaster vor den Ladenpforten stehend, angetan in papierweißen Hosenanzügen mit den bis oben hin zugeknöpften Blusen ohne Kragenflügel, etwas von der Luftfeuchtigkeit zu inhalieren. Ein Sikh hatte einen Turban derart gelb, dass es auf mich so wirkte, als habe er sich eine ausgehöhlte Honigmelone aufgesetzt.

Wie es im Präludium zu Manhattan, dem Film von Woody Allen heißt: »He idolized it all out of proportion«. Was mir an Frankfurt so gut gefällt, ist, dass man hier auf ganz wenigen Straßen ganz viel unterschiedliche Menschen zu Gesicht bekommt. Frankfurt ist für mich so, wie Gottfried Benn das einmal in Bitterkeit von dem kühlen Bier geschrieben hat, an einem Sommertag, das man sich leider nicht leisten kann. Ja, es ist so, und das ist vermutlich kitschig, na und, dass ich den Eindruck habe, es fehlt dort nichts von der Vielfältigkeit der menschlichen Existenz. Sämtliche Arten: Frauen, Dicke, Alte, Junkies, Kinder natürlich, Gerechte und Ungerechte. Und der Regen fiel, weil er bekanntlich keine andere Wahl hat, auf alle dort, die hier westen und gingen und strebten, vielleicht ans Aufgeben dachten, mal wieder, zwischendurch, oder an diesem Samstagnachmittag zum allerersten Mal.

Auf dem Balkon, später, als es dunkel war und noch immer tröpfelte, kam rings aus dem Hinterhof das Knipsen der Feuerzeuge auf, gedämpfte Telefongespräche, was man halt so macht am Abend. Geschirr. Der Basilikum duftete, es war wie im Frieden, aber dann rief meine Mutter an, ein Grund zur Freude ja eigentlich, aber sie hatte mir eine schreckliche Nachricht zu überbringen. Unsere Verwandschaft, ohnehin nicht weitläufig, war wieder etwas kleiner geworden. Mein jüngster Cousin hatte sich entschieden früher zu gehen. Schon bei der Beerdigung meiner letzten Großmutter war er verhindert gewesen. Nun hatte er es sich erfüllt.

Mir fiel diese wiederkehrende Szene aus Kindertagen ein, wenn wir dort zu Besuch gewesen waren. Erst hatte man gefremdelt, sich dann gelangweilt, irgendwann, viel zu spät, mit dem gemeinsamen Spielen begonnen. Und wenn dann die Eltern die Köpfe ins Spielzimmer der Gastgeber gesteckt hatten, um die Heimfahrt anzukündigen, hatte man aufgeschaut, ganz verwirrt: »Oh man, jetzt schon!«

Ich lese den Teil der Sonntagszeitung über dem »Leben« steht heute zum ersten Mal traurig gestimmt. Weil alles, wovon darin berichtet wird, an guten Tagen freilich langweilig sein kann, oder save for later. Aber nun erscheint mir jeder Satz dort von Wichtigkeit, nichts davon sollte man verpassen wollen. Leben ist wunderschön. Es ist teuer. Und deshalb auch fürchterlich anstrengend oft. Das Schlimmste am Leben an diesem Morgen aber bleibt dies geheime Wissen: that it goes on.

3.6.

Man kann sich, mit einem bisschen Phantasie, den Hauptbahnhof in Frankfurt als eine künftige Moschee vorstellen: dass dort endlich die Türmchen links und rechts des gewölbten Hauptgebäudes sich eines vom Spargelwachstum abgeschauten Speed in eine unerhörte Höhe zu sprießen erfreuen werden oder sollen, die höher noch wird sein denn jener der Commerzbank (sic!), die momentan dahinter noch die architektonische Rolle eines Platzhirschens erfüllen kann.

Gut, ich saß dort in diesem Bahnhofsviertel, da, und las die Zeitung, in der es, saisonbedingt, vor allem um die Vorbereitungen zum Wäldchestag ging, da sprach mich ein wahrer Wundergreis an.

Und zwar mitten vor dem Plank! Er hatte einen Hut auf, dessen Krempe oder Schirm extrem weit auskragend gestaltet war. Und er stellte sich mir dann auch gleich als ein Stammgast vor, denn er reiste, obwohl schon beinahe Siebzig, noch immer und, wie er betonte, »extra« aus Niederrad an, um hier, also dort vor dem Plank, eine Rhabarbersaftschorle zu trinken.

Man saß dort, anfänglich wie in einem riesengroßen Magen, es grummelte, derweil der Himmel über Frankfurt sich zuzog mit Wolken feistester Abart. Dann, mittlerweile hatte es angefang’ zu regnen, aber wie wir beide dann leiderweis’ feststellen mussten: ohne jeglichen Effekt des Petrichor. Der Greis unter seiner Mütz’ gab sich als ein Angestellter einer Luftfahrtsgesellschaft zu erkennen. Und das war mir ja bereits vorgestern beim Wiedersehen mit Dr. Nickel aufgefallen: Wenn man in einer Lufthafenstadt wie in Frankfurt wohnt, dann sollte man auch tunlichts am Lufthafen arbeiten wollen, denn so ist es nu’ mal unter Leichtmatrosen und Schriftstellern: man habe gehörigst ein abenteuerlich’ Herz.

Es regnete dann bald so, dass die Tauben ins Schleudern gekommen waren. Eine rutschte vom schwarzen Dach eines Smarts ab.

Ich, persönlich, mache mir manchmal Gedanken – nicht eben noch – wohin das alles, mich insbesondere, noch führen wird. Ganz anders, geradezu ausgeruht aber der Greis unter dem Schirm seines schattenspendenden Schirmes gesprochen: Er sagte: »Machen Sie sich bitte keinerlei Sorgen. Allein, was ich selbst verpasst haben werde im Leben—von heute aus gesehen: war alles ein Witz!«

Und danach, es hörte auch auf mit dem Regnen, sprachen wir über die Eigentümerverhältnisse auf der Münchner Straße. Er wusste sie alle. Und nannte die Hausnummern den Familiennamen zugeordnet, also beispielsweise: »Dem Ata gehört doch auch die 12«.

2.6.

Vom Heroin erzählt man sich, dass es konserviere. Nun habe ich von dem Saft der Schlafmohnkapsel stets mich frei gehalten, steer clear sister morphine, aber: wann immer ich nach Frankfurt komm’, fällt mir dieser Satz halt ein. Und so auch gestern! Wir standen dort, in der Goethestraß’, und nippten vom Champagner. Ich dachte beilängs über die wunderbaren Images nach, die Frankfurt, die Stadt so voll mit Türmen, in der Innenstadt uns reich serviert’. Nadja Auermann war da, es waren überhaupt beinahe alle da, und wir standen dort auf der Goethestraß’, um uns zu amüsieren. Ich konnte es, anfänglich, kaum glauben, aber es war tatsächlich auch der Doktor (Eckhart Nickel) erschienen, und er hatte, das fand ich seltsam, aber seltsam gut, seine Lesebrille sich auf den Kopf gedreht und vor seinen Augen trug oder trüg er eine Sonnenbrille. Und dazu passte, dass Uschka Pittroff, einst noch in Hamburger Tagen eine Magnatin, bei selbigem Event überraschenderweise barfüßig erschienen war.

Wir standen dort im Zeichen der Schlange, die aus einem Drahtgeflecht gemacht worden war. Es gab Champagner in einem Free Flow, und Alfons Kaiser sagte, dass es dort, inmitten Frankfurts, noch nie so gut wie heute ausgesehen hatte. Gleich nebendran stand Nadja Auermann zur Verfügung und ich musste – ohne leider – zugeben, dass sie kein bisschen von ihrem Charme verloren hatte, bislang. Daraufhin fuhren wir heim.

Der sogenannten Reihe nach war es so, dass ich auf dem Hinweg nach Frankfurt neben einer Dame gesessen hatte, und sie las im Stern, präzise jene Geschichte, die Dirk van Versendaal über Veronika Heilbrunner verfasst oder abgefasst hatte. Und darüber schlief sie bald ein. Wohingegen ich im Ficko blätterte, einem Magazin »Für die guten Dinge, und gegen die schlechten«, aber das war ja für mich eine Lektüre, die aufbauend gemeint war; erbaulich, und als wir Hanau erreicht hatten, wachte die Lady auf.

Das mit dem Heroin und seiner konservatorischen Fähigkeit oder Gabe, fiel mir dann freilich erst dort in Frankfurt ein. Kurz danach ging am Wasserhäuschen dann das Gerücht um, dass ein noch nicht identifizierter Schütze einem Baggerfahrer dort im Gallus versucht hatte, in dessen Kopf zu schießen. Von wegen Verhinderung dort der Intensivierung der Flächenbebauung. Und die Bedienfrau dort im Wasserhäuschen sagte: »Des ist Mord«.

Umso größer dann gestern die Freude, nach 17 Jahren den Doktor Nickel wiederzusehen. Aka Eckhart. Und er hatte sich auch extra zurechtgemacht: er hatte die Brill’ auf der Stirne und die dunkle tief unten in seinem Gesicht. Aber was er dort, in Klagenfurt, lesen wollte, darüber gab es noch keine klare Auskunft von ihm. Dafür freute er sich aber schon sehr. (Und war, wie Alfons der Starke, der in Wahrheit ja Kaiser heißt, zu berichten wusste: Scharf auf die Damen.)

Unter anderen war Nadja Auermann da.

So ging es dahin. Ich hatte noch den Smalltalk der herrlichen Greise im Kopf, die, dort im ehemals Kölner Eck’ über die Veränderungen in der Gallusschen Kirche mir berichtet hatten. Da war von dem versuchten Kopfschuss in den Baggerpiloten noch nicht einmal zu denken gewes’. Aber der Wortführende, der überdies noch flaumiges Haar hatte, reichte seinem Freunde die Zeitschrift der Diözese über den Tisch und sagte: »Seit wir das schwule Pfarrpaar hier haben, weht in unsrere Gemeinde ein frischer Wind«. Da saßen wir unter den gebogenem Wasserröhren, über uns blühte die Geisblattwinde, das Bier kostete 1 Euro 80 den halben Liter und unsre Sorgen waren weggeflogen. Weit weg.

Sei’s drum. Getrommelt wie gepfiffen. Wenn ich mal sterben muss, dann würd’ ich dies gerne in Frankfurt tun. Weil dort halt das Leben noch so ist wie gedacht. Folglich wäre das die letzte Szene, die ich dann säh’. Und was die Leute bloß immer von der vierten Wand reden wollen: Ich kenne noch eine fünfte, sie schwebt quasi oberhalb der Bühne, sie gehört alleine mir.

1.6.

Die Skyline besteht aus lauter solchen Türmen wie dem Monument am Fischstein, auf einem steht HAUS DER LIEBE.

Bühnenbild von Adriana Varejão, der weltweit anerkannten Spezialistin für das Genre Bäder, Saunen und Verwandtes. Brasilianerin, Südamerika, super hot. Im Gespräch mit Hans-Ulrich Obrist freilich super langweilig, aber wer wäre das nicht? Ihr Gemälde Blue Sauna entdeckte ich in einem Katalog von Sotheby’s (£400.000 - 600.000). Versteigert wird im Auftrag von Mario Testino. Die Erlöse kommen seinem Museum in Lima zugute. In der Werkliste auf Adiana Varejãos Website fehlt dieses Bild. Aber es gibt eine Bleistiftzeichnung des Motivs (gekachelte Wände und ein buchstabenförmiger Schatten), die nicht ohne Reiz ist. Sie ist sechs Jahre nach dem an Testino verkauften Gemälde entstanden, 2009, und hat einen eigenen Titel bekommen, Madame F.

Danach kurzes Telefonat mit Casey Spooner. Ich frage ihn, was in den letzten 17 Jahren passiert war, seitdem wir uns im WMF gesehen hatten. Erzählt er mir, das dauert 42 Minuten. Ich habe eigentlich gar keine Zwischenfragen. Sage so alle zehn Minuten etwas wie »verstehe«, einfach bloß so vor mich hin, als Lebenszeichen, für mich selbst vor allem, da ich mich dann schon beinahe gänzlich als aufgelöst erlebe im Fluß seiner Erzählung; kurz auftauchen, Luft holen, mich umsehen im Raum, der ja doch leer ist in Wirklichkeit, dann wieder hinab ins Gespräch, ihm zu lauschen: Historia universal de la infamia.

Heute früh fiel mir auf, dass ich noch nie ein Bläßhuhn an Land gesehen habe. Obwohl deren Füße so groß sind, bestimmt doppelt so groß wie die von Enten. Noch nicht einmal im seichten Wasser stehend habe ich eines in flagranti erwischt.

APHEX TWIN: Vogel fliegt, Bläßhuhn schwimmt, Mensch fährt mit dem ICE.

31.5.

Ein zu allen drei Seiten bis oben hin gekachelter Raum – alles in Blau, auch der Boden: Gar nicht so schlecht als Bühnenbild für Ghetto und Greise. Das Publikum würde, abwechselnd, mit den Düften von Waldbeeren-Shisha, Chlor, frisch gemähtem Rasen und warmer Sonnenmilch angeweht. Dazu Dichtergespräche im Elysium.

APHEX TWIN: Schon Alexander von Humboldt hat gesagt, dass man sich vor den Weltbildern fürchten soll bei Menschen, die ein Weltbild haben, aber die Welt selbst noch gar nicht gesehen.

WASH&GO: Ich hab mir jetzt das teuerste Handy gekauft, was es gibt auf der Welt.

LÖFFEL: Und, wo is‘?

WASH&GO: Net dabei.

Sieht natürlich gleich wieder supergut aus, in der schönen Schrift gesetzt und mit den Rollen und so fort. Aber es müsste halt schon noch irgendwohin führen. Ich weiß auch schon wohin. Zum Fischstein natürlich. Am Fuße des Mahnmales dort für die alte BRD auf dessen Gipfel in schönen silbernen Lettern steht HAUS DES STRASSENVERKEHRS. Drei Greise saßen dort auf einer Bank beim letzten Mal, biertrinkend, vorgestern Abend, als es schon hieß, man müsse sich beeilen, denn das Hitzegewitter sei gleich soweit. Man kann dort, von der Bank vor dem Fischstein aus, bis zu den blauen Zacken des Taunus schauen. Dort dräute es dunkel. Und die Rückseiten der Holunderbuschblätter zeigten sich silbrig. Daheim blitzte es dann auf der Hausener Seite des Bildes noch stundenlang träge vor sich hin. Dazu die Schwalben, wild entschlossen. Erst sehr viel später, als wir die Drohung schon wieder vergessen hatten, fing es zu regnen an.

Meanwhile in der großen Stadt Berlin hingegen: aber hallo! Das wird es freilich geben, eine richtig schöne, klassische, ganz traditionell in den Text hineingearbeitete Mauerschau. Die glücklichen Greise erhalten Lieferungen. Sie erfahren also, dass es in Berlin zu Überschwemmungen gekommen war währenddessen. Von Feuerwehreinsätzen in den Bezirken Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain-Kreuzberg, derentwegen die Bahnen nur äußerst unregelmäßig verkehren zwischen Hauptbahnhof und Ostbahnhof. Es kommt im Verlauf des Nachmittages noch zur Ausrufung des Ausnahmezustandes.

GHETTO

Und immer so weiter und immer so fort. Als ich nach Hause heimkehrte nach langer Irrfahrt ans Ende der Ghettowelt, atmeten die Fliesen im Badezimmer (nicht blau!) noch die Wärme aus von einer Reihe von sonnigen Tagen. Es roch nach Hitze. Man erinnerte sich daran. Es gibt Bewohner der Innenstädte von Frankfurt, aber auch in Berlin sicherlich, die glauben, dass sich in ihrem Innenhof ein Kuckuck angesiedelt hat. Aber sie missverstehen dann lediglich das Gurren der Tauben. Deren Gurren hört sich, das gebe ich zu, wenn die Windrichtung stimmt und es drumherum still ist, auch irgendwie nach einem Kuckucksruf an — also wie man sich den halt vorstellt, wenn man schon längere Zeit keinen veritablen Kuckuck mehr rufen gehört hat (live oder vom Band). Ich aber sage euch: Ein Kuckuck hört sich in Wahrheit und in der Wirklichkeit noch einmal ganz anders, noch verblüffend viel kuckuckshafter an. Klarer. Eindeutiger. Bezwingender somit auch. I can’t believe it’s not butter!

Oh doch, it is.

Er ruft aber nur in der Abendzeit.

30.5.

Auch weil ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß, die Stadt vor dem Fenster, die Türme wurden kleiner und kleiner, kam es mir bald so vor, als könnte ich das im Freibad Erlebte dort zurücklassen und es bliebe dort alles so, wie mit einer Pausentaste angehalten, bis zu meiner baldigen Wiederkehr. Am Tisch gegenüber saß ein agiler Greis im blauweiß karierten Hemd mit kurzen Ärmeln, die Klimaanlage dieses Großraumwagens war ausgefallen, zunächst wurde es vertuscht, dann wurde stilles Wasser verteilt, dann eine rasche Evakuierung des betroffenen Wagens, unserem, über Lautsprecher angeordnet; wieso, wozu, das wurde nicht verraten, weshalb im Hintergrund bald Streit ausbrach unter denjenigen, die sich weigerten, ihre angestammten Sitzplätze aufzugeben – es war ja auch nicht »viel zu warm« – und den, nun, da sie einen klaren Befehl erhalten hatten, diesen gnadenlos exekutierenden Stewards und auch Stewardessen der Bahn, eine davon fackelte schon mit rotem Absperrband. Hier bei uns allerdings, die wir uns um den agilen Greis herum geschart hielten wie um ein flackerndes Lagerfeuerchen in finsterer Nacht, herrschte noch Frieden, denn auch wenn sich die Jüngeren dafür nicht eigens die weißen Stöpsel aus den Ohren gezogen hatten: Wir lauschten doch alle seinen Geschichten. Theodor Heuss hatte er noch persönlich gekannt.

Draußen zeigte sich indes ein wenig appetitliches Bild einer Landschaft unter verwaschenem Himmel mit diesigem Licht. Von daher dachte ich liebevoll an den gestrigen Nachmittag, als wir dort unter dem herrlichen Blau und konkret dort unter dem Sonnensegel vor dem Kaffeebüdchen einen wunderbar anzuschauenden Mann kennenlernten, also im Grunde lediglich beobachteten, aber dabei lernten wir ihn eben auch kennen, bloß er uns halt wahrscheinlich eher nicht, und dieses einseitige Erlebnis seiner Person war auf unserer Seite, die ja eine gemeinsame ist, derart wirkmächtig und von dieser Wirkung her stark, dass wir uns mehrfach in aller Stille anstupfen mussten gegenseitig, so schön war das Bild, das er uns anzusehen gab. Mit freiem Oberkörper, comme d’habitude, der unter anderem einen imposanten Brustkorb hatte, auf dem Kopf hingegen einen Fischerhut mit einem Muster ganz ähnlich wie Gucci, verzehrte er in rascher Folge eine Bratwurst und dazu zwei fleischsalatschachtelgroße Plastikschachteln gefüllt mit Auberginenpaste; hauptsächlich mit einem Löffel, teilweise benutzte er auch das mit der Bratwurst gelieferte Brötchen zum Auswischen dazu. Das ging zackzack, aber wer die Betreiber des Kaffeebüdchens, es sind Griechen, kennt, der wird dieser Leistung den ihr gebührenden Respekt zollen, denn diese Auberginensalat genannte Paste ist eine ziemlich ölige Angelegenheit. Danach gab es noch Kaffee und einen mit Quark und Rosinen gefüllten Blätterteigstrudel. Sagenhaft. Nach einem kurzen Aufenthalt im Schwimmbecken kehrte dieser Löffelgreis schon wieder zurück, um mit den Freunden Biere zu trinken. Ganz zufällig, weil wir uns da gerade in der Nähe aufgehalten hatten, bekamen wir einen Fetzen der dabei sich entspinnenden Unterhaltung mit. Ein anderer, der einen in ein hübsches Grün verwaschenen Fischerhut mit eingerollter Krempe trug, auf dem das Werbeschild besagte Wash & Go, tat kund: »Ich hab‘ mir jetzt das teuerste Handy gekauft, das es gibt auf der Welt.«

Da brauchte es eigentlich nicht den Anblick jenes monumentalen Mannes, der quer über beide Schulterblätter »Frankfurt« tätowiert hatte. Wobei der Schriftzug nur von Weitem oder flüchtig angeschaut in Frakturbuchstaben sozusagen gesetzt worden war. Wer näher hinsah, so wie wir, erkannte: Die Schriftzeichen waren aus blitzscharf geschliffenem Klingenstahl. Und damit noch nicht genug. Sogar noch lange nicht, denn um den Hals hing ihm, ebenfalls tätowiertes Trompe-l’œil, eine Kette aus bockstarken Gliedern bis auf den Bauch herab, daran schien zu baumeln ein Medaillon von Flavour-Flav-Dimensionen, darauf ward geprägt ein ihm liebes Antlitz (seiner Mutter?).

Schon klar, in dem Fall war es aber halt wirklich so, dass seinem Freunde dort die Füße in zwei Badelatschen steckten, auf deren Zehentunnel in kupferfarbenen Straßsteinchen jeweils das Wort Ghetto appliziert war.

Ghetto und Greise: Wie geht das zusammen? Im Freibad entsteht diese utopische Welt. Auch extrem Dicke, die man auf Reisen im Zug oder per Flugzeug nie zu Gesicht bekommt, weil sie schon lange nicht mehr in die Sitze passen: Im Freibad genießen sie das Wunder der Schwerelosigkeit im gechlorten Blau. Und dürfen dort auf den Schattenbänken wie hingegossen schambefreit snacken wonach ihr Herz begehrt. Weil alle dort das tun: rasten, snacken, schlafen, schwimmen, Blödsinn verzapfen, Schachspielen – und am nächsten Tag wieder von vorn. Auf dem Badelaken sind alle Menschen gleich. Sogar der eine, der wie der frühe Aphex Twin ausschaut und tatsächlich Alexander von Humboldt zitiert. Auf der Herrentoilette beim Händewaschen. Ich war dabei. They came from the stars, I saw them.

Großes Mitgefühl mit Eva und Adam. Wenigstens hatte dann Jens Riewa beim Verlesen der Nachrichten sein schlumpffarbenes Jackett an. Farblich nicht wirklich abgestimmt auf seine blauen Moderationskarten. Und dazu die blau in blau karierte Krawatte. Das komplette Ensembleu naturallement vor blauem Hintergrund. So konnten wir wenigstens noch am Bildschirm im magischen Blau des imaginären Schwimmbeckens schwelgen. Ein gar nicht mal so schwacher Trost. Und von dem Flimmern dort ging es hinüber in einen anderen Traum.

29.5.

Zwei Tage lang hatte die Stadt unter dem Joch von 30° Celsius gelegen. Am Samstag hatte ich, auf meinem Rückweg vom Erzeugermarkt, eine längere Pause einlegen müssen auf dem schattigen Streifen vor dem Café Plank, aber außer mir selbst und der Bedienung, die es im Inneren des aus Sandstein gemauerten Hauses noch etwas angenehmer hatte, war dort auf der Kreuzung von Münchner und Moselstrasse, wo es an allen anderen Samstagen bisher, vor allem im Winter, so belebt wie nur irgendwo hergegangen war, nichts los. Theoretisch war mir das klar, aber nun hatte ich es in der Anschauung vor Augen geführt: Heroinkonsum und Hundstage vertragen sich nicht.

Dann, als ich schlurfenden Schrittes, gerade so, als hätte ich selbst am lahmlegenden Saft der Schlafmohnkapsel genippt, die dritte Etappe meines Heimweges angebrochen hatte, kam ich weiter vorn auf der Moselstrasse in das temporäre Freiluftbüro eines Telefonshops, dessen Besitzer sich einen auf Rollen montierten Chefsessel in den Schatten vor seinem Geschäft hatte fahren lassen, um dort noch vor dem Eingangsbereich zu seinem Laden Anbahnungsgespräche mit potentiellen Kunden zu führen, als dieser gerade sein Ohr einem wie wild schwitzenden Mann sozusagen lieh, der immer wieder von neuem den goldenen Satz auszusprechen sich nicht nehmen ließ: »Ich habe ein halbes Gramm gedrückt«. Und alle dort schauten sie wie gelähmt auf die Fassade des gegenüber gelegenen Eros-Schlösschens, an dessen gutbürgerlich ausgeformten Spitze weit oben sich ein Türmchen befand, das nun mit einem Geröllfanggitter eingewickelt worden war. Der sogenannte Elefantenrüssel, eine aus ineinandergesteckten Eimern gebaute Röhre war installiert und die unsichtbaren Schuttladungen brandeten dort hindurch in einen Container, aus dessen rostiger Klappe dann in Schwaden der Staub quoll. Für die Zuschauenden im Freiluftbüro ward dies zum schönen Sinnbild geworden für die Möglichkeiten einer Aktivität an jenem Maienmorgen.

Wehmütige Erinnerung an all die herrlichen Sommer meiner Kindheit und Jugend, die, in meiner Erinnerung natürlich, sämtliche genau so bullenheiß, wie es dort hieß, und prächtig gewesen waren. Als Sinnbild dieser Sommer sehe ich dann immer einen einzelnen Stuhl vor mir mit einer Sitzschale aus orangefarbenem Kunststoff, die durchlöchert war, sodass im Schatten dieses Stuhles auf dem steil bergan führenden Trottoir längs der Forststrasse im Stuttgarter Westen ovale Sonnenflecken lagen. Der Stuhl stand dort vor einem Geschäft, in dem es Bananen gab, aber auch eine Kühltruhe mit Stieleis und eine auf den Tresen gesetzte Vitrine mit belegten Brötchen, die damals freilich noch ganz anders waren als heute, also ohne Salatblätter, auch ohne Tomatenscheiben, ohne Saucen, sondern lediglich mit den einmalig frischfarbenen Scheiben einer rosa Wurst, die dort Lyoner genannt wird, Fleischwurst in Frankfurt und im Rest von Deutschland Kinderwurst. Oder mit einem Blatt gelben Käses. Saures Gürkle optional.

Von daher brachen wir dann in der Frühe nächsten Tages auf, um über eine Brücke hinter das Messegelände zu gelangen, um nach einer anfallsartigen Episode postmoderner Architektur in das in einem duftenden Holunderhain gebettete Hausen zu gelangen, wo es das schönste Freibad gibt. Dort war der Rasen stellenweise noch kühl und feucht vom Tau und die Planschgeräusche aus dem sprungturmlosen Becken ließen sich verhalten an. Doch gleich am Eingang hatten schon am großen Tisch mit den aufgedruckten Schachfeldern die herrlichsten Greise ihre Plätze eingenommen. Mit freien Oberkörpern, comme d’habitude, die über ihren prächtigen Leibern straff gespannte Haut mit Tiroler Nussöl auf seidenmatten Glanz poliert. Als Anführer konnten wir mühelos einen bestimmen, der zum noch üppig straff gebürsteten Silberhaar auf seinem Kopf eine dazu farblich abgestimmte Brille trug, und um den faltenfreien Nacken eine Muschelkette, die ihm etwas Hawaiianisches verlieh. Ein veritabler Player in jedem nur denkbaren Sinn. Er spielte freilich simultan sowohl gegen den sogenannten Vize, einen herrlichen Koloss mit rotem Schildmützchen, auf dessen Front ein Blitz mit dem charakteristischen Schriftzug für das Elektrolytgetränk Gatorade Werbung machte. Auf dem zweiten Brett spielte er in rascher Folge gegen die ständig wechselnden, da von ihm blitzhaft Schachmatt gesetzten Novizen, die sich den gesamten Tag über anstandslos in einem Gänsemarsch vor dem Tisch der Wundergreise bewarben, um dann ihr Glück im Spiel auf die Probe stellen zu dürfen. Die kurzen Pausen absolvierten diese Alten Meister freilich unter dem Sonnenzelt gleich bei der Frittenluke, wo eine Freiluft-Cafeteria die interessantesten Persönlichkeiten von Liegewiese, Schattenbank und eben Schachtisch zueinander führte. Dort herrschte, bei Kakao und Schöfferhofer aus der Flasche, eine souverän entspannte Atmosphäre unter Gleichen wie ich sie sonstwo vielleicht gerade noch am Club 55 in Saint-Tropez beobachtet hatte.

Die von mir vermissten Brötchen, delikat gerade in ihrer Schlichtheit, sie waren leider Gottes auch dort, im ansonsten aufs angenehmste von konservativen Vibes geprägten Freibad von Frankfurt-Hausen längst abgeschafft. Auch wurde, was mich schon verblüffte, verblüffend wenig bis gar kein Apfelwein konsumiert. Dafür gab es dort so ziemlich alles andere zu sehen und zu belauschen, was mir den Sommer zur liebsten Phase im Jahreskreisel macht. Einige meiner Studien sind aber noch nicht abgeschlossen. Von daher zieht es mich erneut dorthin.

27.5.

Von jeder Pflanze wollen wir wissen können, wie sie heißt. Doch was ist mit den Industriegebäuden? Gefällt mir eines gut, zum Beispiel im Vorübergehen oder -fahren, oder wie vorgestern, als wir am Abend noch im Strandbad Griesheim, am Mainufer dort unter der Eisenbahnbrücke gesessen hatten, durch Beobachtung, Anschauung, ganz einfach, weil es mir unnahbar (in jenem Falle durch den Strom des Flusses zwischen uns) bleibt, ich aber später schon noch wissen will, wie denn die stille Dame, der verstockte Herr, also um wen es sich gehandelt hatte. Und im Falle Griesheim und im Gegensatz zu Damen, Herren oder Pflanzen: was dort im Inneren hergestellt?

Ein Kraftwerk war es sicher nicht. Obwohl dort auf dem Dach des Hauptgebäudes zentral ein feister Schlot, gedrungen, durch die Decke ging. Davor aber ein Bottich, von seinen Ausmaßen her im Klärwerksformat, dafür bloß einer, wohingegen für ein Klärwerk braucht es deren zwei (getreu dem Spruch im Lutherjahr: »Wenn zwei von Euch Bottichen in meinem Namen auf einem Grundstück beieinander stehen, dann bin ich, ist Euer Klärwerk hier«). Es half alles nichts. Zudem die Fassade von Bottich wie Bau in den mutmaßlich Achtzigerjahren mit einer pudrigen Grafik nach Fernand Léger besprüht worden war; perfiderweise in genau den Pastelltönen und sogar exakt solchen Farbverläufen, wie wir sie dann an jenem Frühsommerabend am Himmel hoch über Griesheim bei schwindendem Tageslicht erkennen konnten. Es handelte sich bei dieser Fassadenbemalung also um eine saisonale Camouflage?

Und die hatte sich wer ausgedacht? Die Mume ja wohl nicht. Wobei: Auch den zweiten Tag verbrachte ich nahezu ununterbrechbar auf meinem Beobachtungsplatz, um ja keinen der raren Momente zu verpassen, in denen sich dieser seltene Vogel auf dem benachbarten Balkon zeigen würde. Und dafür, für meine in unermesslich vielen Stunden der Bläßhuhnbeobachtung geschulten Zähigkeit in Sachen Ausdauer und Geduld, wurde ich über den Lauf des gestrigen Tages hinweg auch dementsprechend belohnt. Nämlich reichlich. Und in der Üppigkeit nur mit der legendären Traube aus Kanaan noch zu vergleichen, die immerhin damals, laut Luther, von zwei Juden geschultert werden musste, so groß war die mit süßen Beeren überreich besteckte Staude. Wobei die Menschen halt damals auch noch nicht so groß gewachsen waren wie heute. Als legendenfähiger Maßstab könnte da dies Beweisfoto dienen, das die Axel Springer AG vorgestern vom Besuch des Präsidenten der Vereinigten Staaten A.D., Barack Obama, beim CEO der Aktiengesellschaft, Mathias Döpfner, zeigte: Obama, auch von der Hautfarbe her, aber vor allem halt auch körpergrößenmäßig als Platzhalter für die von Luther beschriebenen Einwanderer an der Grenze Kanaans, Döpfner hingegen: ganz heutiger postlutherianischer Phänotyp, der in der Bibel nicht mehr beschrieben ward. Die mythische Traube selbst war freilich nicht mit abgebildet worden, aber man kann sie sich dazudenken. Oder mitten hinein.

Gut, aber was also geschah mit und um die Mume herum? Ich zitiere aus meinen handschriftlichen Aufzeichnungen: »Am Ende des Tages wurde fuhrenweise Sperrmüll im Hinterhof zerlegt, dass es nur so krachte (wenig überraschenderweise). Die Mume saß abseits auf einem Hocker, der ihr dorthin gebracht worden war. Vom Balkon herab hielt ihre Enkelin im säulenförmigen Kleid aus Batist, vielleicht war es auch ein Gobelin – auf jeden Fall ein in Vergessenheit geratenes und infolgedessen auch ungebräuchlich gewordenes Material –, die Verbindung zwischen der häuslichen Feuerstelle und dem Schauplatz des Geschehens – einer zerlegerischen Leistung! –, indem sie in der unverständlichen Sprache hin und wieder dort hinunter rief. Die Mume selbst, es war auch mit des Fernrohrs Hilfe nichts weiter zu entziffern, reagierte auf diese Rufe nicht.

Uns Übrigen, der Hinterhof ist ziemlich weit, die wir des Bulgarischen nicht mächtig waren, blieb davon lediglich der Ohrenschmaus. Und vom Zerspahnen der Sofagarnituren drang schon bald ein feines Rieseln bis an unsere Ohren hinauf, als deren Füllmaterialien sich auf den Zementbelag des Innenhofes ergießend zu verflüchtigen drohten, wie um zu flüchten vor den Schlächtern dieses Sofamonsters, das sie bis eben noch beherbergt hatte. Die Häscher der Sofagarniturenauspolsterungsfüllmaterialien freilich hinterher.

Sie suchten ihr Heil in der Flucht!

Wie aber waren diese Bulgaren hierher nach Frankfurt gelangt? Was trieb sie an? Auch hier wiederum, beziehungsweise: Erwies sich meine ursprüngliche Faszination für diese Dame, die vorzugsweise in Grün oder halt gleich ganz in Lila auftrat, von sozusagen schlafwandlerischer Treffsicherheit geleitet. Jahrzehntelange Erfahrung in der wenig vermittelbaren Kunst der Recherche haben mich sensibilisiert in meiner Fähigkeit zur Ahnung. Genau so war es nämlich: Die Mume stellte für viele solcher Rätsel den Schlüssel dar.

Und deshalb schweigt sie derart beharrlich und viel.«

Nachts fuhren wie so oft die hinfälligen Lastwägen vor, um die Früchte der zerlegerischen Leistung aufzuladen. Man kennt die Hersteller dieser Fahrzeuge nicht. Kein Autoquartett enthält ihre Karten. Teilweise waren die ausgeschlagenen oder -schossenen Scheinwerferhöhlen mit Kerzenlichtern besteckt. Blakend, natürlich.

25.5.

Die Frau mir gegenüber hatte sich in eine Ausgabe von Zeit Wissen vertieft, auf deren Titel stand »Wie komme ich voran«, was dann freilich, wir saßen uns in einem Abteil im ICE nach Frankfurt am Main gegenüber, der fullspeed, also mit mehr als 200 km/h durch die leere Landschaft flog, insgesamt ein lustiges Bild ergab. Es war kurz vor halb neun am Abend, das Fensterglas ward gefüllt mit zwei Dritteln Schlachtschiffgrau oberhalb und einer zittrigen Lache aus Blattgold über dem Grund.

Stunden später, da war es längst dunkel, stieg ich aus der klimatisierten Büchs‘ auf den Bahnsteig herunter in das leicht schwüle, vielleicht nur mich an tropische Gefilde erinnernde Lüftchen, von dem ich angeweht wurde, das Leuchten der Türme um Mitternacht und die ein ums andere Mal aufs Neue verblüffend großen Mengen Sperrmüll, die hier in den barocken Gässchen und Gassen der Frankfurter Innenstadt ihrer Abholung harrend vor den Haustüren liegen. Der Spätverkauf hat schon geschlossen, vor der Tür stehen dort zahlreich die letzten Kunden im Dunkeln, ich kann nicht einmal mehr ihre Augen erkennen, es sind Silhouetten, sie unterhalten sich leis‘. Und all dies wird gerahmt oder gefasst von dieser Kulisse aus glitzernden Türmen, die nicht einfach bloß schweigsam sind, sondern majestätisch wirken. Das nächtliche Frankfurt: ein majestätisches Bild.

Am nächsten Morgen sitzt die Mume auf dem Balkon, mitsamt ihren Röcken, im Gesicht eine Sonnenbrille, darüber drei Kopftücher in Smaragdgrün, in Saphir, Quartz und artverwandt kostbaren Farben, sie sieht aus wie Sun Ra. Dem Licht der aufgehenden Sonne hält sie ihre flachen Hände entgegen. Sie betet in der unverständlichen Sprache. Die Mume hat sich den Zoroastern unterworfen. Vermute ich.

Bald wird es noch viel wärmer. Die Fahrt führt im Auto an Wiesbaden vorbei (Henkell trocken) nach Eltville, was sich eleganter liest als spricht (weil man es genauso spricht wie man es liest, also halt nicht français): Mariannenaue, die mythische Insel im Rhein, der sie vor 10.000 Jahren auf einem Bett aus Kalkfelsen geformt hat (aus von den Alpen angeschwemmtem Sand sowie Kies).

Der Kies scheint wichtig, aber auch das Mikroklima inmitten des Flusses. Die Weine werden auf nur 24 Hektar angebaut. Es stimmt übrigens nicht, dass der Jahrgang 2017 gefährdet war oder noch immer ist durch die ungewöhnlichen Fröste früher im Jahr. Der Kastellan des am Ufer errichteten Schloß Reinhartshausen kann darüber bloß noch lachen. Da wurden, so rückt er die Situation zurecht, von den Fernsehjournalisten zumeist einige Mikrogerüchte aufgebauscht und zu Katastrophenszenarien montiert. Doch die Weine des angeblich zur Gänze bedrohten Jahrgangs waren zumindest hier im schönen Rheingau in keiner einzigen der frostigen Frühjahrswochen in ernsthafter Gefahr. Die Natur war hier einfach schon viel weiter als beispielsweise in Berlin: Im Innenhof des Schloßgartens blühten die Pfingstrosen. Das Akaziengrün flirrte digital.

Gern ließen wir uns dort unter dem Sonnensegel nieder und tranken eins der uns empfohlenen Winzerbiere, die mit dem ebenfalls auf der mythischen Insel angebauten Klipphopfen gebraut wurden. Dazu passte eine Fleischwurst im Brotmantel, also mit Brotkrustenkrümeln paniert und in Butter ausgebacken. Dazu Kartoffelsalat. Später noch Tempura aus Holunderblüten. Vollkommener Stillstand am Himmel. Die Wolken lagen aufgereiht nebeneinander wie Zeppeline im Regal.

24.5.

Es gibt hier, in Moabit, noch ein Viertel, in dem die Menschen so leben, wie es ihnen gefällt. Zumindest sieht es für mich danach aus. Ein Nebendraußen des innerstädtischen Lebens, in das ich zufällig geriet, weil ich mich noch nicht auskenne (was noch möglichst lange so bleiben möge, denn wenn man sich erst auskennt, sieht man ja nichts mehr bis beinahe nichts. Dann ist es mit den Häusern und Läden und Straßen bald so, wie Peter Sloterdijk es über die Möbel gesagt hat: dass man die kauft, um sie nicht mehr sehen zu müssen.)

Das Viertel, möglicherweise wird es Bergisches Viertel genannt, weil eine breite Straße dort die Elberfelder ist, beginnt so unauffällig wie nur möglich, es wird zu zwei Seiten hin vom Autoverkehr umflossen, nur auf seiner Rückseite, wo kaum jemand geht, fließt die Spree. Dort entlang führt ein schattiger Spazierweg am Ufer entlang, der einst noch vollends als Hansa-Ufer bezeichnet war, seit dem Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin hat man den das schöne Viertel von hinten beschließenden Abschnitt in Bundesratufer umbenannt. Das klingt weniger unschön als es sich liest auf den Straßenschildern, und wie zum Ausgleich krümmt sich der Fluss dort in einer darmhaften Schlinge als wönde er sich – oder wünde?

Ein herrlich in die Jahre und dabei heruntergekommenes Lokal, die Restauration und Buffet Zur Quelle stellt zur Straßenseite hin das Portal dar. Ein Schild wirbt für »Wein Schnaps Frühstück«, der Innenraum ist lang und mit dunklem Holz vertäfelt, es gibt ungefähr fünfzig Sitzplätze und selbst um neun Uhr morgens schon sitzen dort welche am Tresen, über dem noch Lampen in der traditionellen Form kupferner Kannen hängen, und haben kleine Pilsbiere vor sich stehen. Aktuell wird dort, die Anzeige ist neben der Reklame für das Frühstück befestigt, eine Tresenkraft gesucht, und weil ich gerade mit Gewinn meine Lektüre des Frühwerks von Eckhard Henscheid abgeschlossen habe, liebäugle ich mit einer Bewerbung, aber. Begibt man sich gleich nebenan in die Seitenstraße hinein, empfängt einen bald Ruhe, die Verkehrsgeräusche werden durch die Bäume mit üppigen Kronen gedämpft, von denen es hier noch so viele gibt wie einst nach der Zusammenlegung in Prenzlauer Berg, wo sie mittlerweile aber größtenteils gefällt wurden, sogar in der Pappelallee die Pappeln sind weg, um überall dort die Parkplatzgebühren so flächendeckend wie nur möglich, und so wenig wie nur möglich durch die dem flächendeckenden Parken hinderlichen Bäume gestört, einkassieren zu können. Die Strategie nennt sich Intensivierung der Parkraumbewirtschaftung. Das tönt sogar in Baumes Ohren friedlich und rustikal, nach rechtschaffenen Bauersleut‘, nach der alttestamentarisch abgesegneten Dreifelderwirtschaft et cetera, aber Bäume haben keine Ohren. Und kein Mensch hört es, wenn die Säge sich in den Stamm der Pappel frisst.

Die erste Quergasse ist zur Schattenseite auf gesamter Länge von alten Rotdornbäumen bestanden, manche Gebäude hier sind burghaft mit nur wenigen Fenstern, die schmal wie Schießscharten sind, die Fassaden geklinkert und gleich am nächsten wölbt sich aus der Beletage ein italienischer Balkon mit einem Fries gedrungener Säulen. Verhockte Kneipen mit winzigen Gastgärten, im Rücken die Mülltonnen für das gesamte Haus, wechseln sich ab mit Neugründungen, also beispielsweise einer Schaubäckerei, was auf eine Beliebtheit des Viertels unter Zugezogenen hinweist.

Insgesamt besteht dieses Viertel nur aus vier bis fünf solcher Straßen. Aus der Luft betrachtet, auf Maps beispielsweise, ähnelt es mit seiner an den Fluss geschmiegten Form einem Kuchenstück. Übriggeblieben, ein westliches Pendant zur Knorrpromenade in Friedrichshain. Die Stimmung ist durchgehend lieblich, aber das wird wohl auch am guten Wetter liegen. Und dass man dort, war man gerade noch am Rand der Hauptverkehrsstraße unterwegs, den zwitschernden Frieden genießt. Wenn erst die ganzen Kneipen und griechischen Tavernen mit Kindermodeläden und Schaubäckereien ersetzt wurden, oder im Winter, der in wenigen Wochen schon kommen wird, sieht es dort gleich ganz anders aus.

23.5.

Auf dem Wasser treibt eine Schicht Blütenstaub, seit dem Sturm hat er sich auch im Inneren des Hauses verteilt und es ist nicht möglich, ihn in den Staubsauger zu saugen, er lässt sich aber wegwischen (manuell). Offenbar ist Blütenstaub nur seinem Gattungsbegriff nach mit dem Hausstaub verwandt.

Ich kenne eine Stelle im Wald zwischen Försterei und der verlassenen Pferdekoppel, wo noch Maiglöckchen wachsen. Wobei die meisten davon bereits unansehnlich geworden sind. Trotz des vielen Mairegens. Ich musste jeweils die untersten drei, vier Blütenkelche abzwicken, die gelblich und trocken waren. Die Maiglöckchen an ihren kruckenhaft geschwungenen Stengeln klingelnd: Naturvorbild für die Designer der Gaslaternen – wann war das: früher als Jugendstil?

Seit gestern kenne ich eine Stelle am Lehrpfad zur Evolution der Gaslaternen in Deutschland, der von der Straße des 17. Juni bis zur Lehr- und Versuchsanstalt für Strömungswissenschaft durch den Tiergarten führt. Dort lag eine frisch geschlüpfte Amsel. Frisch gestorben war sie auch, ihr Körper noch ganz prall und unter der dünnen Haut, die rosig schien, konnte ich die bunten Eingeweide erkennen, die sahen aus als hätte das Vöglein ein Knäuel Gummibänder verschlungen und sei daran erstickt. Eine physiologische Frühgeburt, wie der Mensch, ohne Federn, blind und der Schnabel ist noch weich und stumpf und breit geformt wie ein Paar gelb angemalte Lippchen. Aus dem Nest gestürzt, wohl eher gestürzt worden. An einem Nachmittag im Mai.

Gleich hinter dem Schleusenkrug, der neben dem markant geformten und auch angemalten (in rosa und violett) Versuchsgebäudes der Anstalt für Strömungswissenschaften, das ob seiner Form allein (»Wozu dies mannshohe Rohr, das einmal durch den Klotz hindurch führt; und warum nur ist es pink?«) in den vorüberziehenden Waggons der S-Bahn verlässlich für Aufsehen sorgt, erstreckt sich unter eben diesen Gleisen ein Fundament aus Beton, das, weil es bis zum Bahnhof Zoologischer Garten reicht, bald als eine Mauer erscheint. Hier lagern, zwischen ein paar dürren Akazien, die aus dem Nest gestürzten Menschen. Sie leben noch. Und das, so ist der Eindruck im Vorübergehen an einem Nachmittag im Mai: gar nicht so schlecht. Auf eine perverse Weise scheint hier das Déjeuner sur l’herbe recht frei nach Manet inszeniert. Vielleicht von Anne Imhof? Jedenfalls wirkt es so: gestylt und gecastet und zumindest genial kuratiert, wie dort vor dem gefährlichen Zaun eine Frau lagert, auf einer punkig karierten Wolldecke, deren Unterseite, die umgeschlagene Ecke führt es ihrem Publikum vor Augen: mit einer aufgedampften Silberfolie gegen die Nachtfeuchte des Rasens isoliert. Ihr Kopfkissen besteht aus einem Plastiksack von Netto, der mit diversen Objekten gefüllt wurde. Sie trägt einige Kleidungsstücke übereinander, obwohl es noch sehr warm ist. Zuoberst ist zu sehen: ein geblümtes Kleid. Sie schmaucht an einer E-Zigarette. Und schaut in die Ferne, in Richtung des Parkplatzes, an uns vorbei.

Der ihr gegenüber Liegende, ein Mann, hatte am Morgen noch ein ziemliches Durcheinander in Gestalt vieler Tüten um sich. Das hat er nun geklärt und alles dort auf seinem Rasenplatz sieht vorzeigbar aus: er lagert, ganz klassisch, auf einem ausgebreiteten Schlafsack. Die vielen ausgespülten Glasgefäße – für einst Sardellen, Marmelade und Honig, Silberzwiebeln, Maiskölbchen, Cornichons, Marmite, Nutella, Frankfurter – hat er, nach Größen sortiert und gestaffelt, um sich herum arrangiert. Ein eher ausgekippt wirkender Sack halb ausgedrückter Tuben und Flaschen von Acrylfarbe und Plaka weisen auf eine entweder soeben unterbrochene, beendete oder bald schon im Entstehen begriffene Karriere als Künstler hin.

Dazu könnte man ihn, zu den jeweiligen Lebensphilosophien könnte man jeden von ihnen, es sind ja keine Amseln, befragen. Aber das tut freilich niemand. Ab und an findet sich in den Arrangements dieser Tableaux vivantes ein Becher oder eine Tasse integriert, in die man Kleingeld, auch Scheine, wobei ich das noch nie mitbekommen habe, fallen lassen kann.

Im Winter und früh am Morgen sieht die Szene dort natürlich ganz anders aus. Und über sehr lange Zeit betrachtet ganz sicher auch. Wie alles halt.

21.5.

Von Andreas bekam ich nur den Kopf zu sehen, weil sie die Ruine bereits mit einem Sichtschutz umstellt hatten. Er stand dort auf einer Leiter und hielt eine Zigarette. Im Inneren gingen die Aufräumarbeiten voran. Es war Brandstiftung. Am vergangenen Mittwoch, etwa gegen 21 Uhr hat sich der- oder diejenige in das Gebüsch hinter dem Easy Rider gezwängt, die Tür dort aufgebrochen, das Innere durchsucht, kein Geld gefunden, bloß Lebensmittel und Bier, die Rückwand des Kiosks mit einem mitgebrachten Brandbeschleuniger bespritzt und angezündet. Als das Dach in Flammen stand, riefen die vom Rockertreff schräg gegenüber die Feuerwehr, aber die brauchte dann über eine Stunde, um den verborgenen Imbiss zu finden – obwohl die Feuerwache ja in Sichtweite ein paar Meter abwärts den Hügel hinunter steht. Diese Feuerwehrleute aber, das wurde Andreas erklärt, sind ausschließlich für Verkehrsunfälle auf der ebenfalls benachbarten Autobahn zuständig. Jedenfalls, als die zuständigen Floriansjünger aus Steglitz dann schließlich eintrafen, war vom Easy Rider nicht mehr viel übrig. Makaber, dass an dem vom Ruß geschwärzten Sonnendächlein über der Bedienluke ausgerechnet die Worte »Seit 1954« in hellblauer Handschrift auf gelb lackiertem Grund verschont geblieben sind.

»Ich krieg’ Depressionen«, sagte Andreas. »Ich habe auch wieder angefangen zu rauchen.«

Die Versicherung kann ihm den Schaden nicht ersetzen. Für einen derart alten Kiosk wird lediglich eine sogenannte Restwertversicherung angeboten. Basierend auf einem Zeitwert ausgehend vom Baujahr 1954, vom Prinzip her also wie bei einem Oldtimer, bloß halt dass es keinen Gebrauchtimbissbudenmarkt gibt. Die Polizei rät zur Anzeige gegen Unbekannt, klärt aber im gleichen Zug über die Chance einer Aufklärung dieses Verbrechens auf.

Warum macht jemand so etwas? Die Polizei ist sich sicher, dass es sich um einen erwachsenen Täter handelt. Im jugendlichen Leichtsinn oder im Suff hätte man allenfalls das neben dem Kiosk aufgestellte Sonnenzelt angezündet. Die Vorgehensweise am Easy Rider weist für die Fachleute auf planvolles Handeln hin. Jahrelange Erfahrung im Brandschatzen, wie es heißt.

Warum beschäftigen sich diese Menschen nicht mit etwas schönerem als mit Brandbeschleunigern und der Existenzgrundlage wildfremder Menschen? Endlich ist es Frühling geworden, der Easy Rider stand inmitten von Bäumen mit zartgrünen Blättern. Die Nacht war lau am Mittwoch, es gab viele Sterne zu sehen. Gar nicht weit von dort, auf dem Parkplatz der Jugendherberge blüht der Flieder nicht bloß in den zwei klassischen Fliederfarben. Dort gibt es auch zwei Büsche, die blühen in Weiß (und wenn man ein Messer benutzt, und die Zweige nicht abreißt, kann man sich getrost einen davon mit nach Hause nehmen, auch zwei, man tut einem Gewächs wie dem Flieder damit sogar einen Gefallen in der Blütezeit).

Auf der anderen Seite, am kleinen Platz zwischen Teutonenstraße und Alemannen, kenne ich einen Kastanienbaum, ich will fast behaupten, dass es der Einzige ist in dieser Gegend, der kirschfarbene Blüten hat. Und zwischen Lohengrinstraße und Walhalla wohnt einer, an seiner Klingel steht »Privatdetektiv«. Wo genau, das gebe ich natürlich nicht preis. Wir sind ja schließlich Kollegen auf eine Art.

Um die Ecke, nicht weit davon: ein Bildhauer. Sein Haus sieht nicht danach aus. Es ist ganz niedrig, aber so steht es auf seinem Schild, einem goldenen mit Patina, wie sich das bei einem Bildhauer gehört. Dass die Antifa ihm mit weißer Farbe ihr Flaggensymbol darunter hingesprüht hat, sollte wohl stutzig machen. Bei Gelegenheit schaue ich es nach.

Zum Trost dachte ich, wobei ich ja viel weniger eines Trostes bedürftig war als der geschädigte Wirt, könnte ich mir Holunderblütenpfannkuchen machen. Auf dem Weg zu der Stelle, wo dies Bahndammgemüse jetzt blüht, kam ich im Wald an dem sowohl tatsächlich auf schattiger Lichtung gelegenen als auch obskuren Gelände der DEVA vorbei – einem Schießplatz. Dort treffen sich unter anderem die Interessensgemeinschaft »Jagd und Hund«, einem Rudiment aus der Zeit, als es die Mauer noch gab und Schießen und Jagen eine von den Alliierten genehmigungspflichtige Ausnahmeerlaubnis war, aber eben auch der Polizeisportverein, sowie die sogenannten interessierten Laien und Hobbyschützen von nah und fern. Auf dem umzäunten Gelände kann man sich so einigermaßen frei bewegen, allein, es wird halt nicht so gern gesehen. Das Schießen selbst findet in den seltsamen Gebäuden statt, deren Bauweise wie insgesamt die Anlage selbst auch an eine Gesamtschule aus grauer Vorzeit erinnert. Und so ergibt sich unweigerlich der Eindruck, dass man hier auf dem menschenleeren Hof einer Waldschule umhergeht, während in deren Klassenzimmern gerade einer Amok läuft mit seinen Kumpels, weil es aus den Fluren und durch die geschlossenen Fenster andauernd in Salven knattert und knallt. Vor dem geöffneten Kofferraum eines Wagens standen dann auch drei Greise, aber keine goldenen, sondern solche mit Wutpotenzial, die eine dort aufgebahrte Langwaffe begutachteten. Das machte einen gefährlichen Eindruck auf mich, wirkte zur gleichen Zeit aber auch erheiternd, weil sie alle drei noch ihre Lärmschutzkopfhörer auf die Stirnen geklappt trugen. Von hinten also wie Micky Mäuse im uniform hellblauen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Aber Micky Mouse ist ja auch böse.

Auf dem Gelände der DEVA werden übrigens untertags Waffen getestet. Wusste ich gar nicht. Da kann man mal sehen, wie wenig man von seinen Nachbarn weiß. Ich ging über den Grat heim, der hinter der Bahnbrücke durch das Dickicht führt, wo es die kleinste Bahnsiedlung gibt in der Gegend. Und kam dort gerade dazu, als ein Paar aus Frauen mit schwarzgefärbten Undercutfrisuren und mit Lederjacken an, ihre Emoschwester besuchten, die dort, vielleicht ironisch, in einem der Schrebergartenhäuschen am Fuße des Regionalexpressdammes wohnte anscheinend. Sie riefen »Guten Tag!«, es klang ironisch für mich. Und brachten einen Kuchen mit in einer Tupperkuchentrommel – auch das Ironie? Und auf dem Gartentisch, der noch von den Eltern war, stand eine Thermoskanne in übertrieben kaffeekannenhafter Form.

Trotzdem verspürte ich da ganz unironisch einen Neid oder Schmerz, dass ich nicht dazu eingeladen war, mit ihnen den Kaffee zu trinken und zwei Stücke Kuchen zu vertilgen. Selbst wenn dann die Gespräche eher irgendwie verlaufen wären als hochinteressant.

Aber gleichwie, dachte ich mit meinen Blüten, das Heimweh spürst Du in den Füßen. Dort bleibt es und so trägst Du es mit Dir herum.

Und: Alles lassen die Leute im Wald liegen, wirklich beinahe alles, der Eindruck wirkt nach, wenn man den Wald nach einiger Zeit wieder verlassen hat und durch lichtere Gefilde spaziert. Alles, außer Geld.

20.5.

Eine Spezialwetterlage hatte Deutschland in den letzten Tagen in zwei Klimazonen geteilt. Erst war es im Westen schöner als im Osten, dann im Osten schöner als im Westen. Gestern war der Unterschied dann besonders krass angeblich: Regen und Stürme im einen Teil, der Himmel über Berlin erschien schon beinahe grau vor lauter Licht bei über 30° Grad.

Spät am Abend ließ ich die Erschöpften zurück und stieg am Nikolassee aus der Bahn. Schon die Fahrt über hatte ich an vergnügliche Dinge gedacht, vor allem doch an diese Schnecke namens Jeremy, die nun als Shellebrity Snail angeredet werden will, beziehungsweise angetwittert, denn sie besitzt einen eigenen Account. Wenn das alle Schnecken so hielten, würde die Welt wohl kaum zu einem besseren Ort, auch Twitter nicht, aber zu einem anderen – so wie man ja Personen, die sich im Gesicht plastisch haben operieren lassen, nicht wirklich attestieren wollte, dass sie nun jünger aussehen. Aber anders, das schon. Ganz eindeutig sogar sehen sie anders aus. Irgendwie.

Na ja und Shellebrity Snail, die Schnecke, die einst noch Jeremy genannt wurde, bevor der Guardian, bevor Le Monde und die Frankfurter Allgemeine Zeitung über sie berichtet haben, das zweihäusige Wesen mit dem falsch herum gedrehten Häuschen aus Kalk auf dem Rücken (es gibt davon nur sehr wenige; Missbildung sollte man es aber nicht nennen!) twittert ja nicht selbst, versteht sich, sondern der Wissenschaftler, der diese einsamste Schnecke unserer Tage erforscht.

Gerade als ich mir überlegte, ob ich das so schreiben könnte, dass Schnecken an sich ja wie gemacht sind für die Bedienung eines Touch Displays, beziehungsweise war es ja umgekehrt, stand ich an der vertrauten Biegung des kleinen Waldweges, der auf das Strandbad zu führte und ich spürte, dass etwas Schlimmes geschehen war. Gespür in einem animalischen Sinne. Wie Tiere, die unruhig werden auf der Weide kurz vor dem Eintritt der Sonnenfinsternis.

Dann, nach den beiden Langnese-Schildern konnte ich es zuerst sehen, dann riechen: Der Easy Rider war abgebrannt.

Das musste sich vor wenigen Tagen zugetragen haben. Ich war ewig schon nicht mehr dort gewesen, weil es in diesem Jahr mit dem guten Wetter so lange gedauert hatte. Die Außenwände standen noch so einigermaßen. Aber alles, was einst noch rot oder gelb lackiert gewesen, war jetzt schwarz. Nicht kohlrabenschwarz, kein bisschen mehr Glanz, holzkohlenschwarz. Paul-McCarthy-schwarz. Vorbeischwarz.

Andreas, der Wirt, nicht da. Hinter dem Kohlenkasten (auf dem schwarzen Dach stand ein Liegestuhl, der Plastikkürbis auf dem Schornstein zwar rußig, aber auch noch orange) ein Paar, die Ruine untersuchend. Wie es bei Peter Handke heißt: »Kalt wie auf einer Brandstätte«. Unaufhörlich strömen die vom Strandbad Heimkehrenden an der Brandstätte vorbei. Einer, die Sonnenbrille schief über der Nase, deutet mit dem Finger auf die Brandstätte und schreit: »So eine Scheiße!«

Wohl wahr. Dann lange nichts.

Traurig, dass ich mir nicht einmal die Telefonnummer von Andreas aufgeschrieben hatte. Irgendwann im letzten Sommer, als wir uns mehrmals in der Woche gesehen hatten. Er hat mir die alten Zeitungen aus der Sammlung seines Vaters geschenkt, wir haben gemeinsam den Raub des Buddhas erlebt, es gab die Sache mit der englischen Querflöte. Im vergangenen April, der um einiges wärmer und trockener gewesen war, hatte ihm eine Familie ein Übernahmeangebot für den Kiosk gemacht. Ablöse 150.000 Euro. Andreas hat abgelehnt. Weil er mit dem Kiosk, mit dem Verkauf von Speisen und Getränken in den wenigen warmen Monaten genug Geld machen konnte, um damit seine immerhin vierköpfige Familie zu erhalten. Am einzig schönen Tag im April dieses Jahres hatten wir kurz gesprochen, da hatte er gerade den Pachtvertrag für einen kleinen Garten unterschrieben. Die Wurstqualität war übrigens 1A. Die Speisekarte, die wir zu Beginn des Sommers 2016 zum ersten Mal in der jahrzehntelangen Geschichte des Hauses Easy Rider in zwei Sprachen abgefasst hatten, war bis auf die unvermeidliche Novität Süßkartoffelfritten erfreulich konservativ. Die Übernehmerfamilie hatte Expansionspläne hinsichtlich Grillhähnchenstation, Döner und freistehendem Pizzaofen neapolitanischer Bauweise. Andreas hatte einmal, im Überschwang seiner gastronomischen Ambitionen, mit einem Lavasteingrill experimentiert. Kostete damals noch über eintausend Euro in der Anschaffung. Gibt es mittlerweile bei Tchibo. Die Steaks wollte aber damals schon kein Mensch.

Die Stammkundschaft des Easy Rider, zu denen ich mich auch nach dem intensiv dort verbrachten Sommer 2016 nicht zählen will, setzt sich freilich zusammen aus greis’ gewordenen Motorradrockern aus der first wave der Hell’s Angels, dem örtlichen Bestatter, der sich aber zur Ruhe gesetzt hatte, dem pensionierten Polizeiwachtmeister, einem irren Schwätzer, der auf einem winzigen Telefon herumtippt und recht viele Telefonnummern auf einem laminierten oder vakuumierten Din-A4-Blatt mit sich führt, einigen Ehefrauen, die zwar eindeutig zuordenbar waren, jedoch mit ebenfalls blass bleibenden Ehemännern auftauchten, von denen ab und an einer auch wegblieb, weil er entweder operiert werden musste, oder verstorben war. Der Easy Rider war zur Hälfte immer auch ein Speisesaal auf dem sich verjüngenden Vorhof zum Pflegeheim. Und dazu reichlich sogenannte Laufkundschaft, die entweder zum Strandbad hinstrebten (noch nüchtern, zumindest so einigermaßen), oder vom Strandbad weg (voll).

Andreas, Held, Koch, Konditor ja eigentlich, Buddhist (angeblich, aber ich habe ihn gleich bei unserem ersten Gespräch widerlegt; er nahms gelassen – also doch!), großer Sänger, ein Fels. Na gut, es reicht jetzt. Er wird es überlebt haben. Von daher soll es keine Grabrede werden. Bis bald.

Zu Hause war es still und bald dunkel. Applaudierende im Nachbargarten. Dann kam der Sturm.

19.5.

Lauschig

Flauschig, sehr vermutlich mit dem Wort verwandt, ist die Nacht,
wenn ich bei geöffneten Fenstern liegen kann.

Die Stille ist weit,
sie schläfert ein,
sie führt mich in die Wälder.

Es klingt schon wie von ganz weit her,
wenn dem Nachbarn beim Reintragen das Tablett runterfällt.
Dann wieder still,
bis auf den sehnsüchtigen Vogel.

Auf der Vilbeler Landstraß’ gibts eine gleichnamige Bar.

Ich würde Tender is the Night mit Lauschig ist die Nacht übersetz’.

18.5.

Gleich hinter dem toten Gleis am Bahnhof Zehlendorf stehen die Flieder dicht an dicht. Und in den Lücken dieser naturbelassenen Hecke, die wuchert und blüht wie es ihr gefällt, zeigen sich die Dächer der Gartensiedlung, die reicht anscheinend bis zum Horizont. Die Dächer niedrig, die Hecken hoch. Kaum Fahnenmasten. In anderen Gartensiedlungen, zum Beispiel in Griesheim, gibt es davon mehr. Ich sah dies alles im Vorüberfahren aus meinem Fenster. Die Frau mir gegenüber las in dem Roman One Day. Ich war dann extra aufgestanden, als sich der Zug in die ewig lange, sanfte Kurve vor der Haltestelle Schlachtensee begab auf seiner Bahn.

Der Abendhimmel: blau und hoch, wie senkrecht aufgespannt im eigenen lauen Wind vor einem Licht, das es nur im Sommer gibt. Ein Wisch am Himmel, hell, wie vergessen. Oder wie absichtlich, dann aber ungeschickt plaziert.

Ganz lange fliederfarbene Querstreifen über dem Wald am anderen Ufer. Das Wasser wellte sich seidig, sah aus wie ein Bildschirmschoner. Im Geiste ging ich den langen Weg zurück durch die warme, lebendig gewordene Stadt mit den Menschen und den Bratdüften aus den offenen Fenstern und Türen bis zu dem ersten Bild meines Tages, als ich im Park vor dem von Raupen mit einem Gespinst überzogenen Baumgerippe stehengeblieben war. Sie hatten ihm zunächst sämtliche Blätter abgefressen, im zweiten Schritt (die haben ja viele Beinchen) dann die Äste und den Stamm in ihre Fäden eingesponnen, alles mit jenem Gewebe überzogen, dessen Material sie durch die Vertilgung der Blätter des Baumes gewonnen hatten, um schließlich, im letzten Schritt, dann sich selbst in Kokons verpackt an diesem von ihnen zu diesem Zweck vorbereiteten Wirtsbaum aufzuhängen. Als ich davor stand, hingen sie schon alle dran wie an einer Art Kettenkarrusell. Es war früh am Morgen und recht warm. Wenn alles gut ging, wie von den Schmetterlingen vorgesehen, würden sie in wenigen Wochen aus den Kokons schlüpfen können. 

An die Gründer, die Raupen, an den Baum würde sich niemand erinnern. Schwundstufen der Schmetterlingsgesellschaft. 

First walk, then fly.

16.5.

Noch schöner als hier ist es zu dieser Zeit nur noch in Baden-Württemberg, vor allem genau dort, im lieblich geschwungenen Strohgäu, wo ich aufgewachsen bin. Es ist jetzt ja die Zeit der Apfelblüte. »Unsere Obstkultur ist seit vielen Jahren durch ihre Ausdehnung berühmt und unsere Obstwälder, welche die Städte und Ortschaften umgeben, unsere Obstalleen, welche die Landschaften durchziehen und sie so malerisch machen, werden von allen Fremden, besonders von den Besuchern aus dem Norden Deutschlands, mit Bewunderung und Freude betrachtet.«, heißt es in einer Festschrift aus dem Jahr 1871*. 

Diese Obstwälder und Alleen, vor allem aber die in mehr oder weniger gradlinigen Reihen die Hügel hinauf und hinunter wachsenden Blütenbäusche, gibt es dort zwar immer noch, aber sie bestimmen das Bild heute nicht mehr in dem Maße, wie damals, als ich dort noch durch die Gegend gefahren wurde und später auch selbst mal am Steuer saß. Das Schnellstraßensystem hat sich enorm entwickelt. Um jeden Ort, und selbst die kleinsten unter ihnen sind mittlerweile schon groß, führt man die Straße in einer Schleife herum, bevor man vor dem Ortsausgang, wo heute eine Ladenscheune von Netto zu stehen hat, in einem Kreisverkehr scheinbar beschleunigt wird, um auf einer landeinwärts führenden Schnellstraße voran sich schleudern zu lassen. Was dann links und rechts an einem vorbeifliegt, enthält diese blühenden Apfelbäume. Sie sind eingegangen als Sprenkel und Saum in die flurbereinigte industrialisierte Landwirtschaft. 

Im Traum, so komme ich überhaupt darauf, ging es noch einmal in einem Bus über Land, an dessen niedriger Decke die mit Apfelblüten beladenen Zweige an den Oberlichtern entlangstreiften, sodass ich von unten her die feinen gelblichen Striche auf den duftenden Blütenblättern erkennen konnte. Scharf wie gestochen. Das Gefühl im Traum war Herrlichkeit. Auch als wir, was es in Wirklichkeit ja gar nicht gibt, unter einem Baum hindurch fuhren wie durch die Puschel einer Waschanlage, bloß halt dass dieser Baum über und über mit den Dolden von Holunderblüten vollhing (und damit segnete er sämtliche Scheiben des Traumgefährts ringsum).

Eine blitzhafte Nachricht aus der Kindheit, darauf gepfropft ein Wunsch nach Herrlichkeit. Wie in dem Text zur Festschrift von 1871 berichtet wird, hatte der pomologische Verein damals eine Ausstellung mit den 3000 wichtigsten Apfelsorten organisiert. In der Ortschronik meines Heimatsortes Heimerdingen erzählt Otto Schwarz: »Einige gebräuchliche Apfelsorten waren: Rote und blaue Luiken, Fleiner, Postmichel, Bittenfelder, Pratzel- und Holzäpfel«. Ich selbst kann mich noch an das Ernten erinnern von Gewürzluiken, Blutstreiflingen, Schafsnasen und Jakob Fischer. Die Bäume blühen ja nicht bloß schön. Sie treiben aus den Blüten auch zentnerweise Früchte. Das Gemälde Mittagsgebet in der Ernte von Theodor Schütz wirkt vorzeitig, aber noch in den frühen Achtziger Jahren, bevor sich der Palisadenschnitt und die Plantage bei den schwäbischen Obstbauern durchgesetzt hatten, wurde dort so geerntet: Die krummen und hohen Bäume wurden mit langen Leitern umstellt. Die zentnerschwer in den Kronen hängenden Früchte wurden in Körbe gepflückt, die Körbe in Säcke gefüllt, die Säcke auf Anhänger entleert. Die Anhänger abends von Traktoren weggeschleppt. Und in jedem neuen Frühling fangen die Apfelbäume wie von sich aus wieder von vorne an mit dem Blühen.

*Zitiert nach: Eine Württemberger Apfelgeschichte von Bernd Neuner-Duttenhofer

15.5.

Am Nachmittag gingen wir in den China Club. Von der Terrasse dort hat man einen schönen Blick bis hinüber zum Potsdamer Platz. Leider fing es, kaum waren die Kaffeetassen serviert, zu tröpfeln an. Der Kellner, angetan in seiner von Anne Maria Jagdfeld entworfenen Barjacke mit chinoisen Knebelverschlüssen, bedauerte: Bei den Schirmen auf der Terrasse handele es sich um Sonnenschirme, bei Regen würden sie nicht aufgespannt. Also verfügten wir uns in die Bibliothek und saßen dort noch kaum, da fing es aber derart krachend zu plattern an – auf dem Platz unten hasteten die Denkmalstouristen mit über die Köpfe gezogenen Pullovern und Shirts zwischen den von den herabstürzenden Wassermassen glänzend gemachten Betonblöcken herum wie Mäuse im Käsekästchenlabyrinth auf der Suche nach dem Ausgang.

Auf der Fahrt durch das Regierungsviertel, meiner ersten seit einigen Monaten, war mir schockhaft aufgefallen, wie viele exakt gleich aussehende Bauten dort seit meinem letzten Spaziergang durch die Straßen hinter dem Hauptbahnhof entstanden waren. Beziehungsweise, dass es da selbst diese Straßen noch gar nicht gegeben haben konnte, von daher auch nicht diesen Spaziergang, diese öden Straßen waren mit diesen Häusern einfach mitgekommen wie Helmut Lang das einst über seine Mode gesagt hatte, bloß halt, leider, dass diese Häuser nicht schön waren. Der Stil nennt sich Schlitz- und Spaltarchitektur. 

Das Gute am China Club ist freilich, dass man dort seine Ruhe hat. Es ist also in etwa so wie zu Hause, bloß teurer. Und dass einen zu Hause auch keiner sieht, während man wohnt. Aber es hält sich, verglichen mit dem Soho House zum Beispiel, noch in Grenzen. Im Soho House wohnt man von den Fremden umtost. Im China Club kann es gut sein, dass man den Tag über nur ein, zwei Seelen begegnet, die einem das wohnende Dasein bezeugend versichern. 

Köstlich sind allerdings die Nüsse. Das hat sich herumgesprochen und ausnahmsweise stimmt alles, was man sich über die Nüsse im China Club erzählt. Von den Snacks im Soho House weiß man ja eher nichts.

Leider hörte es dann zwar zu regnen auf, aber dann kamen, wir hatten es beinahe schon vergessen, die ersten Notifications von der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen rein. Schlechte News, die SPD hatte versagt. Frau Kraft tritt ab. AfD über 5 Prozent: Es ging immer so weiter. Der Tag war gelaufen. Irgendwie lustlos geworden tranken wir noch etwas Weizenbier, das in extrem kleinen Gläsern serviert wurde, sodass es beim Selfiemachen so aussah, als ob wir zu große Hände bekommen hätten. Eine Gruppe maoistischer Kämpfer aus Beton im Hintergrund (Kunst). 

Tja. Schlimm, wenn man, wie Martin Schulz, sich dann noch nicht einmal mehr besaufen kann. Zumindest konnte ich die frische Bettwäsche aufziehen, die den Duft von Dash, Wind und Sonne verströmte. Im TV sagte Hannelore Kraft einen Satz, der auf »sachgrundlose Befristung« endete. Noch nie gehört. In der Wikipedia hieß der zugehörige Artikel »Befristetes Arbeitsverhältnis«, ich fing zu lesen an, aber es war wie in einem Traum, weder gut, noch alb-: ich scrollte und scrollte, es hörte nie wieder auf.

14.5.

Auf dem Küchentisch steht jetzt ein Strauß von kleinen gelben Blüten, die ich heute früh beim Zeitungholen unter dem Felsenbirnenbaum gebrochen habe. Die Rasenflächen sind in Weiß und Gelb getüpfelt, Gänseblümchen, ganze Felder, ringsum ragen Pusteblumen auf. Das in meinem Aug‘ so liebliche Blühen bedeutet in Wirklichkeit die Verbreitungsoffensive der Arten. Das ist mir zum Glück aber erst dann klar, wenn ich daran denke, also lasse ich es gleich wieder und wähle mit Bedacht eine winzige Vase aus Japan, deren eingekerbte Form etwas von einem Fruchtbarkeitskelch hat – aber subtil natürlich, da von japanischem Väsner geformt – und gebe mich meinen Frühlingsempfindungen hin. Die Fenster stehen offen, die Wäsche trocknet, ich lasse mich anwehen von der herrlichen Duftnote von Dash Color plus Sonne plus Wind. Bei den Nachbarn sind die Großeltern zu Besuch, ein Greis wurde in der Früh schon auf einem Stuhl sitzend in den Garten getragen, wo er mit Blick auf die Verkehrsschifffahrtsszene im Halbschatten verharrt. Seine Ohrmuscheln leuchten freundlich. Er schien mir auf Empfang gestellt.

Teller, die auf einen Holztisch ohne Tischtuch abgestellt werden. Das Wetzen des Bestecks an Besteck.

Am Freitag waren mittags auch plötzlich die Computer verschwunden. Dann die Tische. Nie wieder wird eine Wohnung je wieder so schön sein wie vor dem Hineintragen der Möbel. Aber schon halb ausgeräumt wirkte alles viel größer und weiter, und es könnte hier, so schien es mir, so viel mehr noch möglich gewesen sein. Seltsamer Gedanke, dass diese Räume, in denen sich zuvor eine Praxis befunden hatte, davor eine Wohnung mit immer wieder wechselnden Bewohnern bis in die Zeit vor den Zweiten und den Ersten Weltkrieg noch, nun wieder zu einer Wohnung umgebaut würden. Wie wenig Gedanken man sich selbst macht, wie wenig man weiß, worin man da eigentlich wohnt. Wie so ein Einsiedlerkrebs, der von der Muschel ja auch nicht mehr wissen will, auch kapazitätsmäßig bedingt natürlich, als wie hoch, wie breit, wie tief – beziehungsweise: Passt mein des Schattens bedürftiger Hinterleib hier hinein?

Es gab eine große Flasche Helium und zweihundert Ballons aus silberner Folie, die nach den Silver Clouds von Andy Warhol gestaltet waren. Und so verbrachte ich die Zeit bis zum Eintreffen der Gäste mit dem Aufpusten dieser spiegelnden Kissen und ließ sie eins nach dem anderen an die hohe Decke steigen. Es wurde heller und heller im Raum, die Spiegelkissen fingen das schwindende Licht ein, und bei jedem Windhauch machten sie, aneinander reibend, über die Zimmerdecke treibend, ein kraspelndes Geräusch.

Eine befriedigende Tätigkeit übrigens, wie ich herausfand. Man lässt das Gas in den Ballon, man lässt ihn steigen, schaut ihm nach, nimmt den nächsten. Hätte ich tagelang so vor mich hinmachen können. Irgendwann war freilich die Flasche leer. An den letzten band ich eine Karte aus silbernem Karton mit einer Botschaft, trat ein letztes Mal dort auf den Balkon und überließ ihn den Krähen und der Laune des Abendwinds.

12.5.

Es war wohl die gemeinsame Lektüre in L‘ art de la comédie von Eduardo De Filippo, einem Stück für zwei Damen und neun Herren, das Brigitte und Emmanuel Macron zusammengeführt hat. Elf Rollen, das ist freilich frugal für eine Aufführung des Schultheaters. Es müssen sehr viel mehr Kinder mitspielen, und so mussten Chöre hinzuerfunden werden, stumme Rollen erfunden (ich selbst war in jungen Jahren auch einmal als Ameise besetzt). Ich las das auf dem Gehsteig vor der Bäckerei, zum ersten Mal in diesem Jahr im Sonnenschein, zum letzten Mal wohl dann vor dieser Bäckerei, denn die Redaktion zieht um, nach Moabit; ausgerechnet jetzt, wo ich mich so langsam eingelebt hatte.

Moabit freilich auch endlos faszinierend, allein schon des schauerlichen Gefängnisses dort wegen, aber auch vom Namen her der beste Stadtteil. Und es gibt diese Legende, dass der Industrielle Borsig dort versucht haben soll, eine deutsche Seidenproduktion anzusiedeln. Es wurden damals ganze Haine von Maulbeerbäumen angelegt, weil die Seidenspinnerraupe diese Maulbeerblätter braucht, aber gescheitert ist es halt am Wetter – wie so vieles. Doch ich kenne eine Backsteinkirche in Moabit, die wird von vorne und von hinten vom Verkehr umströmt, so als stünde sie auf einer Insel, und in deren kleinem Garten sind noch ein paar Maulbeerbäume übrig aus der Ära Borsig. Und in dem Blumengeschäft ein paar Schritte weiter, es ist eines der besten der Stadt, werden im Frühling junge Maulbeerbäume angeboten – aus Tradition.

Ich telefonierte mit Timo Feldhaus, der mich fragte, ob er sich darauf verlassen könnte, dass ich das Tagebuch unendlich fortschriebe, für immer also, und ich sagte ja, versprach es ihm also, woraufhin er sagte, dass er es dann auch nicht mehr schlimm fände, wenn nicht an jedem einzelnen Tag ein Eintrag erscheint. Jetzt, wo er wüsste, dass es dann trotzdem noch weitergeht. Na klar.

Als ich abends über den Kurfürstendamm ging, unbedingt noch einmal über den Kurfürstendamm, denn das macht man ja nie, und von daher würde ich es so bald auch nicht wieder machen, saßen dort die Menschen in Dreierreihen vor den Cafés, und es war tatsächlich warm. Das konnte keiner so richtig fassen, wie es mir schien, ich selbst ja auch nicht, und wahrscheinlich war auch noch ein Misstrauen da, ob es nicht gleich morgen wieder kalt und fürchterlich wird. An der Ecke zur Uhlandstraße standen wieder die beiden Werbebeauftragten des griechischen Restaurants: Die müssen in Ponchos arbeiten, die aus einer Art Wachstuch, aber wattiert zusätzlich, geschnitten sind und bis auf den Boden herunterreichen. Auf die Vorder- und Rückseite dieser Ponchos, deren Grundfarbe einst Dunkelblau war, sind ausgewählte Tellergerichte aufgedruckt. Aber halt wie gesagt: griechisches Restaurant. Und die Farbe ist teilweise schon abgeblättert. Sieht mega aus. Ich prophezeie mal: übernächste Saison (SS 18) Vetements.

Zum Abendbrot gab es Huhn mit Salat und Vladimir saß vor einem Bild von Gilbert und George aus dem Jahr 1996, auf dem die beiden Künstler selbst abgebildet sind, wie sie, nackt und bloß, aber George hat seine Brille auf, von einem unsichtbaren Fingerzeig aus dem Paradies verjagt werden. Klassische Pose. In der rechten unteren Ecke stand »Blood and Piss«.

Als ich nach Hause ging, war es immer noch warm. Kaum Vögel zu hören. Auf den Straßen war es irgendwie lauter als sonst.

10.5.

Im Oktober erhält Jonathan Franzen nach Houellebecq und Hans Magnus Enzensberger den Frank-Schirrmacher-Preis. Die Laudatio hält Sascha Lobo. Wie Frank Schirrmacher selbst einst festgestellt hat, wird in Deutschland jeden Morgen der Neid begossen, wie in Holland die Tomaten. So auch meiner, denn ich lebe ja hier.

An der Liebesgeschichte von Brigitte und Emmanuel Macron begeistert mich freilich die Anekdote, dass die beiden während der gemeinsamen Lektüre eines Textes, also in der von mir als heilig erachteten Schrift, zueinander gefunden haben. Als Lesende – zunächst der Schrift an sich, und dann auch einander. Ich selbst kann mir wie schon gesagt nicht mehr vorstellen, wie Menschen noch einander auf anderem Wege kennenlernen sollten als von innen nach außen.

Las das und stellte beim Verlassen des Cafés leider fest, dass dies dem Creamcheese benachbarte Restaurant Florian nun geschlossen ward. Das Schild war schon ab und auf den Tischdecken sammelte sich Staub. Dort wurde ich vor nun 20 Jahren von Franz Josef Wagner in die Tradition der Blauen Zipfel eingeführt. Also einer fränkischen – Wagner ist, wie Ulf Poschardt und Juergen Teller ein aus Schlesien vertriebener Franke – Sitte, vor Mitternacht die bekannten Rostbratwürste allerdings zunächst roh belassen in einem sauer angemachten Sud gar gezogen aufzutragen. In Westberlin, insbesondere in dieser Gegend um den einst als Intellektuellenrevier geradezu verschrieenen Savignyplatz, war diese ungewöhnliche Spezialität unter dem Kampfnamen Apo-Zipfel bekannt.

Na gut. Jetzt gibt es die hier halt nicht mehr. Die Nachbarswirtin weiß, dass es an einem Fehlverkauf seitens der Ursprungsbesitzerinnen gelegen haben wird. »Soziale Marktwirtschaft, I know every inch of you«, wie Jochen Diestelmeyer einst so richtig gedichtet hat. Infolgedessen nun: Insolvenz. Vielleicht, nein: ganz sicher bin ich auch deswegen kein Fan der Salonliberalen. Es geht ja schon längst nicht mehr um eine Befreiung vom Ballast der Bürokratie und um ein Mehr an einer noch zu gewinnenden Freiheit für das alles dann richtende Unternehmertum. Ich habe im größten Pressehaus Europas gearbeitet, festangestellt, da stand auf den von der Aktiengesellschaft für die Redaktion spendierten Tassen (es handelte sich um sogenannte mugs) aufgedruckt: »Bei Anruf Kunde« – krasses Statement zur Pressefreiheit. Vermutlich steht da jetzt »Free Deniz« drauf. Ist ja auch egal.

Die Ideologie ist doch längst nichts weiter mehr als »ein kraftloses Rühren im Brei kapitalistischer Verwesung« – um jetzt mal Thomas Mann möglichst ungenau und dazu noch schräg zu zitieren.

Dieser Zauberberg, anfang des sogenannten Milleniums noch besungen, hat sich als der Sitz des Alten vom Berge entpuppt (sorry!!!). Statt Haschischöl gibt es nun die Versprechung vom Frischen Geld (oh jemine). Was Thomas Mann, dem Rostocker, gefallen dürfte, ist aber sein Endsieg der Ironie (awww!).

Frank Schirrmacher, Friede seiner Asche, hat zu Lebzeiten unter anderem behauptet, es lebte sich nirgendwo anders, nirgends so angenehm, nirgends so reich als Schreibender, denn hier, bei den Neidlandwirten in Deutschland. Angeblich hatte er Zahlen vorliegen.

Ich habe bis heute noch nichts davon mitbekommen, was wohl an mir, was an meiner Schreibkraft liegen wird. Aber ich kenne Sascha Lobo. Und ich habe die Bücher Jonathan Franzens gelesen.

Ich liebe, und allein deshalb gibt mir der Wahlsieg Emmanuel Macrons auch Hoffnung – für die Grande Nation, die ich liebe; für Deutschland, Land der Dichter und Denker – ich liebe die von mir als heilig betrachtete Schrift.

Und wer sich in diese Schrift vertiefend verliebt, der kann nur einer von meiner Art sein. Ein hoffentlich guter Mensch.

9.5.

Post von den Jadehase™ Ultras, meiner Fanseite auf Twitter. Ich bin mir gar nicht sicher, ob sich allzu viele Twitterfreunde zusätzlich zu ihrem Grind noch mit der Post verschickte Postkarten schreiben. Wäre ja schön. Insbesondere auch, wenn sie dafür einen wiederum noch einmal ganz anderen Lingo verwenden würden. Geschrieben werden kann ja gar nicht genug, es wird noch immer viel zu wenig geschrieben auf Erden, wie Rainald Goetz das in einem ähnlichen Zusammenhang völlig zu Recht festgestellt hat. Schon vor Jahren (Abb. Emoji »Index Pointing Up: Light Skin Tone«).

In der ausgezeichneten Arte-Dokumentation über das Leben Arno Schmidts gibt es zum Ende hin diese Szene, in der seine Ausschnitte aus Zeitschriften gezeigt werden. Er sammelte Bilder von Frauen in der Mode jener Zeit, was sie anhaben, wie sie geschminkt und frisiert sind, um seine Figuren entsprechend auszustaffieren. Kontakt zur Außenwelt hatte er da längst keinen mehr und vom Fernsehbildschirm abfotografieren ging ja schlecht. Die Kamera zeigt, wie er die kleinen Kärtchen in seine Kästen einsortiert, um sie später wie Tweets in den timelinehaften Spalten seiner großen Buchseiten untereinander und parallel miteinander korrespondierend zu montieren: für den Zuschauer (mich, jetzt) sieht das so aus, als ob da einer in den siebziger Jahren ein Modell des Internets aus Papier angefertigt habe, oder ein Modell seines Gehirns. Auf jeden Fall ist es ein Modell, an dem er schafft; in einem Haus auf dem Feld, Blickrichtung Waldrand. Wie er selbst schrieb: Mond, Nebel & Regen erste Qualität. Es gibt eine kurze Aufnahme einer Nachbarin von damals, die Frau spricht so, als müsste sie währenddessen eine unendliche Nudel einsaugen. Womöglich heißt dieser Gesichtsausdruck süffisant.

Ich bin vor vielen Jahren selbst einmal nach Bargfeld gefahren, um mir das Haus anzuschauen, dass von der Stiftung als Museum erhalten wird. Nachbarn habe ich da keine zu Gesicht bekommen, womöglich wohnt da heute gar kein nicht mit Arno Schmidt beruflich befasster Mensch mehr. Das Haus selbst war ein verblüffend kleines Haus, veblüffend auch, weil ich ja wußte, dass Arno Schmidt ziemlich groß war. Solche Häuser gibt es heute gar nicht mehr, das waren Altbauten aus einer Zeit, die nie wieder in Mode kam.

Größer als ein Display war das Haus freilich schon.

8.5.

Das Wetter drückt sehr auf mein Gemüt. In der rostigen Feuerschale springt eine Blaumeise in der braunen Brühe herum, der Vogel badet, es regnet, also duscht er auch und immerhin ergibt sein blauer Federbusch mit dem Rostbraun eine aparte Farbharmonie. Auch weil es drumherum, trotz Regen, trotz Himmel, so appetitlich grün ist an den Zweigen und am Gebüsch.

Vermutlich war es ein Fehler, der Nachtigall durchs offene Fenster eine Aufnahme eines anderen Exemplars seiner Art vorzuspielen. Zwei Nächte lang war in der Folge gar nichts mehr von ihr zu hören, das waren die Morgende von Mittwoch und Donnerstag, als dichter Nebel quer auf dem See lag (von daher wohl »Bank«), ich konnte das gegenüberliegende Ufer nicht sehen. Am Abend, in einem türkischen Restaurant, das wie eine Grotte eingerichtet war mit Gipszapfen, die aus der Decke nach unten in den Raum hinein wuchsen und gewölbten Wänden – wir saßen dort wie in einem gemauerten Faß – erzählte mir Bernd von einer Gartenparty, auf der für die Gäste ein sogenanntes Erdschwein zubereitet worden war. Man nimmt dazu ein ganzes Schwein und füllt es mit Kartoffeln und Zwiebeln und reichlich Kräutern. Ganz wichtig ist, dass man dem Tier zuerst den Bauchraum mit Kochsalzlösung auswäscht, um Infektionen vorzubeugen, denn wenn es gefüllt und wieder zugenäht wurde, wird es in einer mehrere Meter tiefen Grube ins Erdreich gesenkt. Am Grund dieser Grube hat man zuvor ein Feuer aus Buchenscheiten abbrennen lassen. Danach wird die Glut mit Mauersteinen bedeckt, in ihnen wird die Hitze gespeichert. Darauf senkt man das Schwein. Es wird mit einem großen Blech abgedeckt und dann eingegraben, bis von der Grube nichts mehr zu sehen ist. Alle gehen zu Bett. Am nächsten Tag, wenn die Party beginnt, wird das Schwein exhumiert. Durch das stundenlange Garen unter den Erdschichten erhält sein Fleisch angeblich einen unvergleichlichen Geschmack.

Ich war etwas abgelenkt, weil zur gleichen Zeit am Nebentisch ein Geburtstag gefeiert wurde. Die Tafel dort wurde präsidiert von einem herrlichen Greis, der diesem längst verstorbenen Finanzgenie total ähnlich sah, der Name wollte mir leider nicht mehr einfallen, aber der Mann am Nebentisch trug ebenfalls ein Brillengestell mir gigantisch großen und nebenbei seine Augäpfel gigantisch vergrößert darstellenden, quadratisch gerahmten Gläsern. Und er sagte gar nichts, als die Kellner die Torte samt flackernden Kerzen heranbrachten und Happy Birthday von Stevie Wonder lief dann noch minutenlang.

Als ich nach Hause kam, war es schon Nacht, und es regnetete gerade mal nicht. Ich schaute an den Stämmen der Buchen nach oben, der Himmel schien blau und von weither hörte ich das Schluchzen der Nachtigall. Von meinem Schlafzimmer aus war die Melodie noch klarer zu verstehen. Der Vogel gibt ja Klänge von sich, die scheinen flüssig zu sein und dabei kristallklar, wie aus Wasser geblasen (wenn so etwas ginge). Er war wohl nur ein paar Bäume weiter, den Hang abwärts ans Ufer gezogen. Ich fragte mich, ob es die anderen Vögel, die ja alle schlafen, während dieser eine dann singt, eigentlich stört, wenn einer unter ihnen vom Schlage der Nachtigallen ist. Oder hören die Vögel nur jeweils den für sie bestimmte Gesang und nehmen die Lieder der anderen nicht wahr?

Heute Nacht jedenfalls, wo ich mehrfach aufwachte, weil sich ein Tiefdruckriegel oder -keil ankündigte und ich mich selbst zum Liegen zu schwach fühlte, fand ich heraus, dass es nur eine einzige Nachtstunde gibt, in der es still ist: von halb vier bis halb fünf. Dann schweigt die Nachtigall, es fahren auch nicht einmal mehr Autos, und kurz darauf erst fangen die Amseln zu singen an.

Unbedingt nachschauen, wie die Maurerforelle zubereitet wird.

5.5.

Manchmal wünsche ich, ich wäre von einer anderen Art. Wie Woodstock zum Beispiel. Ich würde in Strichen sprechen und der Einzige, der mich verstünde, wäre stumm.

1.5.

Am Nachmittag wehten Grilldüfte durch die offenen Fenster herein, die Verkehrsschiffe liefen im Viertelstundentakt, dabei stets auf die Minute pünktlich, in den Hafen ein und aus dem Hafen aus, auch konnte man durch die Hecke und hinter den Bäumen schon die Parkbesucher hören, wie sie es sich dort auf den von der öffentlichen Hand gepflegten und zur Verfügung gestellten Grünflächen am Ufer gemütlich machten. Ihnen lachte die Sonne. Das wollten wir auch.

Gesagt, getan. Tatsächlich waren nur Augenblicke verstrichen, da lagen wir bereits auf einem Sarong am Hang, der Rasen war schon etwas angewärmt von der vormittäglichen Sonnenbestrahlung, vielleicht war es auch die restliche Körperwärme von anderen Menschen, die vor uns dort auf diesem herrlichen Fleckchen Erde gesessen hatten – oder gelegen, gelagert: Uns focht’s nicht an.

Die Nachbarn hatten ihrem Rucksack eine orangefarbene Dose entnommen, die Propangas enthielt. Nach einer Weile war daraus eine Shisha gewachsen (wie eine Stadt). Sämtliches Zubehör für die am Ende beinahe mannshohe Apparatur hatte sich in diesem unauffälligen Rucksack verbergen lassen, unglaublich. Wobei: Weshalb denn verbergen? Das Genießen von Wasserpfeifendampf in öffentlichen Grünanlagen war in Deutschland ja nicht verboten – soweit kommt es auch nicht! Bald wurde angepafft und der Schmauch, der angenehm nach Walderdbeerchen mit Sahne duftete, trieb über den Rasen und direkt in meine vor Schläfrigkeit geblähten Nüstern hinein, die übrigens, darauf wurde ich schon des Öfteren von den im nahegelegenen Borussiapark herumstreunenden Kindern hingewiesen: den Nasenlöchern Otto von Bismarcks ähnlich sind. In diesem Borussiapark, der bekanntlich nichts mit dem Dortmunder Ballspielverein zu tun hat, sondern dem Wahrzeichen Preussens, der Borussia, gewidmet ist, die als einen Lorbeerkranz aufhabende nackte Frauenfigur dort präsentiert wird, wie eben auch eine Büste des Reichskanzlers aus weißem Stein und vor dieser stehend, schauen selbst erwachsene Betrachter und Parkbesucher, also beileibe nicht bloß Kinder unweigerlich in die auf ungewöhnliche Weise detailverliebt gearbeiteten Nasenlöcher dieser Bismarckstatue hinein. Von daher, beziehungsweise that’s why.

Ich schlummerte, und im Halbschlaf war mir bald schon die Buchstabenfee erschienen, nackt, und sie zeigte mir, von Girlanden des Satzbaus umweht, die Schönheiten deutscher Sprache. Danach glitt ich noch tiefer in den Schlaf und träumte dort an einem Geschehen fort, das ich neulich als ein längeres Gedankenspiel begonnen hatte. Nämlich als ich in der Zeitung las, dass in der Stadt Wittenberge nun von der Evangelischen Kirche ein Segnungsroboter aufgestellt worden war. In dieser Zeitung hatte man dem Artikel freilich kein Bild beigestellt und so konnte sich meine Fantasie, wie solch ein Segnungsroboter aussschauen könnte, ganz ungehemmt entfalten. Ich sah ihn natürlich ohne ein Gesicht, ganz ohne Augen vor mir. In dem Artikel stand, dass die Figur zum Segen ihre Arme mit roboterhaften Bewegungen hebe, und dass dann zum Segensspruch, der in einer von wahlweise fünf Sprachen, sogar Hessisch darunter, ertönt aus dem Inneren des Gerätes, dessen Hände aufglühen. Also wie bei E.T. So stellte ich es mir vor. Und kam dann von der glühenden Fingerspitze des Außerirdischen und Martin Luthers elektrischem Verkündungsknecht, gebenedeit sei die Steckdose, umflort vom Aroma des Waldbeerenschmauchs am Fuße des Borrusiaparks auf diese Vision zurück, die ich neulich als Wachtraum empfangen hatte, dass nämlich als Vorbereitung auf Industrie 4.0 und auch als Serviceoffensive in der einstmaligen Servicewüste Deutschland in sämtlichen Berufen, in denen im Dialog mit dem Kunden nicht unbedingt Freundlichkeit und Smalltalk vonnöten sind, als Arbeitskleidung eine stilistisch und auch ganz konkret an die Burka zumindest stark angelehnte Tracht obligatorisch wird. Ich dachte und denke hier speziell an beispielsweise Verkaufspersonal in Bäckereien, an Kundenberater in den Finanzbehörden, Verkäufer am Tankstellentresen, Tresenpersonal in Bars und Kneipen, in denen man sich sowieso nur besaufen will und in denen es so laut ist, dass man sowieso nur schreiend bestellt. Aber auch bei den Großen der Systemgastronomie: McDonalds, Maredo, Vapiano, Paulaner könnten die in der Burkatracht durch ein Sprechgitter kommunizierenden Servicekräfte den Grundgedanken solcher Unternehmen vollenden. Sie treten dort als Zwischenwesen auf, bis sie dann bald durch ähnlich geformte und gestaltete, aber noch etwas entschieden roboterhafter umhergleitende Roboter ersetzt werden. Halb Cosplay, halb gemeinschaftliche Einübung einer Servicegesellschaft hinsichtlich eines Künftigen, dessen Ankunft dadurch verkündet wurde. Durch sie.

30.4.

Der Nachtigallenhahn ist zurück. Heute früh, als wir heimkamen, war es lang nach Mitternacht, drang aus dem Inneren des dunklen Baumes sein langes Lied, das ich vergessen hatte. Und ich erkannte es sofort wieder.

Vor dem kleinen Hotel gegenüber standen die Mannschaftswagen der Polizei aufgereiht und an einem Rettungswagen, der auf dem menschenleeren Vorplatz parkte, waren die Blaulichter angestellt. Ein mystisches Bild. Die Polizisten waren schon morgens eingetroffen, sie sind zum Schutz des Hotels während der Maikrawalle abgestellt. Die finden zwar traditionell in Kreuzberg zwischen Mariannenplatz und Kottbusser Damm statt, aber man weiß ja nie. In letzter Zeit waren auch hier draußen an den Wochenenden Flugblätter verteilt worden, auf denen zum Boykott des kleinen Hotels aufgerufen wurde. Grund freilich: Alexander Gauland. Beziehungsweise, dass er alle paar Wochen seine AfD-Ortsgruppe zum Treffen in dieses Hotel einlädt. Seine Gründe wiederum sind leicht nachvollziehbar: das Hotel liegt extrem verkehrsgünstig. Es gibt Parkplätze vor der Tür (die mittlerweile allerdings von den Mannschaftswagen in Beschlag genommen werden). Die Mahlzeiten sind bodenständig. Es gibt beispielsweise ein annehmbares Truckersteak XXL. Die Matjes (Hausfrauenart) sind delikat. Das liegt unter anderem daran, weil der Wirt, ein Balte, eine Connection zu Ostseefischern hat. Generell sind deshalb die Fischgerichte dort den Fleischgerichten vorzuziehen. Das gilt auch für die Desserts. Aber eigentlich laufen die Geschäfte nicht gut genug, trotz der Nähe zum Strandbad, dem Biergarten und den Ablegestellen der Ausflugsschiffe und der Fußläufigkeit zum Haus von Max Beckmann und dem benachbarten Haus der Wannseekonferenz. Das Hotel steht schließlich direkt an den Gleisen der S-Bahn und ist sogar im Gebäude des Bahnhofes untergebracht, weshalb der Wirt auch keine Saalbuchungsanfragen ablehnen kann. Schon gar keine regelmäßigen. So sind nun mal die Sachzwänge, so sieht es faktisch aus mit sozialer Marktwirtschaft. Das hatte bereits im vergangenen Sommer zu einer Protestaktion der Antifa geführt, die dem Hotelbesitzer ihre schwarze Flagge auf die Blumenkübel und auch an die Fassade gesprüht hatten. Seitdem finden die Zusammenkünfte unter dichtem Polizeischutz statt. Die Beamten gehen in riot gear eingepackt vor dem Hotel auf und ab, oder halten sich im Inneren ihrer Mannschaftswagen bereit. Es passiert natürlich nichts. Aber man weiß ja nie. Die Versammlungsfreiheit wird als Grundrecht garantiert und ich frage mich, was wäre, wenn der Staat auch sämtliche Veranstaltungen der FDP mit Polizeischutz absichern müsste. Oder die der SPD.

Ich fragte mich aber auch, womit das Nachtigallenhuhn beschäftigt ist, bevor es sich vom Gesang des Nachtigallenhahns anlocken lässt. Welchen Geschäften sie sozusagen eigentlich nachgeht. Im vergangenen Jahr sang er bis weit in den Juni hinein, hatte also wahrscheinlich keine Partnerin überzeugen können, denn sobald ihn eine Nachtigall erhört hat, stellt er das schöne Singen ein. Auch wenn es für ihn selbst und den Fortbestand seiner Art unschön wäre, wünsche ich mir, dass der kleine Sänger auch in diesem Jahr wieder zu kurz kommt – und einsam bleibt. Dann treibt ihn vielleicht ja der Leidensdruck dazu, noch bis zu seinem Abflug nach Afrika im Herbst durchzuflöten. Immerhin sang er heute kurz vor Mittags schon eine Stunde lang tagsüber. Es scheint ihm also wirklich dringend zu sein.

28.4.

Gerade kurz bevor am Himmel sich die Wolken rosa einzufärben begonnen hatten, es war kurz nach halb sieben, hatten wir in der Galerie Sprüth Magers einen abgedunkelten Raum betreten, in dem Leuchtobjekte von Otto Piene versammelt waren. Ich hatte ihn, den greisen Künstler, ja noch selbst erlebt, vor ein paar Jahren, als in der Nationalgalerie eine Retrospektive gezeigt wurde. Herr Piene trat an diesem Abend nicht zu spät ans Mikrofon und bedankte sich bei allen, also nicht nur bei denen, die anwesend waren. Am übernächsten Morgen las ich in der Zeitung, dass er auf der Heimfahrt von der Nationalgalerie auf der Rückbank eines Taxis gestorben war.

Ich fühle mich versucht, »dann« zu schreiben (»dann greift das Leben auf die tiefe Saite um« oder ähnliches), aber das wäre ein Trick, oder das Gegenteil davon, eine Nachlässigkeit, denn öfter als dies eine Mal habe ich es selbst noch nicht erlebt. Also gibt es für mich kein »dann« vor dem Satz mit dem glücklichen Tod, genauso wie es den glücklichen Tod nicht gibt, auch diese Formulierung ist ein Trick: Es will doch niemand sterben, jeder will nur einmal noch die sich rosa einfärbenden Wolken sehen dürfen. Und dann halt leider noch ein Mal.

Erstaunlich, denn in diesem Raum kommt man an die Objekte nah heran (in der Nationalgalerie hingen sie weit oben, und sie leuchteten auch nicht von selbst, sondern es wurde auf sie projiziert), wie die Geräte, die hängende Kugel, die aufgestellte Kugel, die Säule, der Wandschirm und die Sonderform gemacht wurden. Ausgehend von der hängenden Kugel, die er 1971 gemacht hat, und die noch aus zwei Aluminiumhalbschalen besteht, in die das Lochmuster gefräst worden war, geraten die Objekte mehr und mehr modellhaft. Der Künstler verwendet bald nur noch Pappe, um seine Idee darzustellen. An der Säule, sie stammt wie der Wandschirm aus dem 21. Jahrhundert, war zu sehen, dass er die Löcher längst nicht mehr regelmäßig haben wollte, sondern in das Material mit der Ahle einstach und perforierte, um der Lichtquelle aus dem Inneren heraus interessantere Wege zu erschließen. Gekrümmte, jedenfalls nicht gerade beschaffene; die mit den ausgefranstesten Rändern, die zum Teil noch von Pappresten bedeckten, gaben den interessantesten Widerschein an der Wand (nämlich muschelförmig: Muscheln, die aufblühen konnten, sein und vergehen.)

Claudius Seidl – wir sind zusammen älter geworden, so lange kennen wir uns jetzt schon – hatte sich in einem anderen Raum vor einer blauen Leuchte aufgestellt. Man durfte nicht zu lange hinsehen, sonst machte das blaue Licht einen schwindelig und zumindest ich hatte plötzlich zwischendurch auch einmal kurz Angst, es könnte mir heute noch ergehen wie dem Maler so beinahe am Schluss bei Proust, der sich die angeblich so schön gemalte Fassade in einem Bild von Jan Vermeer nur einmal noch genauer ansehen will, und dann denkt er, es läge an den Fritten, die er kurz zuvor zu Mittag hatte. Aber es ist halt nicht sein Magen, der rumort, es wird das Herz gewesen sein. Dann setzt er sich und dann ist er auch schon tot, beziehungsweise er verschwindet aus der Geschichte und kommt fortan, bis die Geschichte zuende erzählt wurde, dort nur noch in den Erzählungen der ausgedachten Personen vor. Aber was heißt nur noch? Wie wir alle. Hoffentlich.

Claudius jedenfalls hatte viel zu erzählen zu Jonathan Demme. Auch einiges, das nun, da Herr Demme tot war, kostbar geworden schien. Aber den Nachruf würde er nicht schreiben können, da er eine anderweitige Verpflichtung eingegangen war. Und so leben wir im Hinblick auf eine Spitze hin, und es bleibt uns halt doch nur ein einziger Wurf. Wenn wir Pech haben, schaut ausgerechnet dann gerade keiner hin, oder zumindest nicht die entscheidenden, oder die mussten aufs Klo, irgendwas ist nämlich eigentlich immer et cetera et cetera.

Dann gingen wir essen. Die Wolken färbten sich rosa, wie gesagt, und es wurde ein sehr schöner Abend. Also noch schöner als der gestern. Aber nicht so schön wie der heute. Und der morgen erst. Hoffentlich.

25.4.

Gemeinsam verbrachte Zeit: wie eine ganz kleine, sehr feine* Chipstüte, in die beide mit mühsam gezügeltem Appetit hineingreifen, um die delikat gewürzten Kartoffelflocken gemeinsam und doch jeder für sich genießen zu können, die Tüte auszukosten bis zur Neige, wenn beider Fingerspitzen dort am silbernen Grund — Tage wie delikat gewürzte Kartoffelflocken, Roman.

Am Abend quollen dort, wo einst Kladow war, die Wolken aus dem Horizont. Dicht beieinander, sie bilden ein Massiv. Darüber alles wolkenfrei, so sieht es wie ein Gebirge aus. Von links und rechts ragen die Zweige von Forsythien ins Bild, in langen Bögen, dicht an dicht mit den gelben Blüten besteckt. Das schneebedeckte Gebirge und die Forsythienwälder am See finden sich wo genau? In Berlin.

Greisenhafte Gefühle, aber eben nicht Wutgreis, sondern Lars-Gustafsson-Style: Es soll ein Tag sein wie dieser, als die Wolken von Schnee bedeckt lagen.

Wie Mythischer Bahnhof neulich auf Twitter schrieb, schneide man bei Vertilgung der Tage die Tüte irgendwann ab, »um besser greifen zu können«. Die von uns halbierte Tüte ist die Nacht.

Am Morgen, kurz nach sechs: ein Spalt im Vorhang lässt das Licht durch. Es enthält sämtliche Informationen. Und tatsächlich, als ich später die Vorhänge aufziehe: adriatischer Tag. Himmel und See erwidern sich blau.

*Boutique

24.4.

Die Sonne scheint, der ewige Kalender meldet, dass heute der Tag des Versuchstiers ist und ich hätte große Lust, jetzt gleich zum Frühstück in ein Hasencafé zu gehen. Seit über einem Jahr schon frage ich mich, warum ausgerechnet hier in Berlin noch keiner dieses sehr schöne und nebenbei auch sehr innovative Konzept, wie es heißt, umgesetzt hat. Auf Twitter folge ich einem Hasencafé im Großraum Tokio (aber die in Nagoya sind bestimmt mindestens genauso schön, wenn nicht sogar schöner, weil etwas naturbelassener, traditionsbewusster, rauher), die posten ständig Fotos, Serien von Fotos, kleine Szenarien, die an kawaïness nicht zu überbieten sind. Von Friederike, die im Gegensatz zu mir schon einmal im Land der aufgehenden Sonne war, weiß ich, dass man in einem Hasencafé eine Stallgebühr bezahlt – dazu kommen freilich noch Verzehrkosten für die Dauer des Stallaufenthaltes, aber damit erhält der Besucher des Hasencafés dann auch das uneingeschränkte Recht, mit einer wasserabweisenden Schürze angetan (die geht aufs Haus), sich eine halbe Stunde lang in dem von einer in etwa kniehohen Trennwand vom hasenfreien Cafébetrieb geschiedenen Hasenspielparadiesgärtleins zu ergehen. Mit den dort eingepferchten Hasen. Und kaum, so Friederike, man in der Schürze die Hasenmauer überschritten hat, werfen sich die Hasen des Hasencafés auch schon auf ihre zweibeinigen Besucher. Zum einen wollen sie etwas vom am Tresen des Hasencafés erstandenen Kraftfutters erheischen, viel dringlicher aber ist ihnen das Anliegen, möglichst viel von ihren Hasencaféurin abzuschleudern. Dafür ist die Schürze da, beziehungsweise, wie es in Hamburgs Elendsviertel Mümmelmannsberg beim Anblick eines mümmelnden Hasen noch heute und ganz richtig heißt: »Da sei mîn Schürze vor!«

Davon abgesehen, und es gibt halt auch keine schlechten Hasen, sondern nur zu kurze Schürzen, gibt es kaum denkbare Orte auf der Welt – von Menschen erschaffen, von Menschen gemacht – die noch angenehmer sein dürften als ein Hasencafé. Oder, um es mit den Worten des leider früh verstorbenen Helmut Dietl zu sagen: »Den gesunden Menschen, der nicht mit einer Schürze sich von Hasen vollpinkeln lassen will, den gibt es nicht.« Und, so denke ich, als Schürzenfreund und Entrepreneur nun mal: Der Haustiergedanke ist halt doch noch stark dem 20. Jahrhundert verhaftet. Darin überwintert ein Relikt des kleinbäuerlichen Lebensstiles, der mit der flächendeckenden Versorgung durch Bio-Supermärkte obsolet geworden ist. Wie Car2Go und ähnliche Sharingkonzepte erfolgreich gezeigt haben, ist mieten zu recht beliebter als besitzen. Denn Besitz besitzt. Mieten macht mobil und (sorgen-)frei. Das willige Nuttenauto schlägt den pflichtschuldigen Hausfrauenporsche. Hier liegt der Hase auf der Straße, beziehungsweise: das Geld. Haustiere, die in einer gastronomisch angenehm gestalteten Umgebung (Stichwort creature comfort) gegen eine geringe Sharinggebühr gestreichelt werden können, wann auch immer der Hasenuser das will. Und nicht etwa umgekehrt, also streicheln, wann immer der Hase will, selbst wenn der User dazu gar keine Lust verspürt, wie das im Haustiermindset Usus war.

Das Hasencafé, von dem ich heute noch träume, auch jetzt gerade, das es aber übermorgen in Berlin schon geben wird, hätte 24/7 geöffnet. Den Hasen wäre das nur recht, denn sie haben rund um die Uhr Appetit. Und sind von Natur aus ohnehin nachtaktiv.

22.4.

Wie eine Dame, die obenrum Bikini trägt und ab den Hüften einen Flokati umgewickelt hat, zeigt sich dieser Tag mit blauem Himmel und einem aufgewühlten See, der mit seinen Wellen eine Menge Schaum in die Bucht getrieben hat. Die Zweige biegen sich, die Weide wallt. Die Mahonien blühen in dichten gelben Trauben und wenn der Wind richtig steht, weht er den Honigduft der vielen Blüten bis zu mir heran. Am Strandbad stehen die weiß lackierten Standkörbe dicht an dicht und in den Nachrichten hieß es, dass sich in einem Freibad in der Pfalz eine Frau umgebracht hat. Angeblich befanden sich zum Zeitpunkt des Selbstmordes 25 Personen in ihrer nächsten Nähe. Die Zahl wird exakt gemeldet, aber nicht wie, auf welche Weise die weibliche Person vor den 25 Augen-, vielleicht ja teilweise auch nur Ohrenzeugen darunter, sich selbst ermordet hat. Das soll, klar, geheim bleiben, um niemanden auf falsche Gedanken zu bringen. So als gäbe es Geheimrezepte, die wie Anleitungen zum Bombenbauen oder Drogenkochen sind, und wenn die erst in Umlauf gerieten, dann brächten sich bald viel zu viele weibliche Personen um.

Ganz in Gelb, zumindest obenrum, und wenn sie ihr Haar nach vorne über die Schultern fallen ließe, erinnerte sie an eine zeitgenössische Gioconda: Pinar Atalay moderiert die Tagesthemen hinter einem von zwei biomorph geformten Pulten stehend, die palettenhaft geschnittene Tischplatte leuchtet blau. Im Hintergrund ist eingeblendet die vergrößerte Aufnahme einer Hecke zu sehen, deren Sträucher zur Seite gebogen erstarrt sind wie auf einem Gemälde von Vincent van Gogh. Auf einem kahlen Stamm steht in weißer Handschrift die Zahl 10. Das ist die Kulisse. So sieht das Bühnenbild aus in dem Frau Atalay erscheint, um über den Hintergrund des Bombenanschlages auf den Mannschaftsbus des Dortmunder Ballspielvereins Borrussia zu berichten.

Aber ist es denn wirklich eine so unfassbare Tat? Ist es denn tatsächlich so unbegreiflich, dass eine Person, um an Geld zu kommen, andere Menschen, die sie gar nicht persönlich kennt, ermorden will? Und diese Methode mit der Kursmanipulation, die als besonders perfide beurteilt wird – perfider als Kindesentführung, perfider als Schokoladenhasen vergiften und den Discounter erpressen, perfider als Banküberfall eventuell – hat nicht schon Gert Fröbe als Goldfinger mit dem Geschwader von Pussy Galore versucht, den Staatsschatz von Fort Knox mit einer Kobaltbombe zu verseuchen, um dann vom manipulierten Goldpreis profitieren zu können? Ging es im Reich der Fiktion nicht überhaupt schon ziemlich oft um böse Personen, sogenannte Bösewichte, die andere Menschen, die sie gar nicht persönlich kannten, ermorden wollten, um an viel Geld zu kommen? Ich wusste bis dahin gar nicht, dass ein Fußballverein Aktien ausgibt. Ich wusste auch nicht, dass man bei der Comdirect Bank, die andauernd vertrauensvoll Werbemails an potenzielle Kunden, die man bei Comdirect gar nicht persönlich kennen kann, verschickt, ohne selbst Geld zu haben, auf Kredit übers Internet Anteile an Unternehmen kaufen kann, deren Unternehmer man gar nicht persönlich kennt. Und ich wusste auch nicht so ganz genau, dass es Unternehmer gibt, denen es gleichgültig ist, wer sich eventuell kreditfinanziert Anteile an ihrem Unternehmen kauft, und ob das Geld, mit denen diese Anteile an ihrem Unternehmen gekauft wird, diesen wildfremden Anteilseignern in spe gehört, oder nicht. Wo es herkommt. Wodurch es erzeugt wurde. Womit.

21.4.

Am Nachmittag trafen die Handtaschen ein in einem Karton, in dem man auch einen Kühlschrank mit drei Gefrierschubladen hätte verschicken können, ein leis‘ sprechender und bedächtig formulierender Slowake in der braunen Uniform des United Parcel Service (UPS) hielt mir den elektronischen Quittungsblock hin, aber als ich unterschreiben wollte, rupfte ich, weil ich gedanklich schon einen nur sogenannten Schritt weiter, nämlich beim Auspacken der Handtaschen war, heftig an dem mit einem zu kurz bemessenen Spiralkäbelchen mit dem Gerät verbundenen elektronischen Stift, sodass der mir aus dem Griff flog und an seinem Spiralkabel pendelnd auf- und ab hüpfend zwischen uns hing. Der Bote, vermutlich halt doch ein Bulgare, sagte: »Oh«.

Es gibt da kein Zeremoniell. Aber: Jeff Koons, der Meister. Es steht einfach fest. Drei Handtaschen hat er für Louis Vuitton geschaffen, so standen sie vor mir: Wie Jeff Koons sie gedacht hatte, waren sie gemacht worden. Mithin als schönster Beweis, dass Abbildungen nur einen schwachen Eindruck vermitteln können, lediglich Gedächtnisstützen sind. Wobei ich selbst beispielsweise, als ich diese Handtaschen auf Abbildungen sah, zunächst insgeheim dachte, es könnte sie unmöglich in Wirklichkeit geben. Geben dürfen! Aber gut, es sind nun halt solche Zeiten, in denen nichts mehr als gesichert gilt. Abends nach dem Unboxing sah ich einen Bericht über die Weinbauern in Rheingau und Pfalz, die zwischen ihren Reben kleine Eimer mit Brennpaste aufstellen, um die Stöcke über Nacht zu wärmen bei den unüblichen Minustemperaturen. Was übrigens, wenn es nicht so dramatisch um die vom Ausfall bedrohte Weinernte stünde, sehr hübsch aussieht, wenn einen nächtlichen Weinberg hinauf diese Gassen aus bläulichen Flämmchen reichen (oder hinunter, ganz wie man es betrachten will, aber die Kamera schaute in diesem Bericht zum Gipfel hinauf); andernorts, da ging es um Äpfel, ließen die Obstbauern zwei Hubschrauber über ihrer Plantage kreisen, damit die Rotoren die warme Luft aus den höheren Schichten zu den Pflanzen am Boden wirbelten. Ein Maschineneinsatz, der sich als vergeblich erwies, leider. Im Verlauf der betreffenden Nacht wurde es einfach zu kalt. Braunfleckigkeit an den Fruchtknoten der Apfelblüten: 90 Prozent Ernteausfall.

Und was macht Jeff Koons? Er lässt das Leder der Handtasche mit der Mona Lisa bedrucken (die Martin Mosebach jetzt korrekt mit La Gioconda bezeichnen würd‘, aber Martin Mosebach hat, wie ich in der Zeitung las, noch nicht einmal ein Handy, auch lehnt er die Häresie sozialer Netzwerke ab und wird es von daher auch nie erfahren, dass ich gar nicht weiß, wie man Mona Lisa richtig schreibt), also Vollgas Pop, und dazu kleben (eventuell sind sie genietet) goldene Buchstaben drauf, die zusammengenommen bedeuten: DA VINCI. Dazu kommt noch ein Layer ultraplastischer Metallic-Aufdrucke, die das legendäre Logo von Louis Vuitton – in China bekannter als das Hakenkreuz – zeugen und wenn man genau hinschaut, was ich freilich getan habe, denn ich konnte es ja kaum fassen, was dort aus dem Großkarton gehoben ward, entdeckt man auch noch als Dreingabe die erste Umschrift in der Geschichte des Hauses: Jeff Koons hat nämlich auf dieser Handtasche von Louis Vuitton auch noch deren Logo appropriiert und mit seinen Initialen überschrieben. Aus LV wurde JK. Kann gut sein, dass all dies in China und Nigeria, für diese Absatzmärkte scheint die Neverfull Da Vinci konzipiert, noch einmal ganz anders gelesen wird. Kann aber auch genau so gut nicht sein. Man kennt ja kaum noch Chinesen und noch weniger Nigerianer, mit denen man sich über Jeff Koons oder Handtaschen austauscht, wie es so schön heißt.

Der Kirschbaum hat die kälteste Nacht gut überstanden. Die Forsythien blühen 1a und auch in den tieferen Schichten, wo abwechselnd Walderdbeeren und Waldmeister (a hell of a combination) knospen, sieht es vielversprechend aus.

20.4.

Endlich wieder mit Socken schlafen. Es ist halt einfach das Gemütlichste auf der ganzen Welt! Und dann beim Aufwachen zwar Kälte, aber zum Ausgleich blitzblauer Himmel und gleich herrlichster Sonnenschein. Der New Yorker veröffentlicht die geheimen Tagebücher von David Sedaris. Seit vierzig Jahren schreibt er sie in von ihm selbst gemachte Ringbücher, 153 Stück gibt es mittlerweile davon, der New Yorker veröffentlicht freilich nur in Auszügen daraus. Ich las und schaute mir auch die Einbände der geheimen Tagebücher an, die, ebenfalls in Auswahl, abgebildet wurden. Das war während meiner Fahrt durch die Bilder einer Landschaft mit Schnee vor frühlingsgrünen Bäumen. Ich kann mich nicht erinnern, das schon einmal erlebt zu haben. Gar nicht sattsehen konnte ich mich daran. Die Kinzigtalsperre: en forme.  Und kurz zuvor der zweitschönste Industriekomplex aus Backstein auf dieser Strecke: die Dreiturmwerke in Steinau. Seit 1835 in Familienbesitz. Seit 1835 wird hier Seife hergestellt. 1945 wurde die Fabrik vollkommen zerstört. Seltsam eigentlich, wo die doch bloß Seife hergestellt haben. 1950 steht nicht nur alles wieder, es wird expandiert. Heute ist die Dreiturm GmbH auf die Veredelung (von Reinigungsmitteln) ausgerichtet, stellt außerdem (milde) Pharmazeutika her. Der Slogan lautet nach wie vor: »Für alles die richtige Lösung«. Platz Eins auf der Strecke behält freilich VW. Nicht allzuweit hinten dann Fulda, die siffige Rückenansicht der Papierfabrik dort. Mehr weiß ich bislang nicht, muss halt ein paar Mal noch fahren.

Ausgesucht schöner Sonnenuntergang, der in drei Phasen gezeigt wurde, weil kurz vor der Bildkante noch ein blauschwarzes Wolkenband horizontal verlief, hinter dem der Sonnenpunkt für zehn Minuten verschwand, den Untergang an sich quasi antäuschend, um dann darunter durchgeschlüpft noch einmal kurz loszustrahlen, dann Waldsaum und damit auch »Ende Gelände« wie es unter den Freunden des Endreims heißt. Die Vögel machten kundige Geräusche, so als verstünden sie nur irgendetwas davon – aber wer weiß? Evolutionspsychologisch ist es doch wahrscheinlich, dass gerade Amseln beispielsweise oder Nachtigallen, die mit ihrer Liedproduktion so ganz wesentlich mit der Tag-/Nachtscheide verbunden scheinen wie infrarotsensorgesteuerte Lichtschalter, über Tausende von Jahrhunderten eine seelische Empfänglichkeit für die Qualität dieser Licht aus-/Licht an-Momente ausgeprägt haben dürften. Just saying.

Dazu aß ich Spaghetti mit Tomatensauce nach einem alten Rezept aus den fünfziger Jahren. Seit es viel aus London zu berichten gibt, ist in der Tagesschau nun erfreulich oft auch die Großbritannien-Korrespondentin des Ersten zu sehen. Hanni Hüsch. Sie hat einen ganz eigenen Stil, sich während ihrer Kommentare in Pose zu stellen. Auch was sie dazu anzieht, bleibt bei mir haften. Seit Gabriele Krone-Schmalz ist sie die erste Kommentatorin im Deutschen Fernsehen, deren Namen ich korrekt auswendig weiß. Wobei sie eigentlich Johanna heißt. Auch das weiß ich schon. Hanni ist eine Art Künstlername. Es soll kalt bleiben, auch über das Wochenende. Na ja.

Eine Frau vom Bayerischen Rundfunk, sie trägt ein Strickkleid aus goldglitzerndem Lurex, wünscht einen angenehmen Abend. Es folgt die Dokumentation über den NSU.

19.4.

Gestern Mittag, wir saßen im Restaurant des Main Tower und schauten dort aus den Fenstern, wurden wir plötzlich von Schneeflocken umweht. Wir konnten, man sitzt dort auf beinahe 200 Metern Höhe zwar hinter Glas, aber doch wie im Freien, weit ins Land bis hinter den Stadtrand Frankfurts schauen. Dort, wo es aus den Meilern des Kernkraftwerkes dampfte, schien schon wieder die Sonne aufs Grün. Und die dunkle Wolke, die wohl noch über uns hing, aber man sah ganz deutlich den Saum ihres Schattens, der über Sachsenhausen hinweg gezogen wurde: Sie hatte den Schnee mit sich gebracht – jedenfalls war der hier oben in den höheren und kälteren Schichten als Schnee noch in Flockenform angekommen, ob es weiter unten, die Stadt erschien noch von den Osterfeiertagen wie leergepustet, dann geschneit oder doch eher geregnet hatte – um das noch erkennen zu können, dafür wiederum saßen wir zu weit von der Erdoberfläche enthoben.

Nachts dann geträumt, bunt und wild, nicht gerade von allem, aber beinahe von allem. Müsste ich aufzählen, was noch gefehlt hatte, würde das aber vermutlich doch lange Zeit in Anspruch nehmen. Eben gerade so geträumt, wie ich immer nur dann träume, wenn; und tatsächlich war es dann heute früh kurz nach halb acht auch soweit. Zunächst kam ein Windstoß. Den hörte ich nicht, aber ich konnte es trotzdem fühlen. Durch die geschlossenen Fenster hindurch. Als minimale Verstörung des molekularen Gefüges. Und noch lange Zeit später schwebten dicke weiße Flocken unter scheckigem Himmel herum. Wie ich noch einmal hinsah, war schon alles wie neblig, das Licht so grau und trübe: Es schneit.

16.4.

Im Übrigen hatte Martin Mosebach hierzu alles Wesentliche in seiner Häresie der Formlosigkeit ausgeführt, doch waren uns am Samstagabend schon entlang der Bahnstrecke die teils nur qualmenden, teils auch lodernden Stapel aus den Abschnitten alter Bäume und Gebüsche aufgefallen. Der traditionelle Tag für das Anfachen des Osterfeuers war aber einfach der Sonntag. Den Nachmittag über beobachteten wir aus einem dem Hügel zugewandten Fenster eine gewisse Konzentration von Einheimischen, die in regenfester Kleidung sich um die beiden Stapel scharten.

In der Nacht hatte das Schaf ein Lamm zur Welt gebracht. Mit schwarzem Fell, was keine Ausnahme darstellte, da sämtliche Lämmer in dieser Herde, bis auf eines, schwarz waren. Dies eine war grau meliert. Am Zaun hatte ich in die Hände geklatscht und die Schafe waren samt ihren Jungen auf uns zugestürmt unter lautem Blöken. Dann Übersprungshandlungen, sie standen und kauten auf irgendetwas herum, manche wohl auch lediglich vorgeblich, als sie erkannt hatten, dass wir ihnen nichts anderes anzubieten gedachten als unsere Aufmerksamkeit. Hinter dem Apfelbaum, der blühte, stand die abgesonderte Mutter mit ihrem frischen Lamm, dessen Beine noch arg lang wirkten. Ein Rest der abdörrenden Nabelschnur war noch zu sehen. Das Neugeborene stöberte unter dem Fell der duldsamen Mutter, das in Würsten wie Dreadlocks herabhing.

Entlang der Weißdornhecken, die voller Blüten steckten, ging es an der künftigen Lungenheilanstalt links vorbei bergan. Ein schönes Schild in Schwarz auf Gelb wies uns darauf hin, dass dieser Park ein Park war und kein Hundeklo. Wir nahmen das hin, obzwar wir hundelos gingen. Am Himmel, dessen Erscheinungsbild uns von Cupertino her als regnerisch prophezeit worden war, kreiste ein Lämmergeier.

Als wir den Hügel erreicht hatten, brannten die Stapel dort auf der Anhöhe. Ging man ganz nah heran, wurde einem bald ziemlich warm. Es waren weit weniger Menschen gekommen als gedacht. Aber insbesondere den jungen Einheimischen war es deutlich anzumerken, dass dieses am Osterfeuer stehen und sich vom Osterfeuer wärmen lassen und die ausgetrunkenen Plastikbecher ins Osterfeuer werfen und den dort im Osterfeuer schmelzenden Plastikbechern beim Schmelzen zusehen für die rings um dies Osterfeuer Versammelten etwas Identitäres bedeutete oder ganz einfach war. Ja, ich konnte mir sogar auf einmal sozusagen plastisch vorstellen, wie einer wie der Österreicher Martin Sellner vor einem solchen oder ganz ähnlich aufgeschichteten und plazierten Osterfeuerholzstapel stehend seine Berufung zur Identitären Bewegung erfahren hatte. Nämlich ganz wirklich als Ruf. Nicht von anderswo her, sondern aus ihm tief innen heraus, erweckt vom Anblick der Flammen und der beständig ineinanderzusammenkrachenden Glut, die Wärme dazu, freilich, aber auch die einfachen Gesichter der Einheimischen herum, denen man in der behaglichen Wärme des Osterfeuers stehend in die Gesichter schaut, man braucht dabei gar nicht viel zu reden, um Einverständnis zu fühlen. Es ist halt, wie es ist. Es ist identitär.

Im Mittelgrund waren nun Wolken erschienen, die ganz tief über dem weißen Steinbruch hingen, der dort am Horizont zu erkennen war. Weshalb er weiß war? Nun, weil dort Gips angebaut wurde. Und zwar – man denkt dann Gips ist Gips, wird aber vom Volk eines Besseren belehrt (und zwar auf eine schöne, weil stolze, weil aufrechte Weise): der beste im ganzen Land. Jetzt aber soll die Renaturalisierung kommen. Indem man ausgerechnet den Abhub von Stuttgart21 dort ablagert. In Thüringen! Fremde Muttererde aus Württemberg – was soll das? Desweiteren ging es um die Ecstasy-Preise in der Kneipe, weil die Zeiten, als MDMA noch als Königin der Substanzen bezeichnet werden durfte (unter anderem von mir), die sind jetzt vorbei, auch Ecstasy ist jetzt Volksdroge. Es ist identitär.

Nach Einbruch der Dunkelheit saßen wir lange noch am Fenster und schauten zum Hügel hinüber. Die Flammen sprangen empor in die Nacht. Man konnte sich, und das taten wir freilich, ganz schön ausmalen, es wären dies verfeindete Dörfer. Gehöfte, die wir niedergebrannt hatten. Den roten Hahn auf den First gesetzt. Es regnete beinahe die ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen. Als die Sonne aufgegangen war, schwelten die Reste ja immer noch.

15.4.

In einer Sondersendung von Kochen mit Martina und Moritz, die am Samstag kurz vor Mittag gezeigt wurde und in der es monothematisch um eine mögliche Zusammenstellung von Köstlichkeiten für einen Brunch am Ostersonntag ging, kam es, vor allem für mich, als so langjährigen wie regelmäßigen Zuschauer, zu einem überraschenden Moment der taoistischen Erotik. Allerdings nicht zwischen Martina und Moritz selbst, denn es war Moritz solo, der ganz plötzlich in einer ungewöhnlichen Einstellung, wie auf einer Nebenbühne gefilmt, sein Rezept vorstellte, das er dem Zuschauer als morgendliche Erquickung für die Frau empfehlen wollte. Es ging um einen arabischen Kaffee. Der wurde wieselflink in einem speziell geformten Gefäß zubereitet, enthielt neben dem Kaffeemehl noch viel Zucker sowie arabische Gewürze. Aber als Zuschauer faszinierte mich, wie gesagt, der Einblick in die Liebeskultur dieses mir seit langem vertraut gemachten Paares, das ich zwar nur von ihrem aquarienhaften Leben in meinem Bildschirm her kannte, dabei aber stets kochend, sich dabei unablässig unterbrechend, unerbittlich zurechtweisend, einander zum gegenseitigen Probieren nötigend: so war über viele Folgen dieser mir lieben Sendung ein Gefühl von Intimität entstanden. Ich und die asexuell lebenden, dafür umso heftiger kochenden und auftischenden Martina und Moritz kannten uns gut.

Ein Trugschluss, wie ich am Samstag feststellen durfte, denn zum Müssen gehört für mich eine Empfindung des Widerstrebens, und die hatte ich eben gerade nicht. Denn außer diesem winzigen Signal des Taos hatte es ja an den vertrauten und mein Vertrauen hervorlockenden Elementen nicht weiter gemangelt. So hatte sich beispielsweise Moritz gleich zu Beginn dieser Sendung beim Ausblasen von sehr vielen Eiern falsch angestellt, beziehungsweise hatte er die zum Ausblasen der Eier nötigen Löchlein, von Martina als zu umfangreich empfunden, in die Schalen gebohrt, und war dafür zurechtgewiesen worden. So musste das sein.

Dann wiederum – und auf diese Momente wartet man, warte zumindest ich, ihretwegen schalte ich unter anderem ein – musste das von Moritz aus den geschätzten zwei Dutzend Eiern herausgeblasene Innenleben irgendwie weiterverarbeitet werden. Und halt nicht irgendwie, sondern so sinnvoll wie köstlon. Es geht dann, in der vom one shot diktierten Dramaturgie der Sendung, immer derart Schlag auf Schlag, dass ich selbst noch mit dem Nachdenken beschäftigt war, was ich selbst mit 24 Dottern und Eiweiß anfangen könnte, als Moritz wiederum diese bereits in einem Standmixer zu einer orangefarbenen Masse verquirlt hatte, um diese dann – das überraschte mich dann doch, und wenn ich gekifft gehabt hätte, wäre mir vermutlich ein verblüffter Kommentar entfahren (»abgespaced«) – in eine mit Backpapier ausgelegte Fettpfanne zu gießen, die er »hernach«* bei 140 Grad (Ober- und Unterhitze) im Backofen »eher stocken als backen« ließ.

Da fragte ich mich auch unbekifft doch frei nach Edward Bulwer-Lytton: Was wird er damit machen?

Während er mir das erläutern wollte, schob sich vom rechten unteren Rand des Bildschirms her Martina ins Bild, die mit einem Handrührgerät (die Marke konnte ich nicht entziffern, da die Vibrationen des zeitgleich auch stark in der Schüssel herumfuhrwerkenden Rührhakengespannes den Anblick des Handrührers in Martinas Hand verwackelte) ihre eigene Stimme dazu anspornte, schrill und durchdringend gegen des Handrührgerätes Scheppern eisern anzugehen.

Währenddessen Moritz still eine Farce aus Hackfleisch mit Zwiebeln herstellt, die er dann einwickelt in den Eierfladen, den er zum Stocken in den Ofen geschoben hatte. Es entsteht so eine Art Biskuitrolle der pikanten Art, die er mit einem vorzüglichen Messer in zimtschneckenhafte Stücke zerschneidet, die dann mit einem frischen Salat garniert und auf dem Gabentisch des Osterbrunchbuffets präsentiert werden. Martinas Gugelhüpfe, mit kunterbunter Zuckerglasur und bunten Zuckereiern dekoriert, sind auch schon fertig. Dann zeigen die beiden kurz noch, wie man Eiersalat anfertigt, der in Nestern, gemacht aus Kresse, angerichtet wird (der Trick besteht darin, die hartgekochten Eier dreimal durch die Eierharfe zu quälen: dann werden die Eierwürfelchen besonders fein).

Kurz entsteht eine Pause, die beiden beschauen sich ihr Werk. Da steht es, alles sieht, wie beinahe immer, fantastisch aus, zum Anbeißen. Man will hineinbeißen, zumindest zum Probieren eingeladen sein (wie schafft man das, wie kommt man an die beiden ran?), da zaubert – er schafft das wirklich, Moritz the Man, dass dieser Eindruck entsteht, dass er zaubern kann, wie die von Wolfgang Niedecken besungene Mutter aller Kartenlegerinnen – hält also Moritz seiner Martina diese Tasse hin. Und sie erkennt schon gleich am Duft, der ihr in die ihm, Moritz – ihrem Kontrahenten wie Kompagnon am Herd so wie im Leben – kampfeslustig hingereckte Nasenspitze steigt, dass es sich bei dieser heißen Flüssigkeit in dieser Tasse, um den von ihr so geliebten arabischen Kaffee handelt. Die vierte Wand wird durchbrochen, wir, die Zuschauer, reisen für einen taoistischen Moment in ein bis dato über viele, viele Folgen dieser Sendung ausgespartes Zwischenreich. Nein, es geht hinauf zum Hauptschauplatz dieser Erzählung, denn auch im Privatleben von Martina und Moritz spielt das Genießen eine Hauptrolle, um die sich alles dreht, ist Kulinarik der King.

Martina probiert, beinahe gierig, sie pustet nicht. Moritz schaut. Sie macht »Mhm«, und sagt: »Ist der heiß!«

*Simon Strauss in seiner eher vernichtenden Rezension der Neuverfilmung des Doppelten Lottchens auf der Fernsehseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. April 2017

14.4.

Vier Mädchen, Schülerinnen vielleicht noch? Jugendliche, Teengirls – wie nennt man sie eigentlich, wie spricht man sie an, wenn sie dazu, also zudem sie noch mädchenhaft wirken, auch noch in Ganzkörperanzügen aus rosafarbenem Plüsch gekleidet durch die Gänge des ICE schlendern? Das eine hat mit dem anderen freilich nichts zu tun, verwirrend wirkte es trotzdem auf mich, zumal die Anzüge auch Kappen hatten, ebenfalls rosa, aus demselben Material, an deren Oberseiten jeweils zwei puschlige Ohren mittlerer Länge angesetzt waren. Jedoch trugen die Mädchen, die vielleicht ja doch keine Schülerinnen mehr waren, also eventuell sogar ohne Unterwäsche in diesen Plüschoveralls über mich drüberstiegen, der ich in dem überbuchten Zug leider keinen Sitzplatz mehr hatte ergattern können, diese Kapuzen, die ihrem Auftritt etwas nur noch hasenhaftes, etwas obszön Österliches hätten aufgesetzt wie ein Kreuz auf einen Gipfel, ganz im Stile ihres laisser faire nach hinten über die Schulterlinie geklappt. Zwischen Bordbistro und Sitzplatz, wo sie aus mitgebrachten Plastikschüsseln stark riechende Salate aßen mit Gabeln aus Privatbesitz, ging es häufig hin und her. Woran man halt bei fortgeschrittenem Alter in dahinjagendem Zuge so denkt: Bäume aus der Froschperspektive bei 250 km/h.

In Frankfurt dann nächtlicher Fliederduft. Alles scheint hier schon weiter, selbst der Rasen wirkt samtiger, geschlossener als oben bei uns in Berlin, wo ein kalter Wind von allen Seiten heranwehte und zwischendurch auch immer wieder mit seinen Regenschauern ankam, wie etwas Übriggebliebenes, das er endlich loswerden will, das niemand braucht oder will.

Vor dem Haus traf ich auf die Mume. Keuchend stand sie dort im Dunkeln. In mindestens sieben Röcken wie einst von Günter Grass beschrieben. Sie kann wirklich kein einziges Wort Deutsch, kann also nicht einmal grüßen. Fliederfarbene Kopftücher, auch mindestens drei oder vier Stück. Sie öffnete einen weitgehend zahnlosen Mund. Aus der Sprechanlage kommen Geräusche, la mystère des voix bulgares, der Türsummer geht, sie wandelt in ein dunkles Treppenhaus hinein.

In der Bar im Nachbarhaus, die Müllstall heißt, legten zwei ohne Traktor mit zwei Plattenspielern auf, aber es klang so, als hätten sie Traktor und sie bedienten die kleinen Drehknöpfe an ihrem Mischpult mit der international etablierten Fingerstellung silent duck. Es sah alles aus wie im Bilderbuch vom Auflegen, auch dass der Müllstall so klein war, die Straße draußen so friedlich. Und Berlin sehr weit weg. Die Diskokugel ist golden verspiegelt.

Am nächsten Morgen dann für deren Verhältnisse früh am Café Laumer, wo eine Kellnerin an der Frühstückskarte herumwischte, die dort vor dem Haus auf dem Trottoir aufgestellt zu stehen hat. Die drei Frühstücksvarianten sind mit den Nachnamen der Philosophen Adorno, Horkheimer und Habermas gekennzeichnet wie andernorts mit Städtenamen (Paris=Croissant). Mich hatte schon bei unserem letzten Besuch dort gewundert, dass unter den Namen von Adorno und Horkheimer in Klammern die Zusammensetzung des jeweiligen Frühstücks angeschrieben stand, unter dem Frühstück namens »Habermas« aber stand nichts. Jetzt hatte dort wohl einer mit fragwürdigem Humor in Klammern HASENSCHARTE drunterkommentiert, wo bei Adorno (Lachs, Rührei) und bei Horkheimer (Bauernfrühstück mit Gurke) seit eh und je stand.

Müsste man freilich diskutieren, schlugen wir vor. Beziehungsweise: könnte man das, ob es dem Stile Max Horkheimers tatsächlich gerecht wird, ihn mit dem Bauernfrühstück symbolisch quasi gleichzusetzen, wohingegen dann der feine, weltläufige Herr Adorno durch die erwiesenermaßen kanonisierte Exquisitkombi Ei mit Lachs ins Gedächtnis der Cafébesucher eingehen darf.

Die Kellnerin wägte ab, blieb aber dabei, dass die Hasenschartenschmiererei nicht ginge und von der Frühstückskarte getilgt werden muss. Da stimmten wir ganz selbstredend zu. Im Übrigen, dies nur als Hinweis beziehungsweise Anreiz für die Betreiber, sich das mit Horkheimers Bauernfrühstück doch noch einmal im Guten zu überlegen: der, also Max Horkheimer war ja bereits von Eckhard Henscheid mit einem Anwurf bedacht worden. Bezeichnenderweise in den »Vollidioten«, wo er (Henscheid) ihn (Horkheimer) als greisen Münzspielautomatenjunkie in der Kneipe des Herrn Mentz auftreten lässt: »Herr Mentz behauptete nachdrücklich, dass der Alte nur deshalb immer so viel gewinne, weil er – ›und jetzt habe ich es selbst gesehen‹ – immer von oben durch einen Schlitz Bier in den Automaten schütte und so den Apparat vollkommen beherrsche – ›und ich, die Wirtschaft, muss jetzt einen Automaten kaufen!‹. ›Wer ist denn dieser Alte eigentlich?‹, fauchte der junge Herr Mentz nach einer kleinen Pause, während der er hektisch mit einem Lappen den Thekentisch rieb, als wollte er das unsittliche Verhalten des Alten gleichsam aus seinem Lokal fegen, – niemand kenne diesen Mann, niemand wisse seinen Namen, mit niemanden rede er an der Theke, immer nur spiele er am Automaten…

›Aber das sei doch‹, raunte Herr Domingo nun fast beschwörend, ›das sei doch der alte Max Horkheimer‹.

›Wer? Was? Hockenheim?‹, fragte der junge Herr Mentz scharf und ungnädig zurück.«

»Tja«, sagte die Kellnerin und hielt, den Blick auf ihre gesäuberte Tafel gerichtet, die Hände in die Hüften gestützt. Übrigens, das fiel mir ein: eine Körperhaltung, für die es im Englischen den wunderschönen und zugleich mysteriösen Ausdruck arms akimbo gibt. Möglicherweise bedingten sich wundersame Schönheit und Mysterium auch gegenseitig. Ziemlich wahrscheinlich war dem sogar wirklich so.

13.4.

Österliche Gefühle vom Suchen und Finden. Es gibt derzeit viel nächtlichen Aufruhr in den Schlafgebieten der Wassertiere, die bei Sonnenaufgang in Kleinarbeit zu Brutstätten umgebaut werden. Ich erinnerte mich an das vergangene Frühjahr, als bis in den Sommer hinein das in den Schatten unter dem Steg plazierte Nest der Blässhühner dreimal zerstört und dreimal an derselben Stelle auf ein Neues errichtet wurde. Von denselben Hühnern. Jedenfalls nahm ich das an. Sie sahen für mich ja allesamt identisch aus. Dummheit oder unermüdlicher Glaube an die Richtigkeit ihrer ursprünglichen Entscheidung, dass dort der ideale Ort wäre, um ihre Brut aufzuziehen. Am Ende wurde daraus dann gar nichts, und sie fuhren sinnlos geworden, Nahrung aufnehmend und sich selbst erhaltend, dem herbstlichen Dasein entgegen (im für ihre Art typischen Zickzack). Ihr Leben »erst recht« genießend, sorglos wahrscheinlich schon; dafür einfach fett werdend, fetter als die anderen Hühner und Hähne, die mit ihren Nistplätzen ein besseres Gespür bewiesen hatten, oder einfach bloß Glück gehabt, das ist einem Blässhuhnpaar double income no kids nicht möglich.

Beim Schneiden eines Petersilienbüschels, mit nobler Geste, wie schon ein Adliger im 14. Jahrhundert seine Petersilienbüschel schnitt (allerdings gab es da noch keine Spaghetti in diesen Breiten), schnitt ich mir recht bäurisch, aber irgendwie auch passend als Zutat zu einem herzhaften Mahl, in den ländlichen Daumen, ganz vorne an der Kuppe, woraufhin dort von meinem Daumennagel fortan ein halbmondförmiges Stück fehlte. Aber darunter blutete es kaum. Das nahm ich als Zeichen für die beginnende Nacht zum Gründonnerstag, die für mich ja auch eine Nacht des Anfangens, des Heilens und die einer Zusammenführung ist. Außerdem wurde ich abgelenkt, weil im Anschluß an die Dauerwerbesendung für die Tagesschau-App ein Brennpunkt, wie es noch immer heißt: ausgestrahlt wurde, in dem ein Terrorexperte des Ersten Programms das Bombenattentat auf den Fußballbus analysierte. Der Sportchef des WDR erläuterte, dass im Fußballsport der letzte (oder einzige) Kitt bestanden habe, der die deutsche Gesellschaft zusammenhält. Ungefähr da passierte mir das Malheur mit dem Petersilienbüschel und mir fiel eine Szene für einen Krimi ein, in dem der Hauptdarsteller sich versehentlich sämtliche Fingerkuppen abtrennt. Er will Hilfe anrufen, aber es geht nicht, weil er mit den Fingerstümpfen hilflos auf dem Glas seines Smartphones herumglitscht. Eventuell bittet er Siri um Sprachassistenz, aber sie versteht ihn immer falsch.

Spannend! Es müsste halt noch geklärt werden, wie genau er seine Fingerkuppen alle auf einmal verliert. Eventuell auch kurz nacheinander. In einer Kaskade unglücklicher Zufälle (Tarantino). Oder durch einen Psychopathen (wie in dem Traum vom irren Kutscher bei Proust, der ihm die Fingerspitzen erst abzubeißen versucht und sie schließlich einfach absägt).

Am Morgen dann Sonnenschein, der in grellgrünen Streifen schräg auf dem Rasen lag. Aus tiefem Heilschlaf erwacht, die Wundoberfläche hatte sich wie von allein verschlossen. Das Nachwachsen des Daumennagels, das ein Wahrheit ja ein Absterben bedeutet, wird aber deutlich langsamer vor sich gehen.

12.4.

Zwei Tage energisches Wehen und sämtliche Kirschblütenblätter liegen abgerissen, vom kalten Regen durchweicht und unansehnlich geworden im Gras. Was soll das? Bei Magnolien ist es dasselbe: Wenn die schönen Blüten sich erst entfaltet haben, darf es nie regnen, sonst ist der Zauber nach wenigen Tagen vorüber. Bei den Magnolien sind sogar die großen Knospen schon empfindlich. Sie bekommen von im falschen Winkel auf die Dolde knallenden Regentropfen und auch schon vom zu hart Angewehtwerden in Windeseile Druckstellen, die sich zu hämatomartiger Fäulnis verbreitern. In Köpenick neulich, die junge Magnolie dort, die ich in einem Vorgarten sah, an der ist jetzt alles hin.

Der Kirschbaum hält hier nun wenigstens büschelweise junge Blätter bereit, die, gerade entrollt auf ihrer Oberfläche, schillern zwischen rötlich und grün. Und es gibt noch einen Trost: Die Sonnenuntergänge sind derzeit besonders schön. Gestern beispielsweise, das Tageslicht schien einzig noch durch einen langen Schlitz, der quer über dem Waldsaum sich spannte wie eine goldene Kette, wie ein Faden aus flüssigem Glas, der immer dünner wird und doch niemals reißt; am Himmel zerliefen die in Tusche notierten Wolken.

Und freilich die Vögel. Nun singen sie nicht mehr nur, sie tirillieren. Auch dass es schlimm weht und kaltes Wasser regnet, kann ihnen keinen Einhalt gebieten. Es sind simpel konstruierte Apparaturen, die hüpfen, äugeln und tirillieren. Es geht vor Sonnenvorgang, vier Uhr fünfzig los, wenn in die winzigen Äuglein die ersten Wellen des blauen Spektrums eindringen. Dann sind sie eingeschaltet. Das Vogelfrühlingsprogramm spult sich ab und am Abend, wenn die blauen Wellen wieder überhandnehmen, legt der Amselhahn den lyrischen Gang ein und bringt das lange Lied. Stand ja am Sonntag in der Zeitung im Text von Cordt Riechelmann, dass die Amselmännchen das im Frühling regelrecht üben müssen (nicht im Keller, aber unter Bäumen oder hinterm Busch), bevor sie ihre Arie in gewohnter Qualität zur Aufführung bringen können. Abendliedsänger: für den apparathaft hüpfenden, äugelnden, pickenden Vogel, für Nestbaumaterialspediteure und Nestbaumaterialflechter ein Zweitberuf.

8.4.

Die Wanderung zum babylonischen Bier war sehr lang, sie führte ja bis an den Fluss namens Dahme im Südosten der Stadt. Bis dahin war ich stundenlang unterwegs und dieser Weg führte vor allem an Wohnhäusern entlang. Das ist, selbst nach Einbruch der Dunkelheit, kein besonders abwechslungsreicher Wanderweg. Hier und da sah ich zusammengedrängt ein Pärchen sitzen, die Laptops leuchtend im Schoß jeweils, auf den Stufen vor einem Backshop, der geschlossen hatte (das WLAN bleibt nach Ladenschluss an). Ansonsten nur wenige Menschen, wenn, dann in Autos. Die Stimmung war Industriegebiet.

Im New Yorker hat Bianca Bosker einen Text geschrieben über die geruchliche Verwüstung ihrer Stadt, sie erzählt von einem Teil, den sie zufällig entdeckt hatte, der schon nach gar nichts mehr riecht. Sie zählt die Summen auf, die von der Stadt New York in neue Müllkippen investiert wurden, es sind Hunderte Millionen. Ich weiß gar nicht, wo in Berlin die Müllkippen sind. Die müssen ja auch ganz schön groß sein. Die Müllabfuhr hier funktioniert tadellos. Es liegt nie irgendwo etwas herum. Das war einmal anders. In New York allerdings auch.

Die Dahme ist unspektakulär. Im Dunkeln vor allem nicht von der Spree zu unterscheiden, mit der sie, so wird die Lage Köpenicks auch definiert: hier zusammenfließt. Auch das Gebäude, in dem das babylonische Bier ausgeschenkt werden sollte, sah jetzt nicht einmal so ähnlich aus, wie ich es mir vorgestellt hatte (wie einen Sandberg oder wie einen Tempel). In anderen Städten wäre es eine Bushaltestelle. Erstaunlich aber dann doch, dass darin nicht nur die Gäste Platz fanden, sondern das Bier auch gebraut wurde. Der Braumeister selbst war allerdings nicht da. Aber die Legende, wonach er im diplomatischen Dienst der DDR tätig gewesen sein soll, und im Zuge dessen, während er in Österreich stationiert war, das Handwerk des Bierbrauens erlernt haben soll, diese Geschichte wurde mir auch hier erzählt. Wobei meiner Recherche zufolge es sich um einen Anlagenbauer handelte, der in den siebziger Jahren in einer Patentschrift als Mitinhaber eingetragen wurde (da ging es um Reaktorbau). Und diese Version erschien mir angesichts der vertikal in den engen Gastraum eingebauten Brauapparatur auch sozusagen nahestehender.

Das babylonische Bier hingegen: ganz interessant. Mich erinnerte es an das Weltenburger Barock. Auch ein altes Bier, gewiss, aber gegen das babylonische chancenlos, weil dessen Rezept aus der Keilschrift übersetzt wurde und mindestens 1500 Jahre alt war. Ich fragte mich schon, weshalb ausgerechnet hier, wo Dahme und Spree zusammenfließen, etwa drei Stunden Wanderung von der Innenstadt entfernt in einer ehemaligen Bushaltestelle, ein Bier nach einem aus der Keilschrift übersetzten Rezept ausgeschenkt wurde. Ich war ja auch der einzige, der eigens deswegen angereist war. Die übrigen Gäste waren aus der Nachbarschaft gekommen. Für die war das ganz normal.

6.4.

Aufwachen und vor dem Fenster sind Kirschblüten. »Ich schäme mich nicht.« Es ist Zeit vergangen, seit Bertolt Brecht das gesagt hat und entweder ist die Welt schon ein bisschen besser geworden, oder ich nur ein bisschen egoistischer, aber beides gefiele mir nicht schlecht.

Die Kinder sind auch früh auf, sie hüpfen auf dem Trampolin wie im vergangenen Jahr. Es ist jetzt, als ob es den Winter nie gegeben hätte, eine Apokatastasis der schönen Zeit, auf dem Trampolin ist sie wohl nahe der unbeschwerten. Sie rufen: »Endlich ist der Blumenbaum wieder da!«

Die dicken Hummeln kriechen in die Kirschblüten hinein. Der Landevorgang ist schwierig, diesen im Kontrast zur Kirschblüte schweren, schwarzen Wesen fällt es nicht leicht, an den zarten Kelchen anzudocken. Ich empfinde größten Respekt vor den Leistungen der Natur.

Das Boot liegt noch immer umgedreht unter der Weide, die pudrige Knospen bekommen hat wie Sommersprossen. Noch ist es zu kalt, aber vor etwa einem Jahr habe ich hier in dieses Internet gemeißelt, dass für mich das nächste Jahr erst am Ostersonntag beginnt. Und so wird es sein.

Casa Dentalis (als Name für die Praxis eines Zahnarzts – kleiner haben die es hier nicht. Was kommt als nächstes? Palazzo Vaginae für den Frauenarzt?). Ich kam an dem Gebäude rein zufällig vorbei. Am Ende einer Wanderung, zu der mich die Wirtin des Cafés aufgefordert hatte, das einstmals noch Creamcheese hieß. Ich saß dort drin unter einem der Reliefs von Schinkel und versuchte, auf Empfehlung von Moritz von Uslar, den Text Maxim Billers zu lesen, in dem er einen neuen Level von Excitement erreicht: Es sind jetzt allesamt Antisemiten, die seine Bücher nicht kaufen, oder am Nichtkauf seiner Bücher direkt oder indirekt mitbeteiligt sind. Mir ward gleich die Schuldhaftigkeit meiner Existenz siedendheiß eingefahren, denn auch ich leide als Unbeschnittener noch immer ziemlich nachhaltig an meinem Trauma, das mir Maxim Biller, der Jude, einst in Tutzing beigebracht hat, als er mich vor versammelter Mannschaft als »Sklaven der Industrie«™ bloßgestellt hat wie eine unbeschnittene Eichel am Strand von Haifa zur Mittagszeit.

Ob ich mich ins Fenster setzen könnte, um diesen sinistren Text zu beenden, fragte ich die Wirtin, die ihre Krawatte an diesem Abend in Pralinéetönen ausgesucht hatte.

Sie schaute mich an: »Na gut, Du siehst wenigstens nicht so aus wie die anderen alten Männer in Deinem Alter.«

»Wie sehen die aus?«

»Na, anders. Bedürftig. Die schauen stundenlang aus dem Fenster, ob sie eine Frau anspricht.«

»Lass ich sein, ich versprechs«, woraufhin sie mir empfahl, doch nach Köpenick zu gehen, um mir dort diese Mikrobrauerei zu gönnen, wo es, das behauptete sie tatsächlich, ein Bier gäbe, das nach einem zweitausend Jahre alten Rezept gebraut wird. Es hieße »Babylonisches Bier«. Der Braumeister, ein ehemaliger Diplomat der DDR, hätte sich das aus der Keilschrift übersetzen lassen und verfahre danach.

Ließ sich nicht ignorieren. Ich dachte von da an andauernd nur noch an dies Bier. Und freilich auch an den Braumeister. Fürchtete mich allerdings etwas vor der Wanderung. Denn die Bahnhöfe meide ich in Berlin, so viel und so gut es nur geht. Bei dem Sicherheitspersonal, das die BVG einstellt, brauche ich Sicherheitspersonal, das mich vor dem Sicherheitspersonal in Sicherheit nimmt.

Kurz vor dem Sonnenuntergang ging ich dann aber los.

5.4.

Die ungute Leere, die mancher verspürt und derentwegen er sich auch schämt, weil es ja Frühling wird, soll, glaube ich Felicitas Mogler, in einer seelischen Widerspiegelung der Konstellation am Sternenhimmel im April begründet sein. Sie schreibt, auch wenn ich es ungern zugebe, noch schöner über den Sternenhimmel als Herr Marx in der Frankfurter Allgemeinen. Im April dominiert ein Schwarzes Loch ihren Text: »Zentrales Objekt des Virgohaufens ist eine elliptische Riesengalaxie mit der Bezeichnung Messier 87. Sie lässt sich mit einem guten Feldstecher auffinden, wirkt aber darin recht unscheinbar.« Sie führt dann extrem lehrreich aus, wie und unter welchen Umständen diese unscheinbare Riesengalaxie vor zweihundert Jahren entdeckt wurde, wie über die zweihundert Jahre die Astrologen an der Erforschung des »Nebelfleckchens«, als die ihr Entdecker, ein Franzose, sie bezeichnet hatte, drangeblieben sind, dass sie niemals aufgegeben haben, sie zu beobachten und immer weiter in sie zu gehen, währenddessen die Feldstecher nur langsam immer besser und besser wurden (aber noch lange nicht sind sie schon gut genug). Und so bleibt es bei der Vermutung, auch heute noch, dass im Zentrum dieser Galaxie Messier 87 ein Schwarzes Loch mit einer Masse von 6,6 Milliarden Sonnenmassen rumort. »Im Vergleich dazu besitzt das Schwarze Loch im Zentrum der Milchstrasse nur 4,3 Milliarden Sonnenmassen. Doch während sich das Schwerkraftmonster in unserer Galaxie ruhig verhält, fungiert jenes in M87 als Motor und treibt einen Materiejet an, der mindestens 5000 Lichtjahre in den Raum reicht.«

Ich las das und hatte kurz zuvor noch Besuch von einer Handlungsreisenden in Sachen kosmetischer Fachtexte, die mir von einer neuartigen Hautpflegeserie aus Südkorea berichten musste, deren Wirkstoff in Schneckenschleim besteht. Doch doch, ganz wirklich, sie führte das aus, dass die Südkoreaner mittlerweile auf dem Kosmetikweltmarkt als Innovationstreiber beliebt sind. Das Schönheitsideal der koreanischen Frau ist es angeblich, nicht bloß jugendlich zu erscheinen, sondern kindlich. Also ganz, ganz zarte Haut. Von daher der Schneckenschleim, der den Schnecken auf riesigen Farmen abgewonnen wird, um dann in die Creme – die im Grunde aber nur als Ersatzdroge zu verstehen ist, denn im Land selbst, in Südkorea, setzen die Frauen sich die Schnecken live ins Gesicht. Angeblich soll der Schneckenschleim gut für die Hautzellen sein. Er hält sie zart.

Ich konnte freilich nur schlecht zugeben, dass ich ganz andere Erfahrungen gemacht habe mit dem Schleim meiner Schnecken. Gedacht habe ich an die zersetzende Wirkung des Schleims meiner beiden Lieblinge aber schon. Gut, es war halt Salat. Aber sind die Salatzelle denn wirklich derart krass empfindlicher noch als die Zellen meiner Haut?

Und schon fiel mir der scheußliche Arcimboldo ein. Und über uns allen rumort der Materiejet mit seiner Masse von Milliarden von Sonnen. Tag und Nacht.

4.4.

Stundenlang fuhr der Zug durch die lieblichen Landschaften Hessens. Auf den Wellen des Sees hinter der Kinzigtalsperre glitzerte das Sonnenlicht. Einmal hatte ein Bauer ein sehr großes Stück Erdboden bereits umgepflügt und geeggt, eben und rötlich lag die Fläche da, umgeben von unterschiedlichen Grüntönen. Wenn das jetzt zwei auf sich genommen hätten, zwei ganz in Weiß, mit weißen Hemden zu weißen Shorts, mit weißen Kniestrümpfen in weißen Schuhen, sich mit zwei Schlägern einen Tennisball über dieses ewig breite Feld gegenseitig zuzuspielen, ohne Netz, und ich hätte, daran vorbeifahrend, zufällig aus dem Fenster geguckt. Wie der winzige Ball aufschlägt und wie es dabei staubt.

Über Fulda standen die Wölkchen in Konstellationen. Die Sonne schien, es leuchtete wie eh und je der rot lackierte Netzwerksrettungszug der Deutschen Bahn. Ich sehe ihn oft an, auch gerne, und weiß noch immer nicht, wozu er da sein könnte. Stattdessen las ich in der Zeitung den Aufsatz des Albert von Treuenfels über die Scheidenschnäbel, eine fluffige Art mit papierweißem Gefieder, die, empörenderweise, entweder Scheißvögel genannt werden oder halt Friedenstauben. Dazwischen fanden und finden die Antarktisfahrer wohl keinerlei Maß. Na ja, Seefahrt stelle ich mir sowieso als ziemlichen Albtraum vor. Oder: als nicht enden wollenden Horrortrip. Nichts für mich, auf jeden Fall. Man ist ja immer nass, also ist einem auch immer kalt. Wundgescheuert vermutlich auch deswegen. Oder Hornhäute – auch kein Trost.

In Braunschweig wurde es finster und grau, so ließ Berlin sich ankündigen, das hat Tradition und tatsächlich: Es war dort auch ganze zehn Grad kälter, sogar in der U-Bahn hatten die Leute noch Mützen auf. Oder schon wieder. Hatte ich tatsächlich noch viereinhalb Stunden zuvor noch am Bahnsteig in der Sonne gesessen? Ja, hatte ich. Und nicht bloß vor viereinhalb Stunden, nicht bloß am Bahnhof, sondern überall dort und das tagelang.

Im Dunkeln nach Hause gekommen, ganz unzufrieden mit dem Duft des neuen Waschmittels (Fehlkauf), aber als ich erwachte, war vor dem Fenster alles rosa. Weil jetzt der Kirschbaum blüht.

3.4.

Bei Sonnenaufgang waren am Horizont zwei Blüttenblätter eines riesigen Veilchens stehen geblieben. Die dünnen Ränder vergoldet, wie man das von den Mustern auf Sammeltassen kennt. Der Halbmond war am Himmel erschienen. In der Schneise zwischen den Mietskasernen sprangen die Leuchtbuchstaben eines Schriftzuges an und als es noch dunkler wurde, wurden die Begrenzungsleuchten an den Baukränen hoch droben zu rotem Gestirn.

Vor dem Wasserhäuschen ging es am Rande auch noch einmal um die Lämmergeier, eine Diskussion, die uns einst zusammengeführt hatte, aber gestern dann auch darüber hinaus um die historische Entwicklung in Frankfurt bis hin zu Techno, Väth, dem Ruhm wie Donnerhall und heute eben so gut wie nichts mehr davon übrig – es begann alles, so erzählte Andreas, mit und vor allem in der Music Hall. Erzählt wurde von einer einbetonierten Anlage, mit Lautsprecherboxen, die, wir sprechen von den frühen achtziger Jahren, es fertig bringen konnten, einem den Verstand wegzublasen. Alles, was nach danach kam, alles nach der von ihm als mythisch beschriebenen Music Hall – Mackie Messer, Dorian Gray, Vogue, Omen – war lediglich Thronfolge.

Es sind ja nicht nur Rave-Adelige, die sich dort am Wasserhäuschen einfinden. Sie sind ja auch teilweise mehrfach gescheiterte Gründer. Andreas beispielsweise, der bei unserem Kennenlernen von dem Apfelwein aus dem Geblümten in die Knie gezwungen ward, betreibt bei sich daheim einen 3D-Drucker. Auf meine Frage, was er denn damit druckte, antwortete er mir gern: »Halterungen beispielsweise. Du fragst dich doch oft, weshalb es keine Halterung gibt für das Mauskabel auf dem Schreibtisch – ich entwerfe mir das mittlerweile alles selbst und drucke es aus.«
»Für Zahnbürsten auch?«
»Ja, aber das ist erst der Anfang!«
»Bald werden sie auch ihre Kinder ausdrucken.«
»Das Genom ist schon entschlüsselt. Da kommt noch ganz viel.«

Alexander, der Kleinverleger, von dem ich beim ersten Mal gar nicht mitbekommen hatte, dass er Christoph Amend so ähnlich sieht, stellt mir Karl vor, im ungebügelten T-Shirt, Fleischtunnel durch beide Ohrläppchen, aber dezente, der uns über seine kleine Box, die über Bluetooth mit dem iPhone in seiner Hosentasche verbunden ist, mit dem Gesamtwerk von Edgar Wasser vertraut macht. Es läuft Der Undenker. Alle nicken. Es läuft Deutschsein. Alle nicken: »Beim Döner hat’s funktioniert, beim Döner hört’s auf«.

Matthias, der gerne erzählt, dass er dem Immobilienbüro, das gegenüber einen Container aufgestellt hat, um für die Mietskaserne, die hier im Zuge der sogenannten Flächenintensivierung des Gallusviertels errichtet werden soll, bald schon – die historischen Kleingaragen wurden bereits abgerissen – in die Klimaanlage pinkelt (»von oben hinein, Methode zwei Finger«), bemerkt den Ambulanzwagen als erster. Der Notarzt bremst mehrfach ab, startet dann wieder durch. Der Wagen bewegt sich in Rucken vorwärts, die Straße entlang.

»Navi kaputt.«

Dann wird es still in der Runde. Offenbar ist der, bei dem der Noteinsatz stattfindet, allseits bekannt.

Karl, der Jüngste: »Wir waren zusammen aufgewachsen.«
Alexander: »Hoffentlich kommt er durch.«
Karl gibt Entwarnung: »Ich arbeite als Sani. Wenn die die Blaulichter anlassen nach drei Minuten, lebt er noch. Ansonsten machst du die aus. Wozu noch die Eile?«

2.4.

Wir saßen auf dem Balkon und fragten uns gegenseitig die Hessischvokabeln ab. Der Nachbar telefonierte nicht, weil etwas braute sich auf dem Garagenhof zusammen. Dort unten stand er, deutlich sichtbar, weil er aus Gründen, die auf die Feier des Tages hindeuteten, in einem schwarzen Anzug mit dunklem Hemd aus seidig glänzendem Stoff seine Familie repräsentierte im Kreise einiger anderer Herren. Sie hatten sich um eine Biertischgarnitur herum aufgestellt, deren im charakteristischen Ton lackierte Oberfläche mit den abgezupften Blütenblättern von Geranien bestreut war. An den Garagentüren selbst klebten einige Bündel Luftballons. Der Nachbar telefonierte. Das Ganze machte einen verkrampften Eindruck.

Bis sich die Frauen ihnen hinzugesellten. Sie brachten Bonbonieren und trägerweise Fanta und Cola in Familienflaschen zu anderthalb Litern auf den Tisch. Sie waren allesamt üppig vom Körperbau her. Die Kleider aus Samt und Glitzerstoffen, die wie Kostüme aus einer tschechischen Verfilmung von Schneewittchen anmuten sollten, trugen freilich noch zusätzlich auf. Von den Frisuren her tendierte die Opulenz dann wiederum ins Ostafrikanische, was uns aber einleuchtete, da in unserem Viertel hier nun einmal sämtliche Salons von Äthiopiern betrieben wurden. Das war einfach Fakt.

Dem vielversprechenden Auftakt zum Trotz vergingen dann beinahe zwei Stunden auf eine Weise, die unsere Schaulust auf die Probe stellte. Weder kamen neue Gäste hinzu noch wurde des Buffet nennenswert aufgefüllt. Durch mein Fernrohr hatten wir längst auch sämtliche Einzelheiten studiert, wir kannten jeden Keks, der dort lag. Bloß halt was gesprochen wurde blieb rätselhaft, da hätte uns auch ein Höhrrohr nichts gebracht. Als die Mume aus dem dritten Stock herbeigetragen wurde, wussten wir aber, dass es nun zur Sache gehen würde. Von Beschneidung über Wittwenverbrennung bis Erntedank war alles drin.

Der Autokorso stellte alles in den Schatten, was wir an Autokorso in Erinnerung behalten hatten. Die nicht gerade breite, auch nicht lange Straße war im Nu mit schwarzen Autos gefüllt. Ein bisschen erinnerte uns das an den Vorgang des Wurstens, bloß halt dass die Würste nicht hupen, während man sie füllt. Die Braut entstieg ihrem schwarz glänzenden Gefährt in einem roten Kleid aus Tüll in so vielen Schichten, dass der Umfang ihrer Rocksäume circa fünf Meter maß. Einem Lieferwagen mit Offenbacher Kennzeichen war das auf der Seite in Elektrikerschrift angekündigte Trio entsprungen, allerdings war es dieses Mal nur zu zweit: Umhängetrommel und Klarinette. Ungewohnt eigentümliche Musik von einer fremdartigen Schönheit. Alle tanzten auf der Straße. Bonbons wurden herumgereicht.

Um uns etwas abzuregen und auch, weil das wichtig ist, den Tag auch noch von innen her in den Griff zu bekommen, brachen wir zu einem Spaziergang ins schöne Westend auf. Dort natürlich ins Café Laumer. Eine Oase, mehr gibt es zu diesem vielfach völlig zu recht in den grünen Klee gelobten Traumcafé nicht zu sagen. Wo Adorno wohl immer gesessen hat? Wir trauten uns nicht zu fragen. Auf dem Heimweg kamen wir an einem Grünstreifen zwischen zwei eben erst errichteten Mietskasernen am Rande der Europaallee vorbei, auf dem saßen zwei Hasen. Wir störten sie nicht.

1.4.

Frühling in Frankfurt. Kaum zu glauben, dass es dann im Sommer nur noch schöner hier werden wird. Und Nina Hagen weiß, wer ich bin: »Die Menschen singen, tralala, die neuesten Liebeslieder«.

Der Nachbar nutzt die wärmenden Strahlen der Sonne im Hoch über der Stadt und verlegt sein Homeoffice auf den Balkon. Im Stehen – dabei seitlich vom Stativ der Satellitenantenne gestützt, von vorn bietet ihm die Brüstung des Balkongitters Widerstand – ruft er in sein Telefon hinein in einer Sprache, die Bulgarisch sein könnte. Die den Hinterhof umgebenden Rücken der Häuser verstärken sein Rufen, es schallt in jeden der Winkel und seine Stimme klingt nach den von weither herangewehten Parolen des Anführers einer Demonstration.

Früh hatte ich auf dem Markt an der Konstablerwache alles für diesen Sonnentag Nötige besorgen können. Es findet dort ein veritabler Markt statt, bei dem aus teilweise entlegenen Gebieten des hessischen Umlandes angereiste Bauern ihre kindsfaustgroßen Radieschen tatsächlich feilbieten. Eine Frau, in der Ästhetik des Marktgeschehens kam sie mir natürlich als ein Weiblein vor, lud mich ein, ihren Apfelwein zu probieren, den sie in der edlen Variante eines Rosé verkaufte. In ausgespülten Mineralwasserflaschen, die sie in einer zierlichen Handschrift, wie sie heute kaum noch jemand beherrscht, mit schwarzer Filzstifttinte (Edding 2000?) beschriftet hatte. Der würde, das schien mir nach dem dritten Gerippten von ihrem Stoff auf magische Weise klar, sehr gut zu den Vogelsberger Bratwürsten passen, deren grobes Brät in Rot und Weiß wie schachbrettkariert durch die opaken Därme schimmerte.

Vor dem Café Plank legte ich eine Pause ein, um die Zeitung zu lesen, in deren Lokalteil neben einem albernen Aprilscherz ein Spezialteil enthalten war, der die Vorzüge eines Lebens in Frankfurt am Main referierte. Ich saß auf dem sonnengelben Stuhl, dessen blecherne Sitzschale dekorativ durchlöchert war wie bei allen anderen dort auf dem Bürgersteig auch, aber es war halt der einzige, der sonnengelb lackiert war, und diese Farbe stand in einem appetitanregenden Kontrast zu dem schattigen Umfeld dort vor der hohen Scheibe, die den Innnenraum dieses friedvollen Ortes vom öffentlichen Geschehen draußen scheidet und schied. Gerade hatte ich das Blatt entfaltet, da sprach mich eine Frau an. Ihr Anblick war bedauerlich. Sie litt unter Entzugserscheinungen. Ich gab ihr nichts. Der Kellner, jedenfalls kannte ich ihn in dieser Funktion, hatte eine Skibrille auf und entschuldigte sich von vorneherein für seine Unzuverlässigkeit. Er gab an, die Nacht durchgemacht zu haben, und sei rein zufällig hier an seiner Arbeitsstelle anwesend. Ein Kollege, nüchtern, räumte ihn aus dem Bild und brachte mir Kaffee, sowie etwas erwärmte Milch in einem polierten Kännchen. Ich zündete mir eine Filterzigarette an.

Die Frau war mittlerweile zurückgekehrt und hatte es sich zu meinen Füßen auf der Bordsteinkante bequem gemacht. Zwei dort abgestellte Autos boten ihr Sicht-, vor allem aber auch Windschutz. Nach der üblichen Kramerei entnahm sie ihrem Fanny Pack ein stählernes Pfeifchen, zog sich die Kapuze ihres übergroßen Sweatshirts über den Kopf und nach einigem Geklicke und Geratsche am Feuerzeug stiegen, zu beiden Seiten unter dem Zwergenhut, die Wolken eines dichten Dampfes auf, dessen ungewohnter Duft nach Kokosraspeln in erwärmtem Benzin auf vermutlich Crack hindeutete, vielleicht auch Crystal Meth, vielleicht war es auch einfach Heroin. Jedenfalls schritt sie hernach gefestigten Schrittes auf der Moselstraße einher.

Dem Kellner außer Dienst hatte das Reparaturbier ähnlich gut getan. An der Seite eines neu gefundenen Gefährten betrat er die Szene, sie fühlten sich bereit für weitere Taten. Ein dritter blieb an der Einmündung zur Münchner Straße zurück. Er wirkte unentschlossen, ob er sich den wild Entschlossenen anschließen sollte. Eine Bahnsteigszene. Der Lokomotivführer stieß in die Trillerpfeife, es ging in Richtung Front.

Der mit der Skibrille rief über die Köpfe der Kaffeetrinkenden hinweg freundlich gemeinte Schimpfworte, um dem Hasenfuß Beine zu machen. Der hatte sein Telefon gezückt, um seinen Anblick der davonschwankenden Gestalten für die Nachwelt festzuhalten.

Der mit der Skibrille, ihn fixierend: »Wenn du jetzt einen Snapchat von uns machst, ficke ich dein ganzes Leben!«

31.3.

Okamase, so heißt ein anderes der wohltuenden Worte aus dem Japanischen. Die Bedeutung ist: vertraue dem Anderen. Dahinter steckt ein gastronomisches Konzept, man darf nicht selbst auswählen, sondern isst, was auf den Tisch kommt. Habe ich ausprobiert in einem Lokal, dem Shiori in der Max-Beer-Straße. Da hing an der Decke ein Lampenschirm, der zusammengebunden war aus sämtlichen Blumen, die innerhalb eines Jahres in diesem Restaurant als Tresenschmuck aufgestellt waren. Nun hingen sie da, größtenteils ins Bräunliche und in artverwandt strohhafte Farben verblichen, geschrumpft auch die Kelche. Aber poetisch im Ganzen, auf diese überraschend rustikale Weise, die einem als Langnase einfach nie einfallen will, wenn ich die Augen schließe, um an Japan zu denken (im Vorraum der Toilette lag das Waschbecken voller Steine, Kirschblütenzweige und Moos – das Handwaschwasser sollte darüber rinnen als Bach en miniature.)

Im Speisewagen des ICE nach Frankfurt saß ich dann einer Frau gegenüber, die in einem Buch las, das Kräuter Kompakt hieß. Die Frau selbst sah genau so aus, wie ich mir einen Menschen vorstelle, der sich ein Buch kauft, das Kräuter Kompakt heißt. Also mit ihrem in Indigo gefärbten Blusenkittel und einer Carolin-Emcke-Frisur. Ihr Mann oder Lebensgefährte (im weißen Hemd) hatte sich die Schweinebäckchen mit Kartoffeltalern bestellt, die in der Speisekarte mit der Spitzmarke »raffiniert anders« gekennzeichnet waren. Als der Köbes ihm den Teller vorsetzte, rümpfte seine Begleiterin ihre Nase: jawohl, sie rümpfte. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich zuletzt eines Rümpfens teilhaftig geworden war jenseits eines vermittelten Geschehens in der Literatur, wo freilich noch andauernd und heftig und viel gerümpft wird. Und inständig entstand seine Unterwürfigkeit im Angesicht ihrer Missbilligung seiner Bestellung, eigentlich also hinsichtlich seiner undisziplinierten Ess-Lust, die ihn ja erst in diese in ihren Augen missliche Lage gebracht hatte. Denn im Speisewagen, so die Kräuterforscherin, das war auf der Innenseite ihres Rümpfens zu entziffern für mich: isst man, isst unsereins doch nicht. Ihr »doch« blinkte. Er aß dann doch. Und spielte ihr einen, leider schlecht gemachten, Lachflash vor, meinend: schmeckt ulkig!, bloß um wieder an Ansehen zurückzugewinnen in ihren Augen, die ihn zuvor mit milder Verachtung angezählt hatte.

Na ja. Ich finde den Speisewagen, ich finde sämtliche Speisewagen genial. Eine zutiefst kulturvolle Erfindung (und falls ich jemals etwas anderslautendes verfasst haben sollte, dann tut es mir leid). Wer den Speisewagen an sich, wer die darin servierten Speisen nicht zu würdigen versteht und sie ernsthaft zu kritisieren braucht, der hat, hier nun ein stimmiges Bild: nicht mehr alle Tassen im Schrank. Für einen Kritiker ist das wie Milchkühe schießen. Ich kann mich nämlich noch erinnern an die Zeit vor der Erfindung des Dampfgarautomaten und auch an die Zeit vor der Mikrowelle und sogar noch an die Zeit vor dem ICE. Da gab es Mozarttoast und es flogen in der Kurve auch schon mal die Tassen und Teller aus den Regalen. Im Übrigen waren damals noch die Kellner andauernd besoffen. Und die Köche machten Fehler (es kam zu Verbrennungen, manchmal brannte auch nur der Kittel). Darüber kann man einen Film drehen, wenn man wie Wes Anderson drauf ist. Ist man mehrere Spielfilmlängen lang durch Deutschland unterwegs, oder durch Japan, gibt es keine behaglichere Art des Reisens als den Speisewagen. Egal, was man dabei trinkt oder isst.

Die Landschaft zeigt sich endlich wieder lieblich geschwungen. Die Felder strotzen, es grünt wie in einem einzigen, nur manchmal durch Waldsäume disruptiv unterteilten Kressekästchen. Erste Bienen, sie sind noch rundlich und ihr seidiger Pelz macht sie zu fliegenden Weidekätzchen. Ganz tapsig müssen sie pausieren und sich aufpumpen, dann geht es fleißig weiter. Ich liebe Bienen, meine Hasen der Lüfte. Und die Frage, ob es unser Verhältnis zur zivilen Luftfahrt verändern würde, wenn die Flugzeuge nicht schnurgerade am Himmel vorüberzögen, sondern auf und abschaukelnd, sich in Thermik hineinstürzend, daraus emporjagend wie Vögel. Wenn das ihre Art der Fortbewegung wäre. Also unsere.

30.3.

Kinder wollen mein Haar berühren. Zwar sollte man seinen Friseur niemals wechseln, aber in letzter Zeit war es bei uns spürbar zu Unstimmigkeiten gekommen. Ich hatte den Eindruck, man nimmt mich dort nicht mehr ernst. In einer nicht zuletzt durch Naturphänomene – flirrende Schwärme hellgrüner Tüpfel zwischen den nackten Zweigen, seidig aufgeplusterte Haselkätzchen, Rasenmähergeräusche und meckernde Meisen, berstende Kirschblütenknospen entlang der Hiroshima-Allee –  verstärkten Frühjahrslaune, kehrte ich spontan und ohne telefonische Voranmeldung in jenen unbekannten Salon ein, der mir bei abendlichen Spaziergängen schon einige Male durch seinen großzügigen Behandlungsraum irgendwie aufgefallen war. Auch des Namens wegen, denn der war, wie in dem preiswerten Segment der Branche üblich, doch irgendwie lustig, als Wortspiel auf irgendetwas mit Haaren konzipiert, tat aber nicht direkt weh. »James Blond« klingt noch immer leicht dämlich, auch geht der Versuch, mit der Unterzeile »License to Cut« eine geschlossene Bildwelt herzustellen, nicht vollends auf. (Das Signet zeigt die Silhouette von Roger Moore im Smoking, der anstelle einer Pistole eine Schere in der charakteristisch abgewinkelten Hand hält.) Aber da die Wände der Räumlichkeiten, in denen ausschließlich Herren bedient werden, ausschließlich mit alten Plakaten von L’Oréal dekoriert sind, auf denen Catherine Deneuve für Blondierungsmittel und Haarspray wirbt, ergibt sich alles in allem ein in seiner Uneindeutigkeit neuigierig machendes Gesamtkunstwerk.

Ein Cousin des Besitzers betreibt zudem einen Spätkauf in der benachbarten S-Bahnstation, der sich durch ein ausuferndes Sortiment internationaler Zeitschriften von der im direkten Umfeld zahlreichen Konkurrenz hervorzuheben versucht. Das Sortiment kommt durch den guten alten Probeabotrick zusammen. Natürlich kauft in dieser Gegend auch kein Mensch Zeitschriften, und schon gar nicht im Spätkauf. Weswegen der Cousin seinem als Friseur tätigen Blutsverwandten die unverkauften Exemplare als Lektüre für den Wartebereichstisch abtritt. Ich las in einem Blatt namens Birdie einen Artikel über die heilsame Kraft (innerlich) von japanischen Worten. Beispielsweise Ichi-go, ichi-e (it’s like Yolo but on an interpersonal level). Das erschien mir zunächst nahrhaft, dann auch noch zutreffend für meine spontane Salonwechslungsaktion.

Der Haarschnitt selbst geschah eher zack-zack. Mein neuer Friseur griff sich die Sonderausgabe des Manager Magazins mit der Liste der 500 reichsten Deutschen und bat mich, mit dem Finger auf ein beliebiges Porträtfoto zu tippen. Die freilich klein und niedrig aufgelöst abgedruckt waren, weil die Liste derart umfangreich war. Beziehungsweise, weil es so viele reiche Deutsche gibt. Es wäre also auch das Modell Schickedanz möglich gewesen – oder Klatten. Der Friseur hing mir währenddessen atmend über der Schulter und als er in den Kontaktanzeigen ein Bild des Österreichers Martin Sellner entdeckte, zischte er »Hurensohn« und fing laut an zu lachen. Er verfügte dann, weil längst viele weitere Männer im Wartebereich Platz genommen hatten, dass er mir das Modell Entrepreneur verpassen wird. Wodurch es sich vom Modell Hurensohn im Detail unterscheidet, werde ich hoffentlich nie herausfinden. Es geht, time is money, rasend schnell. Kostenpunkt: 12 Euro. Beim Bezahlen – da Schweine an sich nicht halal sind, stehen für die Trinkgelder goldene Sparkälber auf dem Tresen aufgereiht – kam es auch dort, unter den Angestellten des Salons James Blond, zu klandestinen Schmunzelblicken, aber ich denke doch, ich werde noch einmal hingehen, denn auf zauberhafte Weise nimmt man mich in diesem Laden auf eine andere Weise nicht ernst.

Gespannt bin ich, was Alexander und Herbert, meinen Wasserhäuschenbekanntschaften in Frankfurt, zu meiner Frisur einfallen wird. Wir haben uns ja Ewigkeiten schon nicht mehr gesehen. Gibt sicher ein sogenanntes Großes Hallo. Ich reise dem Frühjahr entgegen als Sonnenscheins einz’ger Sohn.

29.3.

Noch immer warte ich auf Post von Nikola Duric. Die Beschreibung eines slowenischen Mineralwassers mit ballongroßen Blasen will mir nicht aus dem Sinn. Immerhin kam durch eine Postkarte von Friederike mit einem Portrait Anselm Feuerbachs und der Frage, welche Rolle die Zigarette zwischen Feuerbachs Fingern spielt hinsichtlich der Wirkung dieses Gemäldes auf seine Betrachter. Auf Feuerbach selbst natürlich (darüber gibt es keine Aufzeichnungen), aber auch auf uns heutige. Peter Handke hat geschrieben, er strebe danach, in jeder Situation so edel erscheinen zu wollen wie ein Adeliger des 15. Jahrhunderts, der sich die Fingernägel schneidet. So raucht Feuerbach: mit edler Geste. Im Theater letzte Woche ließ Ersan Mondtag seinen Ödipus im vorvorletzten Schlussbild an einer schwarz gekachelten Bushaltestelle an einer E-Zigarette saugen. Der Text war für diese Figur da schon längst gestrichen, sie hatte lediglich noch dazusitzen, ihre sitzende Position beizubehalten und den Dampf auszustoßen, der mich, auch bei den Freunden der E-Zigarette vor alltäglicher Kulisse, an den Trockeneisnebel in einer Diskothek erinnert (wo es ihn wahrscheinlich gar nicht mehr gibt; ich weiß es nicht, war schon ewig nicht mehr in einer Disko). Und dann, während es wieder intensiv nach heiß gemachter Kirschmarmelade duftete, fuhr diese Bushaltestelle mit dem dampfenden Ödipus um die entscheidenden vier Meter auf den Bühnenrand zu, das Publikum sah jetzt zwangsläufig genauer hin, man erkannte die Details der Masken, die den Schauspielern schichtweise aufgeschminkt worden waren. Auch das Innere der Bushaltestelle, und der Türe, die aus der Kabine ins imaginäre Reich der Toten, das sich direkt dort dahinter befand, ließ sich en detail studieren. Die E-Zigarette in Ödipus‘ Hand, auf einer Straße in der Wirklichkeit käme sie mir bloß hässlich vor, wurde zu einem wichtigen Element dieses Bildes geadelt.

Bei dem Frühstück in der Bibliothek des Café Einstein neulich, als ich nach den Austern am Vorabend sehr viele Minisachertorten und kleine Clubsandwiches aß, erzählte Anna Viebrock, dass sie darauf achtet, dass auch die Bauten, die ganz hinten in einem Bühnenbild bleiben, von allen Seiten, also auch an den vom Publikum abgewandten, noch sorgfältig angefertigt und also zum Beispiel auch dort noch lackiert werden, wo man es aus dem Zuschauerraum heraus gar nicht mehr erkennen kann (nicht nur soweit das Auge reicht). Weil sie das für die Schauspieler wichtig findet. Weil die den Bühnenraum im Ganzen bevölkern und ihn als abgeschlossen wahrnehmen müssen. Selbst wenn es keine Drehbühne geben sollte, wird also ein Wasserhäuschen, von dem nur die Fassade mit der Verkaufsluke sichtbar bleibt, auch auf seiner Rückseite, an den Flanken, und in seinem Inneren ausgestattet und bemalt.

28.3.

Zunehmenden Gefallen finde ich an der Idee einer Dringlichkeit. Zwar könnte ich weiterhin Einträge verfassen, in denen manchertags stünde »Nichts ist passiert«, andererseits früge ich mich dann selbst, wozu. Freiheit entfaltet sich in mir, im Gegensatz zur Architektur verhält sich das mit der Ruinenperspektive in der Literatur ja genau umgekehrt: von weither, nach all den Jahren betrachtet, sind stolze Stätten entstanden (damals war’s noch zerschossen und lückenhaft).

Vorbild bleibt Peter Handke, der Meister. Es ist eine lebensverlängernde Maßnahme, denn wenn ich es nicht mache, wächst kein Peter Handke mehr nach. Im wunschlosen Unglück schreibt er in den ersten Sätzen, dass – seine Mutter hatte sich gerade umgebracht – er auch genauso gut auf der Schreibmaschine den immergleichen Buchstaben auf das Papier hauen könnte. Seitdem ich das zum ersten Mal gelesen habe, ist das mein Ideal.

Nach zwei Tagen von n’importe quoi schlief ich sehr lang. Das hatte auch mit einer riesigen Menge von Austern zu tun, die ich in der Paris Bar zur Blutwurst gegessen hatte. Es stimmt wohl: Eine Proteinzufuhr im Übermaß kurz vor dem Zubettgehen sorgt für tiefen Schlaf (vom molekularen, molusken und intermuskulären Geschehen abgesehen, wohl auch aus psychischen Gründen, weil es nämlich köstlich schmeckt).

Schön dann die Sonne. Lino rief mir von Weitem einen Gruß zu über das Feld. Wir hatten uns, das nahm er persönlich, aber zum Glück nicht allzu sehr, schon seit vielen Wochen nicht mehr gesehen. Mir waren nachts die Pilze aus Plastik aufgefallen, die in der Erdoberfläche des Vorgartens steckten. Sie gaben surrende Geräusche von sich, wenn ich im Dunklen an ihnen vorüberging. Nun sah ich sie bei Tageslicht. Die Sonnenwärme entfaltete sich am Himmel über uns beiden. In den Pilzkappen war unter dem Dunst des Morgentaus jeweils der Streifen eines Sonnenkollektors zu sehen. Ab und an kam von ihnen ein Surren.

Lino, listig: »In Deutschland sind die verboten. Ich habe sie von einem Polen gekauft.«

Es handelte sich um maulwurfsvergällende Geräte. Der oder die Maulwürf/e hatte/n ja in den vergangenen Wochen das gesamte Fußbaldfeld im Vorgarten unserer Künstlerkolonie in ein vulkanisches Gebiet verwandelt. Unvergessen war sein übergriffiger Bau direkt vor meiner Wohnungstür, als er dort, unmittelbar vor meinen Schuhspitzen, eines Morgens den Kies auf dem Weg zum Übersprudeln gebracht hatte.

Diese Pilze sandten nun in unregelmäßigen Abständen Terrorgeräusche in die unterirdischen Gänge, die der oder die Maulwurf unter dem Fußballfeld grub/en.

Lino, ganz richtig: »Der Maulwurf steht unter Naturschutz, ich nicht.«

Wir sprachen dann noch über die Lungentransplantation seiner Frau. Der Anruf kam an jenem Abend, als der Orkan gewütet hatte (22. Februar), weshalb der Hubschrauber nicht abheben konnte vom Dach der Charité, und Linos Frau dann letztendlich mit einem Blaulichtttransport in die entfernt gelegene Klinik zum dort eingetroffenen Spenderorgan gefahren werden musste. Mittlerweile geht es ihr gut. Wie Lino zum Abschied anmerkte, wurde die erste Transplantation einer menschlichen Leber von einem Portugiesen durchgeführt, der wohl noch immer am Leben ist. Und da war ihm ein aufs Nationale bezogener Stolz anzumerken wie sonst nur beim Fußballspiel. Lino wies darauf hin, dass eine Herzverpflanzung vergleichsweise easy ist, wohingegen Lunge oder Leber!

Abends ging die Sonne dann erwartungsgemäß spektakulär unter. Ich nahm mir alle Zeit und ging dem großen Bluten auf der Kantstraße entgegen. Als es kühler wurde, wechselte ich die Straßenseite, ich überquerte den breiten Strom und dachte an Julian Casablancas (River of Brakelights).

Schon seltsam, wie ich auflebe, wenn endlich wieder normales Wetter ist. Wie so eine Topfpflanze. Ich liebe die Sonne, ich liebe die Wärme, ich liebe das Licht.

25.3.

Ich saß in der Sonne.

Dann lange nichts.

Wie zum Lohn für all die Wochen, gewirkt aus Dunkelheit und Kälte, gab es gestern den ersten Sonnenuntergang. Er hatte sich am Vorabend schon ankündigen lassen wie eine Diva, »All right, Mr. DeMille, I’m ready for my close-up«, mit diesem gewissen laternenblauen Himmel hinter den Gaslampen, die ja demnächst vollends abgeschafft werden sollen. Bis dahin aber: Großflächig das Sterben der Farben, an einem Zinnteller gespiegelt, davor, in zunehmendem Schwarz, das Brandenburger Tor mit den vier kleinen Pferden. Ich wünschte mir blau leuchtende Displays, es war niemand zu sehen. Der Sonnenuntergang zwischen den Häusern und ich wir waren allein. Im Foyer des Gorki Theaters trifft sich eine eigene Szene. Ich kannte niemanden. Es gibt noch so viele Theater in Berlin. Im Saal des Gorki Theaters roch es nach warm gemachter Kirschmarmelade. Auf der angestrahlten Bühne war, in verbeultem Schwarz, der eiserne Vorhang zu sehen.

Ersan Mondtag, sein Mashup aus Ödipus und Antigone: Ödipus erscheint in der Gestalt von Genesis P-Orridge mit silbriger Pagenkopfperücke in einem magentafarbenen Kleid. Er lässt den Saal über die Dauer der Vorstellung hindurch mit einer Kirschnote beduften, was bei allen im Publikum für milde Gestimmtheit sorgt. Wobei es kurz vor dem langen Schluss dann doch zur Eskalation kommt, als ein Mann aus der dritten Reihe zu lachen anfängt – und nicht rechtzeitig aufhört damit. Jedenfalls nach dem Gefühl eines anderen Mannes, von hinten sehen sich die beiden auch noch ähnlich mit ihren Haarschnitten à la Foucault. Der linke weist den rechts ein paar Sitze weiter Sitzenden zurecht.

Ich habe mich schon länger gefragt, wann es zu einer MDMA-Kultur kommen wird. Donnie Darko ist einfach nur weird, wenn man noch kein Ritalin ausprobiert hat. Man versteht die Zeitdehnung sonst nicht, aber dann. Bei Apokalypse Redux wird das Britzeln des LSD spürbar. Ersan Mondtag: MDMA. Eventuell Ketamin, das ich nicht ausprobiert habe, aber von dem ich von den Usern berichtet bekommen habe: man schaut durch die Schichten der Zeit hindurch wie in ein aufgeschnittenes Croissant. So ist diese Inszenierung von Ersan Mondtag. (Und es duftet nach warmer Kirschmarmelade, ich wollte sie von der Herdplatte ziehen!)

Später dann auf dem Bahnsteig ein Mann von der Aufsicht, der um kurz vor zwei Uhr am Morgen noch die einzelnen Passanten ermahnte, bloß nicht unter freiem Himmel zu rauchen. In der S-Bahn lag auf jedem einzelnen Sitzplatz eine Werbepostkarte von Martin Schulz.

24.3.

Heute früh bei der Zeitungslektüre kurz geglaubt, es gäbe dort die Kolumnenserie »Auf ein Straußenei mit Jakob Strobel y Serra«. War aber zum Glück noch nicht einmal ein Traum.

23.3.

Die Neugierde lässt sich nicht entsichern wie eine Waffe. Ich treffe oft Menschen, die in sich keine Frage spüren. Sie sind fertig mit der Welt. Ich kann mich für alles Mögliche interessieren, begeistern oft auch. Ich lerne gern. Es hört nie auf, hoffentlich.

Mit einem Stift schrieb ich ein paar Gedanken nieder. Es war nicht irgendein Stift, es war der Stift. Ich hatte ihn vom Schreibtisch der Schweizer genommen. Zeitweilig ausgeliehen. Es ist der Stift, mit dem sie ihre Gedanken auf die Ausdrucke von Fotos schreiben, die sie von über den Fußboden im Flur ausgebreiteten Ausdrucken von Fotos gemacht haben. Dieser Vorgang nennt sich Layout.

Ich war früh im Bikinihaus eingetroffen, um mit einer Origamikünstlerin zu sprechen. Ihre Installation hing dort von der Decke des Kaufhauses, das sich laut Eigenwerbung als Concept Mall versteht. Kuratiert selbstredenderweise. Das geht, also das kuratorielle Selbstverständnis der Mieter jeder Verkaufsfläche dort (#ShopInShop), bin ins Detail. Keiner der in den Schaufenstern ausgestellten Gegenstände (Tee, Schal, Lautsprecher, Kaktus) wirkt für den alltäglichen Gebrauch bestimmt. Eine Ansammlung von Museumsshops, ohne ein zugehöriges Museum. Die Ansammlung der Museumsshops ist das Museum.

Hinter dem breiten Fenster im Erdgeschoss ist ein Ausschnitt des direkt angrenzenden Zoos zu sehen. Auf der Fensterbank sind bunte Kissen ausgelegt, hier sitzen schon einige Menschen und betrachten die Tiere, die im Nieselregen auf einem Felsen umherklettern. Ich hatte vergessen, wie abstoßend hässlich Paviane sind.

Plötzlich schrie jemand laut, eine Männerstimme, dann gab es einen Knall. Auf der Galerie war jemand im Laufschritt zu sehen, der in ein Funkgerät sprach. Dann noch jemand. Sie eilten hin und her. Unter den Pavianbeobachtern ging jetzt die Frage um, was dort oben passiert sein könnte. Keiner bewegte sich. Ich fragte mich, ob sich die Scheibe zum Zoo hin einschlagen ließe, um aus dem Gebäude zu fliehen, falls da nun gleich jemand den Gang entlang käme, um alle hier zu erschießen. Von der Fensterbank aus durch den breiten Gang alleine zum Ausgang zu laufen, erschien mir zu gefahrvoll. Die Scheibe einschmeißen – mit was? Mit einem Stuhl aus der Kaffeebar? Mit meinem iPad? Die Glasscheibe selbst wurde undurchdringlich massiv.

Die Männer vom Wachpersonal mit ihren Funkgeräten erschienen dann auch bald im Erdgeschoss, um Entwarnung zu geben: nur ein Obdachloser. Glasscheibe jetzt wieder klar und freundlich wie zuvor. Auf der Fensterbank nickte man sich zu, »das macht Sinn.«

Nach Mittag schaute ich mir im Store des Soho House die neue Kaktusrange an, einige Exemplare sehr schön, aber alle auch sehr groß. Der Trend geht zum Monolithen. Ich traf Niki Pauls, die mir auf ihrem iPhone eine Aufnahme ihres eigenen Kaktus zeigte, den sie sich zuhause hält, und der aber seit kurzem erkrankt wirkt. Von dem, was ich auf dem kristallklaren Bild erkennen konnte, handelt es sich um einen gehirnförmig aus einem Tontopf wuchernden Sukkulenten in einem schönen, dunklen Grün, der regelmäßig abgestaubt wurde und wird. Ich riet ihr, den schwärzlich verfaulenden Ausläufer abzuschneiden, bevor der infizierte Teil ihr noch den gesamten Organismus zerstört. Den Rest der Zeit bis zum Nachmittag verbrachte ich dann mit dem tschechischen Fotomodell Karolína Kurkovà, die zum Spaghettiessen eingeladen hatte. Sie kochte, die Schreibenden durften ihr dabei Fragen stellen. Als ich sie um eine Unterschrift bat, weil die Schweizer die für das Layout benötigten, drehte sie den Stift aller Stifte hin und her in ihrer Hand. Sie zog den Deckel ab, betrachtete die seltsam geformte Filzspitze wieder und wieder, wog ihn dann mit dieser Spitze über dem Zeichenkarton in der Schwebe gehalten in ihrer Hand. Obwohl sie schon seit Ewigkeiten in New York lebt, war an ihrer Fingerstellung noch immer die europäische Herkunft abzulesen. Amerikaner packen ihre Stifte im Pfötchengriff.

»Ich liebe diesen Stift«, sagte Frau Kurkovà. Und betrachtete ihr eigenes Schriftbild. Ich schenkte ihn ihr. Auch weil ich wusste, dass die Schweizer sich diese Stifte in rauen Massen mitbringen für ihren Eigenbedarf. Das sagte ich ihr freilich nicht. Sie wirkte sehr glücklich und reichte den Stift weiter an ihren Assistenten.

Als ich in die Redaktion zurückkam, waren die Schweizer unter anderem damit beschäftigt, einen gigantischen Barren Toblerone mit einem Messer zu zerstückeln. Die Schokolade wiegt viereinhalb Kilo und wird in einem über einen Meter langen Pappkarton verkauft, der sogar einen Tragegriff hat an der Oberseite, aber ansonsten so golden und, ebenfalls tobleronetypisch, dreikantig geformt ist. Sie lachten. Sie freuten sich über dieses groteske Souvenir aus der Schweiz, das sie am Flughafen Kloten in Zürich vor ihrer Abreise nach Deutschland entdeckt hatten. Ich dachte an den Stift. Ob sie wohl jemals wirklich damit schreiben wird?

Heute früh dann zum ersten Mal wieder das Eichhörnchen gesehen.

22.3.

Neulich las ich in einem Gespräch mit Pamela Rosenkranz, dass Menschen die Farbe Blau deshalb so schön finden, schöner als andere Farben, weil sie evolutionsbiologisch auf eine angenehme Wahrnehmung dieser Lichtwellen programmiert sind. Das leuchtete mir sozusagen ein, wenngleich ich mich frage, weshalb es dann im Altgriechischen kein Wort für Blau gibt. Gerade da, im alten Griechenland, war doch von Natur aus extrem viel blau. Möglicherweise, aber unwahrscheinlich bleibt es, war für diese Generationen die Allgegenwart von Himmel und Meer selbstverständlich, beziehungsweise war das Wetter beinahe immer gleichbleibend gut, sodass sie nur bei Gewitter und Nacht die Farbveränderung beschreiben mussten oder wollten. Kleider in dieser Farbe gab es dann halt einfach nicht, oder sie waren himmlisch oder meerhaft gefärbt (so wie im Deutschen von etwas behauptet wird, es sei orange.)

Draußen, unter blauem Himmel, saß ich auf dem Walter-Benjamin-Platz und aß eine Matjesmuschel. Das hatte ich mir jetzt schon wochenlang vorgenommen, seit ich im Schaufenster der Lehrbäckerei dort die Schiefertafel auf einer winzigen Staffelei entdeckt hatte. Darauf stand, in einer den Kreidestrich nachahmenden weißen Tinte: „Neu! Matjesmuschel“, sowie der Preis. Es gibt viel zu selten Innovationen auf dem Sektor belegter Brötchen. Vor zwei Jahren führte die Bäckereienkette Steinecke den Brögel ein, einen Hybrid aus Brötchen und Bagel, der mit Amaranth bestreut serviert wurde. Aber belegt wurde der dann wenig innovativ, aber immerhin war es ein Brötchen mit Loch und das gab es zuvor halt noch nicht. Die Matjesmuschel wiederum ist ein vergleichsweise von Grund auf neu gedachtes belegtes Brötchen. Schon das im Namen angekündigte Brötchen gibt es solo nicht. Es ist tatsächlich geformt wie eine Muschel, wie man sie vom Markenzeichen der Tankstellenkette Shell erinnert (oder, wenn man älter ist, aus dem Eiscafé, als dort in den Eiscafés noch geraucht werden durfte und auf den Marmortischplatten waren die Schalen von Jakobsmuscheln aufgestellt, als Aschenbecher, weil das Aschen in die Schalen von Jakobsmuscheln als etwas typisch Italienisches galt). Diese gebackene Muschel aus Teig wird quer aufgeschnitten, sodass ein typisch muschelhaftes Aufklappen der beiden Hälften möglich ist. Dieses Muschelmaul, aus der Sesamstraße erinnert man das Klappern des niedlichen Muschelchorgesangs, wird dann, eventuell vom Erfinder der Matjesmuschel selbst, mit zwei Filets vom Matjeshering gestopft. Darauf liegen, sorgsam zum Symbol der Olympischen Spiele arrangiert, in feine Ringe geschnittene Zwiebeln. Keine Butter. Was ich begrüße. Dafür aber leider Salat. Eine Unsitte, was soll das? Es ist reine Augenwischerei, dass aus jedem, wirklich jedem, sogar aus Wurstbrötchen oder solchen mit einer Scheibe Käse, wo es nun wirklich kein Salatblatt mehr braucht, um den Wohlgeschmack noch zu heben, trotzdem noch eines heraushängt (oder, noch schlimmer: kräuselt, denn mittlerweile scheint der sogenannte Lollo Bionda den Eisbergsalat und auch Rucola aus der Poleposition im Salatpflanzengame und so weiter und so fort). Ich zupfte das Grün aus der Muschel und warf es in einen Aschenbecher aus Kruppstahl, den Hans Kollhoff, wie alles auf und an und um den Walter-Benjamin-Platz herum für die Ewigkeit entworfen hatte. Aber leider, das würde ich ihm selbst natürlich niemals sagen, altert sein Walter-Benjamin-Platz wirklich schlecht. Mittlerweile wirkt sein innerstädtisches Gepräge auf mich wie die Stalinallee, früher. Bloß halt noch dazu viel zu niedrig, eng und kurz. Mit einem Wort: missraten. Aber gut, das Grundstück war halt auch von seinem Schnitt her viel zu schmal und kurz für Hans Kollhoffs Visionen von einem innerstädtischen Quartier. Von daher trifft den Architekten nur eine geringe Schuld. Die Leute nehmen den Platz auch noch immer nicht gut an. Ich war dort der einzige, der auf der neorational gestalteten Piazza in der Sonne saß. Mit meiner Matjesmuschel. Dann kamen die weißen Wolken zurück.

21.3.

Ariane, die im kleinen Café gegenüber an der Kaffeemaschine steht, wird morgen schon dort gestanden haben, heute ist ihr letzter Tag. Sie kam wenige Tage nachdem ich selbst hierher gezogen war, das Jahr ging alles andere als schnell vorüber, Ariane sagt, sie ziehe zurück nach Genf. An den anderen See, der größer sein muss als der hier, ich kann mich nicht mehr an ihn erinnern, aber sie will dort in ein Unternehmen einsteigen, das Fahrten mit einem Katamaran über den Genfer See vermittelt (wenn ein Katamaran auf dem Wannsee in Schwung käme, prallte er nach fünf Minuten gegen das Spandauer Bürgermeisteramt).

Arianes Vater ist Architekt, er konstruiert Labyrinthe. Für Freizeitparks und Privatparks und wo man halt sonst noch ein Labyrinth braucht. Dass sie Ariane heißt, ist als Beispiel für seinen speziellen Humor zu verstehen. Sagt sie. Außerdem ist sie ein Kind des europäischen Space Age (gibts ältere Russen, die Sputnik heißen, oder Amerikaner namens Apollo?)

Dass die Tochter dieses Mannes seit Jahren in der Gastronomie arbeitet und nun in ein Binnensee-Startup wechseln will: Heißt das was, dynastisch gesprochen, oder ist das egal? Müsste sie nicht eigentlich Künstlerin werden wollen oder schon eine sein? Bei mir blähten sich gleich wieder die Wunschsegel auf, kurz dachte ich: Ob man als Segelbootverleiher zum glücklichen Menschen werden könnte, weil man dann abends noch genug Zeit hätte und Kraft, um Literatur zu lesen und für eine niedrigschwellig angelegte literarische Produktion?

Hat man dann aber nicht. Eventuell ging das noch mit einer kleinen Professur, in deren Rahmen man so ein- bis dreimal die Woche eine minimale Vorlesung hält, dann noch ein Sprechstündchen, und ab und an mal einen dünnen Stapel Hausarbeiten korrigiert. Geht aber auch nicht mehr. Ist auch vorbei, die schöne Zeit. Und wo man noch genug an Zeit finden könnte, bekommt man einfach nicht mehr genug Geld. Seit auch in Bereichen, die dem Verdacht künstlerischer Tätigkeit bislang unverdächtig geblieben waren, Journalismus zum Beispiel, nur noch Honorare gezahlt werden, die allenfalls superspartanische Lebensführung ermöglichen, gibt es dort die Vorstellung, man mache eben etwas Künstlerisches, zumindestens Kreatives und in diesem Mischbereich von Kreativarbeit, Kunst und Bohème sei das halt so. Weil es ja schon immer so war. Früher mussten die Künstler noch ins Schwefelbergwerk, um das Geld für die Farben und Leinwände zu verdienen (oder für die Farbbänder ihrer Schreibmaschinen, Papier, Marmorblöcke et cetera), das immerhin muss nicht mehr sein. Also dass man die Waren einräumt im russischen Supermarkt, um sich die Arbeit als Schreiber für die Website einer Zeitung noch leisten zu können.

Am Freitag sprach ich in der Paris Bar mit zwei Schreiberinnen aus der Schweiz, die sich für ein Praktikum interessiert haben. Allerdings erzählten sie auch, dass ein Praktikum in der Schweiz mit 2000, auch 3000 Franken bezahlt würde. Dass dies hierzulande einer Forderung in Fantastilliarden entspräche, fanden sie erstaunlich. Einsehen wollten sie es nicht.

18.3.

Die Isoliermatte liegt stramm zusammengerollt zwischen den Gleisen. Zeltlager, Habsel eines Obdachlosen, Yoga – alle drei Lesarten sind möglich. Und eine vierte, persönliche: das frische Grün des Schaumstoffs auf dem nassen Holz der Bahnschwelle orchestriert meinen Weltschmerz. Anne Clarke, so steht es auf ihrer Website, geht es gut. Mir nicht.

Ich leide am Wetter, an der Blattlosigkeit der Zweige, den schwarzen Stämmen, der ganzen Tristesse der Natur, wohin ich auch schaue. Ich leide am großen Zusammenhang, an seiner Größe vor allem, im Grunde. Alles ausgelöst, so meine ich, durch einen einzigen Satz, vermutlich waren es noch zwei, die ich selbst ausgesprochen hatte in kleiner Runde. Es ging um die Zukunft, um Träume, meine, und ich denke nun, ich hätte es für mich behalten sollen, aber sobald etwas, selbst Träume und Hoffnungen, ausgesprochen wurden, sind sie unwiderruflich in der Welt, und es wird wahr.

Nichts, das mich noch trösten könnte. Auch nicht der bezaubernde Satz, den Lars Weisbrod bei Walter Kempowski ausgegraben hatte, in dem letzter Vanillepudding isst. Himbeersauce gibt es dazu nicht. In der Folge dann fragt er (Kempowski in seinem Tagebuch): Warum eigentlich nicht?

Ja, warum eigentlich nicht. Ein Telefon spielt Total Eclipse of the Heart von Bonnie Tyler, mir fällt die Interpretation von Yuridia ein, die ich in Mexiko zu ersten Mal gehört habe. Die hat dem Original noch etwas Entscheidendes hinzuzufügen, aber besser macht das meinen Weltschmerz auch nicht hinsichtlich einer Linderung.

Gestern nachmittag wurde in Bonn das Bonner Zentrum gesprengt, es ging ganz schnell. Am Westkreuz steht ein ganz ähnlich geformtes Haus mit vielen Etagen, das wird nun schon seit über einem halben Jahr ausgehölt, Etage für Etage, inzwischen ist es ein betoniertes Skelett. Als die Fassade noch dran war, im letzten Sommer, stand dort in sechs Meter hohen Buchstaben »Gönn dir hart«. Ich habe mich immer gefragt, ob die sich vom Dach herunter abgeseilt hatten, um die Buchstaben aufzusprühen an das damals schon leerstehende Haus. Jetzt frage ich mich, ob die ganze Dekonstruktionsarbeit bloß die Vorbereitung sein wird für die Sprengung, oder ob es dann in diesem Sommer von unten nach oben hin wieder aufgebaut werden wird, entlang seines Knochengerüstes. Wenn das dann immer so weiterginge. Vergleichbar mit den Jahreszeiten. Fassade runter, Fassade rauf, dazwischen nackt.

Dann öffnen sich die Türen der Bahn, der Flöter kommt herein und spielt eine Melodie der Renaissance. Die Querflöte ist wunderbares Instrument. Die Töne steigen aus auf ihr wie Blasen eines bunten Fisches, der vor einer Wiese aus Seeanemonen sich in der Schwebe hält wie ein Kolibri. Als das Lied zu Ende ist, gibt ihm niemand auch nur ein Stück Geld. Der mir gegenüber Sitzende trägt um seine Lippen herum einen Bart aus gelblichen Stoppeln, zu einer Linie so schmal wie Dentalbürstchen rasiert.

17.3.

Der Tagesspiegel hatte einen Text von Ulf Erdmann Ziegler auf zwei ganzen Seiten. Er hat ihn nach seiner Berliner Zeit in Frankfurt geschrieben und erinnert sich darin an die Pariser Straße, in der er viele Jahre gelebt hatte. Das liest sich genau so, wie ich es in der Zusammenfassung beschreibe, ohne besonderen Anlass, warum denn auch nicht. Es war sogar so, dass dort in diesem Text ein freies Durchatmen möglich war. Die Doppelseite selbst war innerhalb der Zeitung zu einem Platz geworden, um den es drumherum rauschte und geschäftig zuging, nur der Schreiber saß davon ungestört da, in seiner Wohnung oben, schaute durchs Fenster auf den Platz und seine Straße und dachte und schrieb. Die Schreibtischsituation wurde auch beschrieben, sodass ich mir das alles gut vorstellen konnte. Dazu gab es eine Fotografie von Ulf Erdmann Ziegler, die eine Straßenlaterne aus jener Zeit vor einem sommerlich blauen Nachthimmel zeigte, die der Doppelseite noch zusätzlich eine Atmosphäre der Gemütlichkeit brachte. Verstärkt auch noch durch den stürmischen Wind draußen, der auf dem Wasser richtigen Wellengang mit Schaumkronen erzeugt hatte. Gebeugte Menschen stemmten sich gegen die unsichtbare Macht und immer wieder fielen vor dem kleinen Café die Eimer mit den Bambussträuchern um. Nach ein paar Malen gab man es auf, ließ sie dort liegen und sie wälzten sich hin und her, mit raschelndem Geräusch. Und mir fiel wieder einmal ein, dass beinahe alle Straßen, in denen ich bis heute jemals gewohnt hatte, eigenartig kurz gewesen waren. Also nicht bloß Stichstraßen, manchmal war es auch nur ein Abschnitt gewesen und nach einer Wegkreuzung verlief die Straße dann unter einem anderen Namen weiter. Ausgesucht hatte ich mir das nicht. Meine erste Straße, die Adresse weiß ich noch heute auswendig, die Telefonnummer auch, war schlaufenförmig gebogen, von oben betrachtet, was man damals als hufeisenförmig beschrieben hat.

Angesteckt oder -regt von Ulf Erdmann Zieglers Straßenerzählung, hörte bei mir das Erinnern an meine Straßen nicht mehr auf. Mir fielen immer wieder neue Details ein, beispielsweise, dass ich einmal sogar in einem Haus gewohnt hatte, das zwischen zwei Straßen, die eine kurz, die andere megalang, gebaut worden war, sodass ich mir immer aussuchen konnte, ob ich den Eingang von der einen her, oder von der anderen, ob ich die eine Tür aufschließen wollte, oder die andere. Nur in Ausnahmesituationen hatte ich dieses Haus von der langen Straße her betreten.

Mittlerweile war es schon wieder dunkel geworden und ich ging eine Straße, die durch den Grunewald führte, hinab. Der Wind hatte sich verzogen, der Bürgersteig war bedeckt mit den Spitzen von Kiefernzweigen, weil diese Straße an beiden Seiten von Kiefern bestanden ist. Der Wind hatte die mit langen weichen Nadeln behängten Zweigspitzen abgezwickt und zu Boden geschleudert. Mich erinnerten die halt leider noch einmal, bestimmt auch noch nicht das letzte Mal an die peinliche Begegnung von Max Goldt und Dennis Scheck, wo er, Goldt, von Scheck auf seine peinliche Wortschöpfung angesprochen wurde, die ich so gerne vergessen würde, weil ich sie nicht nur nicht schön finde, sondern aufdringlich. Schon von ihrem Bedeutungszusammenhang her, aber dann noch einmal auch von ihrem Klang. Besonders schlimm klingt sie in dieser Szene: Max Goldt hält ein Glas mit einer farblosen Flüssigkeit, eventuell ist es Alkohol, in der Hand und hört leicht genervt zu, was jetzt kommt, wenn Dennis Scheck Klofußumpuschelung ausspricht. Und dabei findet Dennis Scheck selbst es natürlich extrem lustig, sein Gesichtsausdruck könnte als süffisant beschrieben werden oder mokant. Daraufhin dann Max Goldt, der sich seriös zu seiner Wortschöpfung äußert, die Funktion kurz erläutert, Stellung bezieht und sie dann einordnet in die Werkgeschichte, ihr dort einen Platz zuweist. Ich musste mich regelrecht auf Ulf Erdmann Ziegler besinnen, um wieder frei durchatmen zu können.

Noch vor dem Morgengrauen, kein einziges Auto mehr auf den Straßen, flogen aus den vom Nachthimmel unsichtbar gemachten Baumkronen die Vogelklänge hin und her.

16.3.

Nikola Duric schickt eine Nachricht aus Kroatien: Das Mineralwasser, auf dessen Name er einst nicht gekommen war, heißt Radenska. Es stammt aus Slowenien und die Blasen darin sind wohl tatsächlich, wie er es mir damals beschrieben hatte, »ballongroß«. An dem Nachmittag hatte es zum ersten Mal ein paar Stunden Tageslicht gegeben, wir saßen vor dem Café in der Sonne und in der Zeitung war ein hübsches Bild von winzigen Röhren, die auf dem Meeresgrund entdeckt worden waren. Die Röhren, die durch ein Unterwassermikroskop aufgenommen (und wahrscheinlich auch entdeckt) worden waren, hatten sich anscheinend aus einem eisenhaltigen Mineral gebildet. Auf der rotgrundigen Abbildung war deutlich zu erkennen gewesen, wie es aus den Mündungen nur so herausperlte. In der Bildunterschrift wurde die Vermutung der Wissenschaftler zitiert, dass es sich bei der unterseeischen Mineralquelle um den Ursprung des Lebens an sich handeln könnte (der demzufolge im doppelten Sinne ein sprudelnder war).

Ich hatte Nikola, seine Abreise nach Kroatien stand da kurz bevor, von meinem Lehrgang bei Meister Majica erzählt, der mir das Rezept seiner Familie für Ćevapčići gelehrt hatte. Die geheime Zutat bestand in einem Schub Mineralwasser im Fleischteig, der tatsächlich eine Verfeinerung in dessen Konsistenz ergab. Duric bestätigte das, aber irgendwie schien es ihm auch egal zu sein. Das neue Buch von Zaza Burchuladze hatte er auch noch nicht gelesen. Der war zwar Georgier, aber es ging darin nach einigen etwas ratlos machenden Seiten, auf denen er sich mit Berlin an sich beschäftigt, um die Ursprünge von Tiflis, der Stadt in Georgien, die um eine Mineralwasserquelle errichtet worden war. So auch die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba, die bei den unterdrückten Oromo im Land noch immer Finnfine heißt, was »Heiße Quelle« bedeutet, während das von den Unterdrückern verwendete Addis Abeba aus dem Amharischen übersetzt »Neue Blüte« heißt. Interessant, wie die beiden um Deutungshoheit fechtenden Namen der Hauptstadt übereinandergelegt ein schillerndes Emblem für das Leben an sich ergeben. Im Garten des Hilton dort, aber das nur am Rande, gibt es einen Swimming Pool in Form eines Christenkreuzes, der sich wie von selbst mit dem warmen Wasser aus dieser unerschöpflichen Mineralwasserquelle füllt. Sie gibt, Tiflis bedeutet übrigens auch etwas ähnliches wie Finnfine, ein etwa 40 Grad heißes Wasser von sich, reicht also, thermisch gesprochen, in tiefere Schichten der Erdkruste hinab (beziehungsweise entspringt sie dort).

»Das kroatische Jamnica sei auch nicht schlecht«, schreibt Nikola. Und ich erinnere mich an Michael Hoffmann, den genialen Koch und dabei zwangsläufig auch an Ingo Sperling, seinen Maître d’, der tatsächlich ein lustiger Vogel war. In Hoffmanns Restaurant am Pariser Platz gab es ein Gelee aus Badoit, meinem liebsten Mineralwasser. Herr Hoffmann hatte eine Methode entwickelt, das Mineralwasser gelieren zu lassen, sodass die Blasen darin, die nicht ballongroß waren, aber ideal fühlbar, im neuen Aggregatzustand des Badoit erhalten blieben. Es war so eine Art Luftschokolade, bloß halt elastisch und mit Mineralwassergeschmack.

15.3.

Abschied von den Schweizern. Zuletzt waren sie schon etwas ungehalten wegen der Zustände am Berliner Flughafen – Streik, das mögen sie nicht gern. Ohne »so«. Es fielen wenige, dafür harsche Worte. Unter anderem war die Rede von der Dritten Welt. Als ich abends mit Ijoma im Café Savigny saß, schwärmten wir von Martin Walser. Um zu Martin Walser zu gelangen, muss der Flughafen in Friedrichshafen angeflogen werden, der natürlich ganz klein ist, ungefähr so klein wie der von Jerez de la Frontera oder der von Dire Dawa, aber mit einem weniger schönen Schriftzug über dem Terminalgebäude (der in Jerez de la Frontera ist in einer serifenlosen Type plastisch, aus Beton geformt; in Dire Dawa sind sie entweder zu arm für Schriftzüge, oder die Buchstaben wurden aufgegessen), und ohne Palmen entlang des Rollfeldes (in Dire Dawa gibt es nicht einmal Palmen, bloß Sand. Und Staub). Oder man macht es halt so, wie damals Frank Schirrmacher, der auf den Autorentagen des Theaters in Hannover vorschlug: »Kommt, wir fahren jetzt noch zu Walser«, weil draußen stand seine Limousine mit Fahrer bei laufendem Motor. Was dann aber aus irgendeinem Grund doch nicht mehr stattgefunden hat, diese nächtliche Autobahnfahrt hinunter aus Niedersachsen zu Martin Walser. Obwohl es bestimmt schön geworden wäre, beim Sonnenaufgang über dem Bodensee dort an seiner Haustür zu klingeln. Und die Wasservögel machten Quack und Kräh.

Na ja, beim Verlassen des Cafés fragte ich die Besitzerin, die rein zufällig anwesend war, was mich schon seit zwanzig Jahren interessiert, denn so lange kenne ich ihr Café schon und so lange zeigt es sich mir auch in unveränderter Form, woher diese beiden Reliefs, die dort über den Mauerbögen in die Wand eingelassen zu sehen sind, eigentlich herstammten. Dargestellt sind antike Szenen, sie wirken höfisch auf mich. Einer sitzenden Dame wird mit der Flüssigkeit aus einer Amphore der Fuß gewaschen, vielleicht auch gesalbt, man kann es nicht erkennen, denn die Reliefs sind einfarbig, beziehungsweise wurden sie mit der Wandfarbe, die weiß ist, übertüncht.

Die Besitzerin trug, wie immer, wenn sie zufällig anwesend ist, eine lose gebundene Krawatte, gemustert im Stile des Buchumschlages von Takis Würger. Die Reliefs waren von Schinkel. Ob ich denn nicht wüsste, dass das Café Savigny einst als das Creamcheese bekannt geworden war? Wusste ich nicht, denn das war nun mal ausnahmsweise vor meiner Zeit. In den späten siebziger Jahren also, so die Besitzerin, war das Creamcheese zwar auch schon eine Art Café in diesen Räumen, in denen sich aktuell das Savigny befindet, aber es war vor allem dafür bekannt, das man dort in Ruhe einen durchziehen konnte – Kiffen war dort nicht nur toleriert, der Stoff, der bekanntlich high macht, wurde dort unter dem Tresen gehortet. Zum Zwecke des Verkaufs. Entweder, so konnte sich die Besitzerin erinnern, in Form vorgedrehter Tüten, oder zum Selbstbau als damals sogenanntes piece. Wobei, sie war selbst Stammgast in Creamcheese, konnte sich von daher lebhaft erinnern, als Parole »Prise« ausgegeben war. Wer nach einer Prise fragte, wurde mit Haschisch bedient. Es war damals, so sagte die Besitzerin des Savigny, sehr sehr still im Creamcheese. Weil an den Tischen ein jeder im Haschischrausch vor sich hin dümpelte. Gesprochen wurde nur wenig, Musik gab es keine. Und die Wände, so waren wir ja eigentlich darauf gekommen, waren leuchtend Aralfarben angestrichen gewesen. Schinkels Reliefs mit Goldlack übermalt. Es muss also ungefähr so ausgesehen haben wie in dem Haus von Hubert Burda am Münchner Siegestor, seiner Junggesellenbude, wo auf den Aralfarben lackierten Wänden unter anderem ein schöner Böcklin hängt. Die Besitzerin des Café Savigny hat sich dann, als sie das Creamcheese übernehmen konnte, für eine Totalübermalung in Weiß entschieden (frei nach Wilkie Collins). Die siebziger Jahre waren vorbei.

14.3.

Das Geräusch der Tulpenstengel. Innerhalb des Fleurop-Kartons ist der Bund mit einer Schlaufe arretiert. Ein gewachstes Papier, weiß, umgibt in einer eng anliegenden Schicht den Bund, sodass ein konisches Paket entstanden ist, an dessen Basis die Blütenfarben nur vage durch die Papierschicht schimmern. Es sind verschiedene. Zusätzlich werden die Enden der Stengel mit einem Säckchen aus neuartigem Material geschützt, es ist ein gepolstertes Gewebe, das mich an die Versandtüten erinnert, die als besonders reißfest angepriesen werden (als ob es darauf beim Versenden ankäme!), und deren besonders leichtes Papier aus perlmutthaft glänzenden Spänen gemacht scheint. Das Stengelsäckchen erinnert mich zudem an das Apfel Cosy (im letzten Frühjahr), das mir mit dem genmanipulierten Apfel zusammen verkauft worden war. Aber nur von seiner Form her. Das Apfel Cosy war aus synthetischer Wolle gestrickt. Eine Vase liegt auch bei (im Fleuropkarton), sie besteht aus zwei Papptafeln, die mit einem Tiermotiv (Vogel) bedruckt sind, zwischen denen sich eine schwarze Folie zu einem Behälter aufspannen läßt.

Das Geräusch der Tulpenstengel, während ich sie in der transportablen Vase zurechtstecke. Es dauert zwei Stunden, bis sie sich von den Strapazen des Verschicktwerdenseins erholt haben. Als letzte erhebt eine weiße Blume ihren großen Kopf. Am Abend muss ich bereits Wasser nachfüllen. Am Morgen werde ich es wieder tun. Dass die in der Vase noch weiterwachsen wie die Fingernägel von Toten.

12.3.

Das Leben eines Mensches in Ketchup gemalt mit den Enden kalter Fritten: Es ist 2.30 Uhr, als ich verschwitzt aus einem Traum erwache, in dem mir diese Idee eines Ketchup-Sgraffito als genial präsentiert wurde. Im Dunkeln liegend fällt mir bald der eine von den Schweizern ein, den ich am Sonntagnachmittag in der Küche traf, wo er im Stehen, aber konzentriert ein Stück Erdbeerkuchen aß. Im Hintergrund lief der Farbdrucker. Er läuft nicht rund um die Uhr, aber so um die zwölf Stunden. Der Schweizer erklärte mir, dass er fünfzig Entscheidungen zu treffen habe am Tag. Könnte hinkommen. Ich schaute ganz bestimmt viel zu aufdringlich hin, aber ich hatte den Schweizer noch nie zuvor ein Stück Kuchen essend gesehen. Ich frage mich auch, ob sie das eigentlich komisch finden, wenn ihre deutschen Kolleginnen am Morgen Haferflocken und ähnliches mit Apfelstücken und Weintrauben löffeln. Die Schweizer kommen ja nicht mit dem Frühstück in die Redaktion. Einer von ihnen hat mir erzählt, dass sie sich in einem kleinen Lokal ganz oben am Kurfürstendamm treffen, um Milchkaffee zu trinken. Was sie dazu essen, habe ich ihn nicht gefragt. Müsli jedenfalls ist doch eine der wenigen original Schweizer Erfindungen. Es gibt ein gutes Buch zu dem Thema Die Moral auf dem Teller, über Maximilian Bircher und John Harvey Kellogg, die etwa zur gleichen Zeit ihre Frühstückslehren verbreiteten. Ich stelle mir vor, dass ich vielleicht in Indien arbeiten müsste, und meine Kollegen kämen morgens herein und alle packten ihre Thüringer Bratwürste aus. Alle außer ich.

Der Sonnenuntergang kam mir auch wie ausgeschnitten und aus Farbkopien zusammengeklebt vor. Orange vor grau und weiß.

10.3.

Ich war etwas wund, gedanklich, von der Arbeit an einem think piece zu Blorange, einem zwischen Blond und Orange rangierenden Farbton für Haare, der in den Sommermonaten das Straßenbild bereichern wird. In den Forumsbeiträgen auf Kleiderkreisel und GoFeminin wurden die schiefgegangenen Heimfärbeversuche bereits intensiv diskutiert. Als das vielfach beschriebene – vieles auch wieder durchgestrichen vor allem – Blatt, das ich nun war, wurde ich am oberen Ende der Kantstraße in einen schmalen Imbiss geweht, in dem es sehr voll war (und warm). Als Schreibender fühle ich mich oft wie ein Kaffeefilter: Es muss alles in mich hinein und durch mich hindurch und dabei kommt in Schwarz der Text heraus.

Beim Studium des Angebots, das auf einer hinterleuchteten Fläche über der Dunstabzugshaube montiert war, entdeckte ich mich selbst, mein Gesicht auf einer dort zu Werbezwecken aufgedruckten Seite aus der BZ aus dem Jahr 1999, als ich über den Betreiber dieses Imbisses geschrieben hatte. Mittlerweile nannte sich sein Laden Superhahn, vor 18 Jahren noch Mustafas Gemüsekebab. Damals auch noch am Breitscheidplatz, wo er dann irgendwann durch diverse Neubauten verdrängt worden war. Der Kebab, ich beschrieb das damals recht ausführlich, wie es mir dann beim Wiederlesen meiner eigenen Zeilen auffiel, schmeckte noch immer ganz ausgezeichnet. Verändert hatte sich aber, dass auf dem Tresen mittlerweile zwei Gefäße mit Chilipulvermischungen, Biber im Türkischen, aufgestellt waren, deren Schärfegrade auf daran geklebten Heftpflastern handschriftlich notiert waren: »Rambo« entzifferte ich auf dem einen, auf dem anderen stand »Justin Biber«.

9.3.

Solche Gespräche lassen sich mittlerweile nur »schwer noch« zum Abdruck bringen. Wenn ich mich mit jemandem zu einem sogenannten Interview verabrede, bekomme ich dabei seltener und seltener ein Gespräch. Oft halt tatsächlich bloß ein Interview. Ob das an Facebook liegt, an Twitter, daran, dass sich nun wirklich sehr viele Menschen schon wie ihr eigenes PR-Department fühlen können, müssen, oder bloß sollen? Dass sie ihr jeweiliges Produkt pushen – in meinem Bereich oft nur ein Thema – und sich selbst lieber raushalten aus einem sogenannten Medium, dem man, solange man es noch nicht vollends kontrollieren können wird, auf sicher misstraut?

Geführt werden die Gespräche ja weiterhin – privat, wie es heißt. Darin lag für mich der Zauber bei Bohrer und Kaube: Es war seinem Klang nach privat. Und das kann sich, ebenfalls meine Privatmeinung: dadurch verändern. Die ganzen Privatpressemitteilungen rühren mich nicht.

Manchmal denke ich, dass es auch sehr zum Verständnis unserer Zeit beitragen würde, wenn sich geschätzt ein Viertel bis Drittel der Menschheit in ein Volontariat aufmachte, um an den verschiedensten Orten, zu den üblichen Zeiten, die Gespräche von anderen zu transkribieren, um sie danach für alle anderen zugänglich machen zu können. In einer elektrisch gestützten Version transkribierender Mönche. Aus dem Glauben an die Schönheit des flücht’gen Hauches heraus, dem Gestalt zu verleihen ist. Der menschlichen Sprache. Dem interessantesten Ding unter der Sonne so to say.

Für mich wurde diese Phantasie von Wim Wenders wahr gemacht; vermutlich war es eine von Peter Handke, die in den Neunzigerjahren im Film Bis ans Ende der Welt gezeigt wurde: Sie hatten sich Videobrillen gemacht, ein ausgedachter Rekorder zeichnete nachts ihre Träume auf. Tagsüber saßen sie, die Brillen über den Augen, in ihrer Höhle (draußen war es eh zu heiß mitten in Australien, wo das Ende des Filmes traditionellerweise inszeniert ward), und schauten sich ihre Träume an.

Beim Abtippen von Gesprächen geht es mir ähnlich. Das Belauschen, beispielsweise gestern, im Haus am Bayernbrunnen, ist aber auch schon nicht schlecht.

Dort saßen – ganz nah an den Kälte und Feuchtigkeit abstrahlenden Scheiben zum Platz hin – zwei Greise. Beide redeten, aber es war die Stimme des mit seinem Gesicht mir zugewandt Sitzenden, die tragend war. Der andere murrte seine Zeilen, wie es mir schien, in sich hinein. Der Laute brachte dann in die scheinbaren Gesprächspausen des von mir abgewandt Sitzenden seine Vorwürfe. Es ging, das war nach wenigen seiner Repliken klar für mich, um eine Frau. Bald schrie er schon beinahe ein auf seinen Freund – ich musste annnehmen, dass der ihm einer war, denn er zuckte nicht zusammen, ließ es sich gefallen. Offenbar befand sich der vom Umgebungsgeräusch Ausgeblendete in einer Trennungssituation.

Auf der Speisekarte wurde erzählt, vermutlich im Scherz, dass einst ein Stammgast, mit dem im alten Westberlin gern genommenen Pseudonym Nante, in diesem Lokal nach dem Trinken von 24 Gläsern Fernet Branca einen Reim auf das Wort »Orgasmusschwierigkeiten« gefunden habe, sich aber am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern konnte. Das Ganze steht eingedruckt auf dem Deckblatt des Leporellos. Es handelt sich also todsicher um eine Fiktion.

»Du musst«, schrie nun beinahe schon der Laute auf den Gemuteten ein, »diese Zitterpartie beenden – heute ist der 9. März! Sonst bist du nächstes Jahr immer noch hier!«

Um ihm – da war sein Freund bereits aufgestanden, um sich zur Toilette hin aufzumachen – eins noch mit auf den Weg zu geben: »Wenn Du das Rauchen aufgeben willst, gibst du es ganz auf.«

Der andere, es war deutlich: »Du hast ja recht.«

Alleine am Tisch zog der Wartende nun eine Plastikschachtel aus seiner Hosentasche und streute sich daraus Schnupftabak in die Beuge zwischen Zeigefinger und Daumen. Verkehrte Welt: Der eine geht aufs Klo, der andere zieht was offen am Tisch, aber es wirkt bei ihm anscheinend umgekehrt: Er wurde ganz still. Der andere blieb es. Zahlen, gehen.

Re: Alexander Kluge, Ich

Ich: »Aber wenn Sie doch selbst schon sagen, dass nur wenige noch ihr tausendseitiges Buch mit kurzen Geschichten kaufen werden – was wird denn dann mit dem modernen Roman?«

Alexander Kluge: »Ich halte ja das, was ich mache, für den modernen Roman.«

8.3.

Was für ein Genuss es es gewesen sein muss, dieses Gespräch mit Karl-Heinz Bohrer abzutippen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da auch nur ein Satz irgendwie anders gesagt wurde, als der dann gestern so im Feuilleton gedruckt stand (und eben nicht »Welch ein Genuss«, oder »abtippen zu dürfen«). Wie er, ohne ein obskures Wort zu verwenden, von der vergangenen Zeit erzählt: Allein, dass die Menschen, mit denen er im Frankfurt der späten sechziger Jahre verkehrte, dort in weißen, symmetrisch eingerichteten, in seiner Erinnerung wie Mathematikheftseiten karierten Wohnungen lebten, bevor sie sich in den späteren Jahren erst wieder zutrauten, die Altbauten zu besiedeln. Und dass es bei seinem Arbeitgeber zuvor in Hamburg einen Feuilletonchef gegeben hatte, der in der Mittagszeit mit Rotwein gurgelnd durch die Redaktionsräume lief – ich las das und sah vor der Scheibe auf dem Bürgersteig draußen einen Mann, der seelenruhig in einen städtischen Abfalleimer urinierte. Wohl auch, weil der in einer für seine Körpergröße angenehmen Höhe am Laternenpfahl angebracht war. Diese Zeit, von der Bohrer erzählt, hatte ich selbst nicht erlebt, aber nun war mir so. Als wäre zu der Zeit in den neunziger Jahren, als ich zum ersten Mal in eine Redaktion gedurft hatte, noch ein kleiner Rest von diesem Zauber übrig gewesen. War es denn überhaupt einer gewesen? Damals wohl nicht, aber in der Erinnerung. Nachmittags hatte mir Romuald Karmakar, den ich um ein Gespräch gebeten hatte, freundlich geschrieben. Er erinnert sich sogar noch an unser allererstes Treffen, es ist bestimmt schon zehn Jahre her oder neun und er schreibt, dass er noch heute einen Gedanken daraus immer wieder bei sich habe. Angeblich hatte ich gesagt, dass im Hinblick auf das Verständnis von künstlerischer Arbeit meist das Begreifen in die Zukunft projiziert würde, als seien wir gar nicht real im Hier und Jetzt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich das zu ihm gesagt hatte.

Bald darauf fing es zu regnen an. Kalt und silbrig lappte das Wasser über den Rand der Markise und mir fiel ein, dass es ja die Einladung gab von Andreas, der die Jubiläumsausgabe der Von Hundert in der Bar Babette feiern wollte. Aber vom Savignyplatz bis an den Strausberger Platz, diese Reise kam mir nun wie nicht mehr zu bewältigen vor. Und das lag vielleicht am Regen.

7.3.

Gedacht wird Hermann Pedro Blumenau, die Anzeige steht isoliert auf einer Seite mit vermischten Meldungen. Über dem Namen, den sich Borges ausgedacht haben könnte, steht mittig ein Signet aus einem Stern mit konkav ausgezogenen Spitzen, ein Seestern, in dessen Zentrum ein Schmuckstück eingelegt ist – ein Orden? Das Geburtsdatum fällt mir erst auf, nachdem ich die biographischen Zeilen gelesen habe: »Träger des Eisernen Halbmonds und der Liakat-Medaille, Technischer Direktor der Kriegsrohstoffabteilung in Konstantinopel, Beratender Ingenieur für Bergbau und Hüttenwesen in Europa und Übersee, Bergwerksdirektor in Pachuca, Mexiko«.

Geboren 1868, »starb am 7. März 1917 im Rang eines Majors in Konstantinopel. Als ›Kriegsfreiwilliger‹, Teilnehmer der ›Expedition Klein‹, erschloss er Kohlevorkommen zur Versorgung der darniederliegenden Schifffahrt auf Euphrat und Tigris.«

Sein Sohn gründete eine nach ihm selbst benannte Stadt, Blumenau in Brasilien. Auch das rufen die unterzeichnenden Nachfahren in Erinnerung mit dieser Anzeige, die anlässlich des einhundertsten Todestages von Hermann Pedro Blumenau in der Zeitung erscheint.

Alles in diesem Text wirkt so ausgedacht auf mich wie dieses Signet eines Seesterns. Sogar der Name, wie gesagt. Alles ist über einhundert Jahre ganz langsam zu Literatur geworden. Geburtsjahr und Todestag anzuführen wäre nicht nötig gewesen. Wozu die Zahlen? Nichts davon existiert: Konstantinopel, Schifffahrt auf Euphrat und Tigris, Hüttenwesen, Blumenau. Noch nicht einmal die Liakat-Medaille will ich googeln. Die Worte stehen für sich da und bleiben, schön wie sie sind, isoliert wie die Anzeige selbst.

6.3.

Freitagnacht kaufte ich beim Umsteigen (ich war aus Neukölln zurück und hatte in der Wilmersdorfer Straße das indianische Mosaik entdeckt) im russischen Supermarkt ein kleines Brot. Der Supermarkt hat an allen Tagen an deren sämtlicher 24 Stunden offen, die Betreiber könnten also auch »Hat immer offen« auf ihre Tüten drucken lassen, sogar ohne »hat« würde das noch verstanden, aber dann wiederum wahrscheinlich auch nicht; jedenfalls scheint diese Zahl 24 dann doch wichtig als Hinweis. Sie zieht die Aufmerksamkeit potentieller Kunden auf sich, die dort selbst noch nicht eingekauft haben, aber in Anbetracht der 24 auf den Tüten von Passanten denken: Aha, der russische Supermarkt hat immer offen – das merke ich mir.

Brot gibt es dort rund um die Uhr, im direkten Vergleich zur benachbarten Fleischpalette ist die Auswahl aber bescheiden bis mono. Diverse Fladenbrotgrößen und Formen mit diversen Körnern bestreut. Mein Brot war anders, es war klein und braun. Außerdem wog es erstaunlich viel in Anbetracht seiner Größe, das versprach bang for the buck. Wie ich zu Hause angelangt dann feststellte, schmeckte es auch noch gut. Und das ist sogar noch untertrieben, ich formuliere hier bereits aus der Perspektive des enttäuschten Liebhabers dieses kleinen Brotes aus dem russischen Supermarkt, das, wie ich beim Auswickeln aus der Plastikfolie noch vor dem Anschneiden feststellen konnte – ich wendete es zu diesem Zweck in meinen Händen hin und her – in einer schmalen Kastenform gebacken worden war, sodass der überquellende Teig die Oberfläche des Brotes zu einer pilzhaften Verbreiterung geformt hatte, die auch nachts noch appetitlich glänzte. Im Anschnitt erinnerte die Krume des Brotes an den mit Kandiszucker bestreuten Honigkuchen, den es in Holland zum Frühstück gibt. Vage ging der Geschmack des russischen Brotes auch in diese Richtung. Also dunkel: ja, aber eben nicht säuerlich wie bei manchen Vollkornbroten, sondern ins eben eher Siruphafte weisend (dies aber ohne ausgesprochen süß zu sein). Extrem schmackhaft. Darüber hinaus handelte es sich um eine Wunderkruste, denn weder die anfängliche Folienumwicklung noch eine Aufbewahrung über das Wochenende konnten der Knusprigkeit dieses von außen klein, von innen undsoweiter Brotes aus dem russischen Supermarkt etwas anhaben. Ich aß, obwohl ich anders drauf war, stets nur wenige Scheiben. Und immer wenn ich von dem Brot gegessen hatte, freute ich mich nach einiger Zeit schon wieder darauf, mir bald wieder etwas mit Brot zubereiten zu können. Es schmeckte halt auch alles auf diesem Brot – ohne leider. Für Honig war es genauso geeignet wie für Fleischwurst. Perfekt zu Eiern. Genial auch nur mit Butter (gesalzener). Oder einfach mal, als mir eine Scheibe daneben ging und zu keilförmig geraten war, um noch mit etwas belegt zu werden: ohne irgendwas drauf, einfach nur ein Brot als Brot.

Ich war sogar schon drauf und dran mein Russlandbild zu korrigieren. Ich dachte, vielleicht hat sich dort etwas Entscheidendes getan, vielleicht gibt es dort einfach auch Orte, an denen es sich aushalten lässt; wo die Russen gut drauf sind und sich am Leben und an Broten wie diesem erfreuen. Da mein persönlicher Vorrat allmählich zur Neige ging, ich aß die vorletzte Scheibe mit Honig und plante den morgigen Einkauf im russischen Supermarkt, der mir mittlerweile schon als Delikatesshimmel à la Butter Lindner erschienen war in meinem vom Brot verblendeten Geist, da biß ich mit voller Wucht und einem von daher auch hässlichen Geräusch auf etwas hartes. Viel härter noch als mein Zahn – jedenfalls fühlte es sich so an. Es war ein Stein. Nichts besonderes, Rollsplit, Stück vom Straßenbelag, etwas in dieser Richtung. Ich versuchte noch, das Brot aufzuessen, aber die Schmerzen waren zu intensiv. Glücklicherweise war mein Zahn nicht zerbrochen, aber der mahnende Schmerz ließ nicht nach. Mir wurde dadurch sehr klar gemacht, wie wichtig der Erhalt meiner Zähne für mein Fortbestehen war. Der Schmerz warnte: Das darf nie wieder geschehen! Bitte in Zukunft Nahrung gründlich untersuchen. Und um mir diese Lektion noch gründlicher einzuprägen, wachte ich heute Nacht alle zwei Stunden auf und fühlte mit der Zungenspitze nach, ob mein lieber Zahn denn noch da war. Er war. Und tat dann auch noch ein bißchen weh. Sanft pulsierend. Vom Aufprall auf den wider Erwarten harten Stein war er tief ins Zahnfleisch gehämmert worden. Er hatte sich, um die Kausalkette aus dualistisch animierter Perspektive wiederzugeben: auf mich verlassen. Ein Zahn hat nun mal keine Augen. Ich war schuld.

5.3.

Für den Sonntag war durchgehend Sonnenschein versprochen, dazu eine Temperatur um 20 Grad: Nichts davon kam durch die Wolkendecke, die sich aus vielfach über ungesaugten Parkettfußböden gewälzten Wattebäuschen zusammengeballt hatte (und wo dann mal ein blauer Fleck zu sehen war, erschien mir der wie hilfesuchend, eingesperrt, gerade so, als hätte er sich ein Sichtfenster freigewischt).

Bevor Andreas als Wirt den Kiosk Easy Rider übernommen hatte, den es damals vor dreißig Jahren zwar schon gab, aber da noch unter einem anderen Namen, hatte sich das kleine Haus im Wäldchen zwischen Autobahnausfahrt und Auffahrt zum Strandbad allmählich zu einem Treffpunkt von Motorradrockern etabliert. Damals, so geht die Legende, betrieb ein Wirt, dessen Namen heute niemand mehr weiß, auch noch ein kleines Bordell im Hinterzimmer des Kiosks. Was heute nicht nur schwer, sondern überhaupt nicht mehr vorstellbar scheint, denn der Bau an sich ist für unseren an heutigen Bedürfnissen orientierten Blick bereits derart knapp bemessen, dass alles, was durch die Bedienluke von seinem Innenraum ersichtlich wird, so winzig und klein erscheint, wie die Welt vom Flugzeug aus betrachtet. Angeblich waren die Menschen früher noch kleiner von ihrem Wuchs her – vor vierzig Jahren auch?

Jedenfalls führte dann dieser Zuspruch seitens der Zweiradfreunde aus Berlin und dem westlichen Umland (?) bald dazu, dass vor dem Wäldchen, auf einem direkt an der Straße gelegenen Grundstückchen, ein zweiter Kiosk eröffnet wurde, der konzeptuell von vorneherin auf eine Kundschaft von Fahrern sogenannter heißer Öfen setzte. Und dieser zunächst sehr kleine Betrieb wurde dann zugleich noch zu einem Symbolbild der neuen Wirtschaftsordnung, denn über die kommenden Jahrzehnte wuchs er beständig und wie ein Teil eines Organismus immer weiter. Aus einem Häuschen wurde ein Haus. Aus dem Haus eine Halle. Davor breitete sich eine Terrasse aus, umgeben von Parkplätzen. Im Sommer wird heute eine direkt an den Abgrund zur darunter hinwegsausenden Autobahn eine Wiese mit Liegestühlen möbliert, auf deren roten Stoffbespannungen sich jeweils das Logo der Limonade mit Kräuterauszügen namens Almdudler wiederholt.

Und das ist schließlich halt doch interessant. Denn auch der Innenraum des Rockertreffs ist im alpenländischen Stile gehalten. Vom Boden her noch abwaschbar und dementsprechend mit breitflächigen Kacheln aus blutwurstfarbenem Steingut belegt, sind die Wände bis hinauf in die Zirbeldecke aus gehobeltem Fichtenholz. Eine lange Vitrine, die belegte Brote und Sahnetorten enthält, leuchtet gelblich. Die warmen Speisen sind, das wird überall auf den handbeschrifteten Tafeln aus Schieferimitat durch Unterstreichungen betont, nach Tiroler oder Grazer Rezepten zubereitet. Es hat niemand eine Flasche Almdudler vor sich, und dennoch ist dieses Logo, auf dem sich ein Mann und eine Frau, die beide Schlapphüte aus grünem, dem Anschein nach weichem Material tragen, mit Almdudlerflaschen zuprosten, aus deren Hals jeweils ein rot gestreifter Strohhalm ragt, omnipräsent.

Die Zweiradfreunde selbst sind vom Altersdurchschnitt her in ihren Vierzigern. Man trägt hier keine Kutten, sondern teuer wirkende Ganzkörperrüstungen aus Kevlargewebe. Leder ist nur noch selten zu sehen. Einige Männer zeigen sich mit Langhaarfrisuren. Sehr viel häufiger ist die willentliche Totalglatze zu sehen. Auch oft mit Bart und einer auf dem rasierten Schädel getragenen Sonnenbrille. Wenige Frauen haben sich, wie man das ungesehen vermuten würde, die Augenbrauen abrasiert und in anderer Form hintätowieren lassen. Und es gibt, sitzt man dort auf der Terrasse an einem der langen Tische, die aus halbierten Baumstämmen mit extraknorrigen Tischbeinen bestehen, auch kaum etwas Rockertypisches in den Tischgesprächen zu belauschen. Es geht sogar enttäuschend wenig um die Maschinen, die auf dem Standstreifen vor der Almhüttenhalle in einem chromblitzenden Knäuel bis hinüber an die Autobahnbrücke aufgestellt sind. Die moderne Kluft des Motorradfahrers sitzt hauteng und lässt sich während einer solchen Ruhepause auch während der Mahlzeit nicht öffnen, sodass es von Nahem wirkt, als sei eine transhumanistische Formfantasie bereits Wirklichkeit geworden, wenn ein android wirkender Körper aus in schwarz und weiß gemusterten Kevlarbauteilen mit draufgeschraubtem Frauenkopf ein Stück Germknödel mit Mohnfüllung zwischen seine permanent Make-up-Lippen schiebt (und im Hintergrund der Spitzgiebel der Almhütte). Über dem Eingang steht in echter Kreidehandschrift C+M+B 2017. Keine Musik übrigens. Es läuft, von nebenan, die Autobahn.

3.3.

Orgasmus für 3 Euro 40, da kann man nicht meckern. Und auch ansonsten werden die Getränke in der Bierbar am Hermannplatz zu Preisen wie im tiefsten Frieden verkauft. Bier gibt es, Orgasmus, aber auch Tee. Ich saß dort mit zwei Frauen um einen runden Tisch. Die Frauen tranken auch Tee, sie unterhielten sich sotto voce, die Kerze war aus. Ein Fensterplatz, die Scheiben reichten vom Fußboden bis zur Decke, die Bierbar hatte sich in den ehemaligen Verkaufsräumen einer Metzgerei eingerichtet. Der Ausblick zeigte den Karstadt, dessen Gebäude den Hermannplatz beinahe ganz ausfüllt. Auf dem Vorplatz wurde ein Wochenmarkt abgebaut. Es war einer dieser Wochenmärkte, wie es sie in Berlin an verschiedenen Orten gibt: Die Stände sehen alle identisch aus, ein Holzgestell wird mit einer cremefarbenen Markise überspannt. Vermutlich werden diese Marktstände zentral verliehen. Es gibt auf den Märkten, die aus diesen cremefarben überdachten Ständen bestehen auch immer dasselbe Angebot – Oliven und Pasten, Hüttenschuhe, Räucherfisch, Halbedelsteine, Kristalle, Filztiere, Seifen aus Marseille.

In der Maya-Entzifferungsgruppe geht es derzeit um einen Teller auf drei Beinen. Er stammt aus der Mitte des 7. Jahrhunderts vor Christus. Laut der bereits entzifferten Schriftzeichen wurde er am Hofe Chahks verwendet, der in der Geschichtsschreibung der Maya mit dem Ehrentitel des Urvaters erwähnt wird. Die Frage ist nun, was auf dem Teller serviert worden sein könnte. Monatelang deuteten die hieroglyphenhaften Zeichen daraufhin, dass es sich um einen Präsentierteller für Speisen gehandelt haben könnte. Er ist, wie gesagt, außerordentlich schön. Anzunehmenderweise waren darauf repräsentative Speisen ausgestellt worden, etwa besonders schön gewachsene Ananas oder zartfleischige Mangopflaumen, die man direkt so aus ihrer weichen Schale löffeln konnte, ohne sich noch mit dem Filetieren abzumühen. Dann aber stellte sich mit der Entdeckung eines bis dahin unbekannten Schriftzeichens heraus, dass auf diesem Teller sowohl diesseitige wie auch mythologische Speisen präsentiert wurden. Er diente also, darin lag seine besondere Funktion im Haushalt am Hofe Chahks des Urvaters: als Sammelgefäß zweier Welten. Eine Ananas, die auf dem Teller mit den drei Beinen plaziert wurde, zeigte sich dort als essbare Frucht und als Repräsentation der Idee von Fruchtbarkeit und Ertrag. Auch die Gebete an eine für die Fruchtbarkeit verantwortliche Gottheit, wie deren Segen oder, im schlimmsten Fall Strafe, wurden in diesem Gefäß reflektiert (und es hat von seiner flachen Form auf drei Beinen tatsächlich etwas von einem Rotationsparaboloid.) Die entscheidende Silbe, nur ein Segment eines Schriftzeichens, dessen Entdeckung diese Deutung erst möglich gemacht hatte, lautet wi.

Das brutal hässliche Gebäude des fensterlosen Einkaufszentrum mitten im Straßenverkehr, umgeben vom bäuerlich geprägten Marktgeschehen, auf dem nur industriell erzeugte Waren verkauft werden – der Atmosphäre wegen? Die Atmosphäre ist nicht schön. Der Karstadt könnte auch leer stehen, wird es wahrscheinlich auch bald. Abreißen ist teurer als umbauen. Ich kann mir nicht vorstellen, was dort einst entstanden sein wird. Ich bin selten nur in Neukölln. Als ich in der Konstanzer Straße in die U-Bahn-Station hinunter gestiegen war, fand ich dort sämtliche Gänge mit münzgroßen Fliesen ausgekleidet. In knallendem Orange, Orangenorange. Und an den Rückwänden der beiden Tunnel hinter den Gleisen ein Mosaik aus breiten Streifen in Gelb und Lila inmitten dieses Sea of Orange. (In der Mythologie erscheint Chahk der Urvater aus einer endlos schwarzen See; also stets: die mythologische Figur des auch in der Wirklichkeit regiert habenden Herrschers entsteht zu jeder Zeit als ein soeben den schwarzen Wassern im Entsteigen begriffenen.)

Starkes Denkmalschutzbedürfnis. Insbesondere seit ich weiß, aus Frankfurt, von der B-Ebene dort, wie kaputt und im Prinzip unrettbar verloren eine ungeschickt sanierte U-Bahnstation aussehen kann. Auf der Heimfahrt dann vom Hermannplatz mit der U7, die auf ganzer Länge von Rudow nach Spandau führt: Wilmersdorfer Straße. Der Holy Grail. Die orangefarbenen und gelben Fliesen wurden zu hochglänzenden Trapezen geschnitten, winzige Partikel, nur etwas größer als die Quadrate von Bisazza, und zu indianischen Ornamenten arrangiert, von denen gerahmt der Name der Haltestelle sogar noch etwas exotisches bekommt. Und dann erst der Kontrast bei Kontakt mit der Oberfläche, also wenn man dann aus der Station heraustritt und die Wilmersdorfer Straße erst schaut! Umgekehrt ergibt sich ein vergleichsweise flauer Effekt in Paris (für Deutsche) beim Verlassen der Métro Stalingrad.

Aber einst, bei Planung und Ausbau der Wilmersdorfer Straße, aber auch bei Fehrbelliner Platz und Konstanzer – das sind meiner Ansicht nach die Großen Drei unter den U-Bahnhöfen – war die Umgebung oben ja noch hässlicher, hatten die Polizisten noch diese grünen Uniformen an zu braunen Schlaghosen. Und alle rauchten und waren gerade erst aus Stalingrad heimgekommen. Frauen benutzten Haarspray. Das Bier hieß Schultheiss. Es gab die Mauer. Und Bonn.

Dann hinunter in die Wilmersdorfer Straße, und beim Warten auf die klappernde U-Bahn auf dieses indianische Wandbild starren. Die U-Bahnwaggons waren ja damals schon gelb lackiert. Karstadt am Hermannplatz noch ein Sehnsuchtsziel. In einem anderen Grau.

2.3.

Der Sonnenaufgang färbt das Wasser für ein paar Augenblicke lang rosig ein. Glatt ausgebreitet liegt es da, auch weil ich es ohne Brille betrachte. Wie an einem Sommerabend. Den Tag über und die Nacht hindurch hatte es geregnet. Pariser Wetter, die Luft gerade das eine, vielleicht zwei Grad wärmer, sodass sich die Kälte des Wassers, das in Tropfen vom Himmel fällt, auf dem Gesicht und an den Händen unangenehm bemerkbar macht. Zeit des Hasens: Im Schaufenster des Delikatessladens Goldfasan am Stuttgarter Platz steht schon ein besonders schöner, gut vierzig Zentimeter hoch, in violettfarbene Alufolie eingepackt. Aus dem Efeu zwitschern die vom Regen zurückgedrängten Spatzen. Es klingt empört.

Das Purple Institute hat ein kleines Heft herausgegeben mit den Vogelporträts von Carsten Höller. Nur wenige Seiten, aber ich nehme es immer wieder zur Hand, um es von neuem zu studieren. Die Vögel werden auf Einzelseiten gezeigt, wie sie sich im Griff einer Männerhand mit kurz geschnittenen Fingernägeln befinden. Wie schön jedes einzelne Vogelauge von dem immer anders, immer anders prächtigen Gefieder abgesetzt ist. Wie ein polierter Spiegel, wie ein dunkler Stein von einem farbigen Ring eingefasst. Ich spüre das Gewicht jedes einzelnen Vogels, sie wiegen gar nichts im Vergleich zu meiner Hand; ich erinnere mich auch an die Wärme des Vogelkörpers und dass da, hält man einen Vogel in der Hand, eine Feuchtigkeit spürbar wird – sie geht in die Erinnerung ein –, weil auch die Vögel schwitzen.

Neulich las ich es sogar in einem Artikel über einen Hirsch, der, aus Gründen, die sein Geheimnis bleiben werden, seit Monaten in Symbiose mit einer Kuhherde lebt (möglicherweise waren es aber auch Pferde). In der Zeitung fragte der Text auf den Hirsch bezogen »Was treibt ihn an?«. In der Tradition rhetorischer Moden ist diese blöde Frage en vogue. Ich frage mich, seit wann das offen ausgesprochen interessant wurde, zur Frage, was sie, es, ihn antreibt. Eine in Anführungszeichen gesetzte Eingabe bei Google »Was treibt ihn an?« ergibt erstaunlich wenige, nur ein paar hundert Treffer für deutsche Webseiten. Auf Onlineveröffentlichungen bezogen, taucht die Frage vor vier Jahren zum ersten Mal auf, der Einsatz häuft sich seit vorletztem Jahr und verbreitet sich da bereits aus den Zeitungen und Zeitschriften in die Verlautbarungen von Gemeindeverbänden, Feuerwehrvereinen und Bäckereien. Auf ähnliche Weise interessiert mich, wann zum ersten Mal Apfelschorle bestellt wurde in Deutschland. Das muss in den späten Achtzigerjahren gewesen sein, in den Neunzigerjahren war die Bestellung bereits zu einem no brainer etabliert. Apfelschorle hat in der englischsprachigen Wikipedia einen eigenen Eintrag, der sie als typisch deutsches Getränk erklärt. (Und angeblich bestellen die Österreicher dann eine Chrissy – aber hieß die Apfelsaftschorle in Ö nicht Obi g’spritzt? Ganz sicher bin ich mir auch nicht, ich war länger schon nicht mehr in Österreich, kann mich aber noch an das Kracherl erinnern, durch dessen Bestellung man eine Aprikosenlimonade erhielt, die stark prickelnd schmeckte und auch ansonsten köstlich war.)

Vögel, Geräusche machend im Efeu bei Regen, Vögel umherhüpfend auf dem nassen Rasen, Vögel bei Wind. Äugelnd. In die Kamera, mir entgegen, ins Offene, ins Nichts. Vögel in der Hand des Menschen, der ihnen Ringe anlegt ans Fußgelenk. Milliarden von Vögeln, Millionen von Arten. Was treibt sie an?

1.3.

»Müllrose ist ein ruhiger Ort in Brandenburg.« So fangen Texte an, zugleich komme ich, gleich wie schlimm das ist, was sich dort zugetragen hat, nicht über den Ortsnamen hinweg. Gehört also verboten. Ist, wie es in der Neuen Zürcher heißt, eine Sauglatterei.

Beim Nachtessen fiel mir dann endlich ein, endlich, weil ich seit nun schon 15 Monaten darüber nachdenke, wie ich den grundlegenden Fehler des Tagebuchs beheben kann (der ja ein konzeptioneller ist und ein Problem der Perspektive beinhaltet). Ich war spät dran. Das war, nicht oft, aber meines Dafürhaltens zu oft passiert: Aufgrund oder wegen alltäglicher Probleme aus dem Reich der Realität war mir die von mir dafür zugeteilte Zeit des Schreibens am Morgen nicht zur Verfügung gestellt. Im sogenannten Hinterkopf mahnend, fürchtete ich den Fluch des ungepflegten Blogs. Analog dazu, noch aus der Zeit vor den Blogs, die berüchtigte »Serie in loser Folge« – mir schon immer ein Grauen, eine Notlösung, wenn auf einer oder zwei Seiten, die unverhofft frei geblieben waren, nichts anderes mehr stattfinden konnte (oder man hatte die Tragfähigkeit eines Seriengedankens nicht weit genug bedacht).

Mir war die eingehende Formel des »Gestern war dies, das« schon längst als zu starr und wie vorgegeben erschienen. Sie drängte sich scheinbar auf und schränkte mich vielleicht sogar ein. Warum also nicht, der Spalt zwischen dem ungewohnt kurzen Februar und dem traditionell die Tage zählenden März bot sich dafür wie naturgemäß an, von vornherein aus einem Gestern berichten? Und so, das dachte ich (gestern): den einen Tag überspringend, von vorneherein gleich aus der Retrospektive beschrieben, so, als ob es bereits heute war?

Der Eintrag zum ersten Dritten erscheint von daher am zweiten Tag des März, technisch, sozusagen, beschreibt aber mein Erlebnis vom ersten, so als ob der erst heute war. Klar, das lässt die Bezifferung der Einträge über die Jahre, und das zunehmend, abstrakt erscheinen. Als ich vor einem Jahr um diese Zeit beschlossen haben wollte, dass ein Jahr von nun an am Ostersonntag beginnen würde, war das schon ein Schritt in diese Richtung, aber das perspektivische Problem hatte ich damit noch nicht gelöst. Was es brauchte, war die Verschiebung innerhalb der dem Tagebuch inhärenten Einheit, in der Zählung der Tage selbst. Auf dass deren Datum fiktiv würde.

Von daher sah ich einen Tannenbaum vor dem Zwiebelfisch, der, bei den Temperaturen kein Wunder, noch immer keine einzige seiner Tannennadeln verloren hatte. Zudem hingen dort heute, zwischen den Resten von rotem Wachs, die Ostereier aus Plastik (und dazwischen klemmten flauschige Küken in Blau). Vor meiner Tür ist seit Neuestem ein Maulwurfshaufen aus Kies. Wenn ich die Tür aufstoße, blubbert es aus dem Inneren des Kegelstumpfes. Ich vermute, es ist dann der Maulwurf selbst, der sich ins Erdreich zurückzieht, ruckhaft. Wie einst von Peter Handke in seiner Langsamen Heimkehr beschrieben. 

Was ist schon Zeit! Ich sah blendend aus.

 

26./27./28.

In der Nacht vom Samstag auf Sonntag schlief ich so lange und viel wie schon lange nicht mehr und wie noch in keiner Nacht zuvor in diesem Winter. Diese Nacht, vom 26. auf den 27. Februar, war der Winter. Als ich einmal, kurz, gegen 5 Uhr erwachte, konnte ich mir vergegenwärtigen, dass es weit draußen hinter den Vorhängen ein Lied gab, das ich kannte – ich hörte genauer hin (im Dunkeln kann es einem ja gelingen, seinen Hörsinn auf etwas in vager Entfernung zu richten und sich dann darauf ganz zu konzentrieren wie mit einem Fernrohr, sodass sein Klangbild schärfer wird), tatsächlich: Die Nachtigall war zurück. Dann schlief ich weiter, viele Stunden, und als ich ausgeschlafen, war der Frühling da.

Mit allem.

Am Samstag war ich noch mit Markus durch den nackten Wald gegangen, jetzt zeigte sich dort immerhin schon seidige Luft am Himmel und abgerissene Wolkenbäusche trieben vor dem Blau. Als wir dann gestern bei der Mutter Fourage im Garten saßen, schien uns für mindestens zwei Stunden am Stück die Sonne ins Gesicht. Kiefernstämme leuchteten: Es gibt nichts Schöneres für mich unter den Bäumen. Und als wir durch das Villenviertel heimwärts gingen, hieltest du mich am Arm fest. Aus dem Wipfel hinter der Mauer kam das Lied der Amsel und fügte der Melodie des Frühlings das Entscheidende hinzu. Kaum zu beschreiben, im Augenblick des Wiederhörens sofort wiedererkannt. Ton für Ton.

Der Schlaf alleine dann: längst nicht mehr so lang, vermutlich auch nicht annähernd so tief. Als ob in der Samstagsnacht etwas Pflanzenhaftes geschehen war mit uns; etwas dem Geschehen tief im Frühjahrsboden Vergleichbares, wo ja auch vor einer Woche noch, als ich die Schnecken vor die Tür gesetzt, die Schneeglöckchen schon ihre zwiebeligen Triebe vorgestreckt hatten, und jetzt gab es bei der Mutter Fourage schon Zweige mit Weidenkätzchen in zwei Farbnuancen (klassisch gelblich und rosa), Magnolienknospen (in Holland vorgetrieben, denke ich), und alles deutete hin auf die ersehnte Explosion um uns herum. (Ich kann mich noch gut an die Zeit hier im Wald erinnern. Am schönsten wirkt es bei der Fahrt mit der S-Bahn, dann sieht es so aus, als hingen zwischen den Baumstämmen dichte Wolken maiengrünen Staubs.)

Beim Menschen ist es eine Implosion. Nach dem langen Schlaf besteht sie aus winzigen Lichtsamen. Eine Pusteblume mit Glühwürmchen besteckt. Und beim Einschlafen, wieder allein, fragte ich mich: Wie bringst du eigentlich den Mut auf, Nacht für Nacht seit so vielen Nächten allein zu schlafen? Das muss doch für Tausende von Jahren etwas Furchteinflößendes gewesen sein für die Menschen. So sehr, dass die gar kein Auge zutun konnten vor Angst. Und damals wussten die noch nicht einmal, dass sie sich auf einem Planeten befanden; geschweige denn: allein im All. Oder dass es noch Tausende von anderen Artgenossen gab, alles Menschen wie sie, von denen aber genau im selben Moment wie sie, genau die Hälfte ebenfalls schlafen ging. Sodass die eine Hälfte bald wehrlos der anderen Hälfte ausgeliefert daliegen würde wie tot. Und keiner schaute zu.

Um 5 Uhr dann wieder die Nachtigall. Bald würde ich bei offenen Türen leben und schlafen können. Der Winter war, seltsam, beinahe vergessen. So beinahe wie diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war.

25.2.

Wenn man viel reist, lässt man auch ganz viel zurück. Orte, klar. Spezialitäten. Aber manchmal dauert es Jahre, und auf dem Telefon erscheint mit einem Schlag eine Nummer mit zwei Nullen, einem Plus und dahinter eine rare Kombination aus Zahlen, die weder auf Frankreich, England oder auf die Schweiz hinweist.

Aramazt habe ich in Äthiopien kennengelernt. Sein Name, das hatte er mir erklärt, bedeutet Zeus, der Göttervater, im Armenischen. Damals lebte ich ein Stockwerk oberhalb seines Schreibtisches, einem aus gelbem Plastik in Form eines Kronkorkens auf roten Füßen. Mein Balkon (fünf auf anderthalb Meter) befand sich direkt darüber, am Horizont zunächst ein Avocadobaum und dahinter die Addis Abeba einfassende Gipfelkette: im Abendlicht der untergehenden Sonne flogen die großen Vögel dorthin.

Damals bin ich auch schon früh aufgewacht. Mit der aufgehenden Sonne, es gab keine Vorhänge, und die Szenerie war dann in der trockenen Saison immer genau so, wie man sich das vorstellt: disneyhaft, bonbonfarben, mit einem Wolkenbild über den afrikanischen Bergspitzen, den Vögeln auf weitgespanntem Schwingen, die von dem anvisierten Punkt her ins Bild zurück auf einen zugeflogen kamen; von diesem Punkt her, in den hinein sie des Nachts noch scheinbarerweise verschwunden waren: Magic. An jedem Morgen aufs Neue. Dieser Effekt verliert sich auch nach Monaten nicht.

Aramazt, von dem ich damals nur seine Stimme kannte, saß dann an jedem dieser Morgen unten an seinem Kronkorkentisch und redete auf mögliche Investoren ein. Das konnten durchreisende Vogelforscher aus Skandinavien sein, italienische Bibelexegeten, Weiße aus Südafrika, Entrepreneure aus dem benachbarten Jemen. Als ein in Manhattan aufgewachsener Armenier mit circa zweihundert Kilogramm Lebendgewicht konnte er seiner im Grunde hohen Stimme den dafür prinzipiell nötigen Nachdruck verleihen, um die Leute von seinem Projekt, einem Dokumentarfilm über die in der äthiopischen Hauptstadt lebenden Armenier, zu überzeugen. Nach ein paar Wochen hörte ich seinen Elevator Speech im Schlaf. Ansonsten biss niemand an. Wie ich gestern erfuhr, ist sein Filmprojekt noch immer »in production«. Unser Kennenlernen im Palasthotel, durch Tocotronic berühmt gemacht*, ist sechs Jahre her.

Das letzte Bild: Er hält seine Hände um meinen Hals fest geschlossen und drückt mich damit gegen die Wand einer DDR-mäßigen Plattenbauwohnung in Kashansis, in der wir damals zusammen lebten; er droht mir, mich umzubringen, wenn ich ihm nicht sofort eine Barsumme im Gegenwert von 100 Euro gäbe (2500 Birr). Sein Atem roch nach Schnaps. Äthiopischer Schnaps war billig. Es gab ihn in den Geschmacksrichtungen Ananas, Cognac oder Anis zu eins fünfzig den Liter. Danach hörte ich von ihm lange nichts.

Er hatte um die einhundert Kilo abgenommen. Ich selbst hatte ihm damals ein Diätprogramm verordnet, das im Wesentlichen aus frischer Ananas und Wasser mit Chilipulver (Berbere) drin bestand. Abends ein äthiopischer Salat ohne Brot. Seit seinem Abflug aus Ä wohnt er technisch noch immer in Armenien. Seine Frau hat im letzten Jahr die Scheidung eingereicht. Er überlegt stark, nach Berlin umzuziehen. Sein Kapuzenpullover ist orangefarben, um den Mund herum hat er noch immer den Bart. Er schaut sich das Manuskript von Marc Degens über dessen Jahr in Eriwan an und angeblich hat sich dort bis heute nichts groß verändert. Letztes Jahr gab es eine staatliche Organisation namens Cleantec, die den Einwohnern der Hauptstadt Mülleimer ausgegeben hatte. Die Mülleimer wurden von den Einwohnern der Hauptstadt Armeniens auf dem Schwarzmarkt verkauft. Untereinander. Aramazt versuchte sich dort bislang als Grafiker für Infografiken durchzuschlagen. Er hat das Bedürfnis, sich für den versuchten Totschlag zu entschuldigen. Ich sage, dass das, was auf der Insel passiert sein mag, auf der Insel verbleiben soll. Und zahlte sein Bier.

* Vulgäre Verse, Wie Wir Leben Wollen, 2013

24.2.

Vor zwei Monaten, in zehn Monaten. Der Sturm braucht knapp fünf Stunden, um seine Front aus der Mitte in den Nordosten des Landes zu verlagern. Dem Sturm selbst ist das natürlich alles egal. Um Mitternacht lese ich auf Twitter noch vom Zugverkehr im Rheinland, dem das auch alles egal ist, aber der trotzdem ausfällt. Um kurz nach fünf wache ich auf. An der Zimmerdecke bewegt sich in einem Viereck aus Licht der Schatten eines Astes hin und her wie ein Zeiger. Das Geräusch des Sturmes ist mehr Rieseln als Rauschen. Als ob in den Wänden jemand aus vielen Händen etwas innerhalb der Wände rieseln lässt. Ins Bodenlose – oder es dauert halt unendlich lange, bis die unendlich vielen Kugeln aus den unendlich vielen Händen losgelassen unten angekommen sind.

Ich schlafe noch einmal ein. Im Traum wird mir der neue Fünfhunderteuroschein gezeigt. Zwei aufeinandergelegte Handkuppeln öffnen sich wie die Schalenhälften einer Walnuss. Der Schein ist winzig, er passt in die untere Handhälfte hinein, ohne überzustehen. Von den Farben her ist er blockhaft gestaltet mit geometrischen Feldern in Rostbraun, Karminrot und Ocker. Darüber liegen wie verstreut, oder auf das Design gefallen, drei schwarze Balken, von denen einer in einem Winkel von 60 Grad abgeknickt wurde. Der Wert, 500 Euro, ist in Grün aufgedruckt und wird zu einem Teil von einem Schenkel des schwarzen Balkens abgedeckt. Ich weiß da alles noch, als ich aufwache und die Erinnerung schärft sogar noch nach. Bemerkenswert erscheint mir nun, dass auch die Form des Geldscheins geändert wurde – von der verringerten Größe abgesehen: Die Form ist den Flaggensymbolen der Emojis angepasst. Der Schein wirkt belebt, so als wehte er oder würde von den zahlenden Fingern ins Flattern gebracht. Ich weiß selten derart viele Details zu erinnern von meinen Träumen. Vor allem Farben verblassen geschwind.

Im ersten Licht sehe ich die Scheiben von Tropfen bedeckt, sie leuchten. Der Sturm ist durch die Ritzen der Fensterrahmen hindurch in den Raum eingedrungen, ich spüre den kalten Hauch an meiner Schulter. Das Windgeräusch kommt in Wellen, es hört sich jetzt tatsächlich wie Brandung an aus der Entfernung, dabei ist es ganz nah. Die Äste des Baumes links im Bild schwanken hin und her, langsam, was ich mit gutmütig verwechsle. Ich träume also von Geld.

23.2.

Gemütlicher Nachmittag mit Kaffeeschorle und schokoladigem Kuchen. Der Regen pladdert, stellenweise prasseln die Tropfen gegen die große Scheibe, hinter der, nun schon mit Fenstern drin, der Neubau entsteht (an das Haus, das dort ursprünglich einmal gestanden hatte, kann ich mich nicht mehr erinnern; es wird eines aus der Nachkriegszeit gewesen sein – kein Kaiser’s!, soviel weiß ich – ein Gebäude aus der Zeit zwischen den Kriegen, oder gar aus der sogenannten Gründerzeit würde saniert, notfalls entkernt, niemals abgerissen. Selbst dann nicht, wenn der Schwamm ihm schon tief im Gebälk Metastasen gebildet hätte. Warum ist das so? Warum werden die alten Häuser in Ehren gehalten und geradezu verehrt? Als auf dem Land groß Werdender träumte ich damals freilich von hohen Zimmerdecken, die, knallweiß gestrichen, mit Stuck verziert sein würden, wie auf dem Land höchstens mal ein Stück Torte Rhabarberbaiser. Ab und an war ich bei befreundeten Kindern in Stuttgart zu Besuch, bei denen fuhr die Straßenbahn am Fenster vorbei und die Zimmerdecke in deren Wohnung war derart weit droben, dass sie die Modelleisenbahnanlage auf ihrer Platte montiert an einer Seilzugmimik bis dorthin hinauf ziehen konnten, um das Seil dann an einem Karabiner in der Wand einzuhaken. Dann stand der Platz auf dem Boden für andere Aktivitäten zur Verfügung. Für das Draufliegen und Musikanhören beispielsweise. Das kam dann auch immer öfter vor).

Schon bei der Hausschwammfantasie geriet ich ins Schwärmen, auf Abwegen kam in mir der Appetit nach etwas Salzigem und leicht Verkohlten auf. Das lag am Regen, ich träumte vom Rom um diese Jahreszeit, wo es genau so regnen kann. Ich hatte jetzt Lust auf Pajata. Es müsste auch gar nicht in einem Lokal sein. Pajata im Stehen, umweht von den bläulichen Schwaden des Grills, auf dessen Rost die Spieße dicht nebeneinander liegen. Rosig, braun und schwarz verkohlt. Der Stand ist mit einer hellen Plane überspannt, von deren Rand sich die Tropfen abseilen. Senf gibt es auch.

Gehört leider nicht zum Repertoire der Streetfood-Aktivisten. Neulich, als ich an dem ersten Frühlingstag auf der Berlinale den Film über Berlin im Winter anschaute, fand ich nach der Vorstellung in einer Seitengasse des Marlene-Dietrich-Platzes ein paar ihrer Wägen (also nicht Dietrich, sondern Streetfood). Und über die Gasse war ein Schild geschraubt, auf dem stand in einer Las-Vegas-Schrift »Streetfood«, was ich in dem Fall auch sinnvoll fand und finde, weil die Straßen am Potsdamer Platz sind ja von ihrer sozialen Funktion her keine Straßen und werden auch von den Stadtbewohnern nicht als solche gelesen. Der Potsdamer Platz im Ganzen besitzt in der Stadt die Funktion einer Freiluftmall, ist also Sonderfläche und eine Sonderform des Marketing (von der mir jetzt bloß Streetfood einfallen will, aber da kommen noch andere!) muss hier ultrakonservativ, also mit Las-Vegas-Typo und Schild ausgewiesen werden, weil die Strategie des Beiläufigen*, deren Streetfood sich ja ansonsten bedient, funktioniert auf unstraßenhaften Straßen, wie beispielsweise in den Seitengassen des Potsdamer Platzes, nicht.

Aber gerade da wäre doch Pajata toll. Dafür, für Pajata, wäre ich gestern sogar durch den Regen bis an den Potsdamer Platz gelaufen. Den ganzen Weg gerannt vielleicht nicht, aber immerhin. Und eigentlich funktioniert die Strategie des Beiläufigen ja nur so und eben weil dann ungewöhnliche und exotische Grillspezialitäten verkauft werden; servierte jeder aus seinem Streetfoodtruck heraus lediglich Würste, Fritten, Frikadellen und Schaschlik, würden sich die Anwohner und Passanten ja auch nicht mehr freuen, sondern ganz im Gegenteil eine Beschwerde einlegen wegen zuvieler Drei Damen vom Grill und der Wiederkehr des Immergleichen.

*Man stellt einen schwarzlackierten Bus auf, aus dem heraus drei Expats eine fremdländische Spezialität vom Grill servieren. In einer Straße mit sozialer Funktion wird das von den Anwohnern und Passanten als Bereicherung gelesen. Wie ein Shitsicle, der eines Morgens im Vorgarten liegt.

22.2.

Ich hatte sie unter einen kahlen Birkenbusch plaziert, der Rindenmulch war kalt aber feucht vom tagelangen Regen. Ein Büschel Schneeglöckchen, an den Trieben hingen Tropfen, zeigte ein zwiebliges Grün.

Dann übernahm der Tag, und ich vergaß die beiden Schnecken. Zum ersten Mal fielen sie mir wieder ein, als ich noch früh am Abend auf die Straße trat. Die blaue Stunde, die es nun wieder gibt, und die in Berlin sehr schön sein kann, wenn es, wie gestern, zuvor noch geregnet hatte, sodass die Straße, in die man, aus dem Hauseingang kommend, einkehrt, sich lang und glänzend, vor einem im bläulichen Licht und nach hinten hin grauer und zugleich nur wenig dunkler werdend, präsentiert (dazu braucht es freilich ein bis zwei Bremslichter, zumindest eine umspringende Fußgängerampel und ein golden leuchtendes Schaufenster, oder eins auf der ersten Etage, wo jemand einen Tisch deckt und man sieht von dieser Person bloß die Unterarme und Hände, das Gesicht wird von Stores verdeckt).

In der Bahn kam das Bild von den zwei Häusern unter den Schneeglöckchen wieder. Dieses Mal dachte ich an ein Kinderbuch, ich sah den Moment von mir gezeichnet und die Schneeglöckchentriebe waren zu Straßenlaternen geworden en miniature. Die Tau- oder Regentropfen, die an den Trieben gehangen hatten, gaben funkelndes Licht. Dagegen sahen die beiden Häuser mit ihrem Spiralmuster aus wie Findlinge. Ganz massiv.

Dabei sind die Schneckenhäuser dünnwandigst. Mir fiel das Buch nicht ein, aber ich hatte es früher, da tranken die Märchentee aus einem Service, das aus Schneckenhäusern gemacht worden war. Oder von Schnecken in ihren Häusern. Egal. Als ich nach Hause kam, war es noch ein wenig hell. Der Platz unter dem Schneeglöckchen war aber leer. Ich hatte mich beeilen müssen, weil ich eine terminliche Arbeit fertigschreiben musste bis spätestens neun, von daher blieb mir keine Zeit, um die Umgebung abzusuchen – weit konnten sie ja nicht sein!

Später war ich zu müde. Heute glaube ich, dass ich sie schon wieder vergessen hatte.

Heute früh um sechs versuchte ich viel, um noch weiter zu schlafen, es ging aber nicht, also machte ich mir Tee, weil ich schon ahnte, dass es eine längere Geschichte werden würde. Als es draußen blau wurde, öffnete ich die Balkontüre: Zwitschern. Mir fielen die ganzen Schnäbel ein.

21.2.

Im Dunkeln nach Hause gekommen, die Treppe hoch, so als ob dort ein Telefon klingele – daran kann ich mich noch erinnern, wie das war, wenn man dann nicht schnell genug aufgeschlossen hatte und das Gespräch mit jemandem am anderen Ende der Leitung übernahm, der sich bereits mit dem Band des Anrufbeantworters abgefunden hatte: »Ah, du bist ja d o c h da!« (usw. usf.) – so ähnlich, aber doch ganz anders, denn ich hatte mich ja schon ab dem Nachmittag darauf gefreut, die Balkontür aufzumachen. Draußen war es still, dunkel, irgendwie sogar noch dunkler, wie mir schien, aber vor allem war es von der Temperatur her angenehm, beinahe lau, sodass die Tür gut offenstehend bleiben durfte. Wie viele? Viele. Wochenlang hatte ich das entbehrt.

Das Quietschen auch total vergessen. Jetzt war es wieder da (und mit dem Geräusch der Blässhühner kam auch die Erinnerung daran sofort wieder. War es demnach also gar keine?) Klang verrostet, wie ein mühsam zugeschraubter Hahn (Wasser-). Sich dehnendes Schiffshupen hatte ich auch schon lange nicht mehr. Im Dunkeln liegen bei offener Tür und auf die Geräusche warten, wie sie sich präsentieren. So leicht, so nebenbei, schön.

Was man im Winter durch den Zwang zu geschlossenen Fenstern verpasst, ist mit Schneedecken nicht aufzuwiegen. Allein, dass ich am Morgen den Parka am Haken lassen konnte, dies Glücksgefühl, nicht bloß Erleichterung! Winterparka will man wirklich nicht werden. Er kann noch so schön sein, irgendwann hat er alle Unlust am widrig gewordenen Dasein, allen Hass auf die dunkle und kalte und isolationshaftmäßige Jahreszeit auf und später in sich gezogen (nicht umsonst sind die Steppjacken nach dem Prinzip eines Zigarettenfilters konstruiert). In den T-Shirts steckt auch im Winter noch Freude vom Frühlingsbeginn, Freude am Sommer, aber Wehmut auch, beim Abschied vom Sommer. In den Parkas überwintert im Sommer der Hass.

Morgen, so dachte ich, während ich im Dunkeln lag, auf das Einschlafen wartete und von fern kam ein gütiges Schnattern, setze ich als erstes die Schnecken vor die Tür. Die hatten sich kurz nach Weihnachten schon in ihre Häuser zurückgezogen und die Öffnungen mit dünnen Kalkdeckeln verschlossen. Als low performer brauchten sie aber kein Schleimarium, beziehungsweise könnte ich mir dann ja gleich zwei Schneckenhäuser aus meiner Sammlung unter die Glasschüssel legen. Oder zwei Steine. Womöglich noch mit künstlichen Salatblättern und einer Gurke aus Fimo!

Soweit kommt es nicht. Soweit wird es nie kommen. War schön mit den beiden, auch lehrreich. Zumindest für mich.

20.2.

Während alle die Fischsuppe löffelten, ging es an unserem Ende der Tafel um ein Chamäleon, das eine Bekannte von Daphne sich seit kurzem hält. Leider wohnte sie nicht in der Kommune und so konnten wir das Tier nicht besichtigen, sondern waren ganz auf ihre Beschreibungen angewiesen. Die waren auch sehr gut, also präzise, kamen aber jeweils nur auf unsere Nachfragen hin. Von dem, was sie von ihrem Chamäleon erzählte, ergab sich bei mir bald der Eindruck, dass sie mit diesem auf Anhieb etwas gesucht und dabei bemüht ausgesucht wirkenden Haustier eine gute Wahl getroffen hatte. Es kommt da, wie bei Beziehungen, auf beide an. Insofern ist es ja schade, dass Katze und Hund für Erwachsene wie voreingestellt als Haustiere vermarktet werden. Ich nehme zwar an, dass es eine gewisse Anzahl sogenannter Halter gibt, die noch lieber als einen Hund ein Chamäleon ausprobiert hätten, oder einen Tukan, aber die werden dann ihren zu Recht weitreichenden Überlegungen zum Opfer gefallen sein. Beispielsweise, was ein potentieller Liebespartner dazu sagen würde, wenn er das Terrarium, wenn sie die Voliere entdeckt. Schon eine Katze kann den bis dato allein lebenden Mann aus dem Paarungskreisel ausscheiden lassen. Er wird quasi stigmatisiert als ein männlicher Blaustrumpf (man munkelt, er telefoniert noch beinahe täglich mit seiner Mutter). Die Chamäleonhalterin hingegen wirkte auf mich völlig normal – was möglicherweise schließen lässt auf mein Frauenbild.

Man füttert es einmal am Tag mit einer Grille, die man ihm irgendwo in die Nähe seines Treibholzes hinlegt, damit das Reptil das Gefühl bekommt, die Grille sei von sich aus da hingekommen, und es, das Chamäleon, würde sie nun auf freier Wildbahn erjagen mit seiner grotesk langen Fliegenpapierzunge. Denn das Chamäleon ist sensibel, es empfindet sehr viel. Das tun viele Haustiere, alleinstehende Katzenhalterinnen sind vor allem auch deshalb alleinstehend, weil es kein potentieller Liebespartner lange erträgt, dass in seiner Gegenwart, die allein seligmachend wirken soll, andauernd von den unerfüllten Bedürfnissen der Katze gesprochen wird (oder dass die so schwer zu erfüllen sind, woraufhin beim potentiellen Liebespartner zwangläufig die Vorstellung erzeugt wird, ob er wohl die Katze?), aber das Chamäleon besitzt als einziges der nicht unter Wasser lebenden Haustiere eine Haut, die wie ein Display seines Wohlbefindens funktioniert. Wenn es blaue Punkte anzeigt, erklärte uns seine Halterin, stimmt etwas nicht.

Schön eigentlich. Gibt es freilich auch in menschlichen Beziehungen, also falls man jemanden trifft, der noch keine Katze unter seinem Bett versteckt, keinen Hund dabei hat, nicht von einem Chamäleon erzählt (es geht ihm gut, wenn es fahlgrün anzeigt; mit diesem ganz leichten Stich ins Orangefarbene – »wie dieses Eis, das am Stiel.«)

Drüben in der Kommunenküche, deren Raum mir so lang erschien wie ein gelb gestrichener Tunnel (an dessen Ende war ein Badezimmer, das hatte ich gesehen und mir gemerkt), stand Kerstin mit Andreas unter der monströsen Dunstabzugshaube, aus deren Kuppel ein Halogenstrahl auf die beiden herunterzeigte. Vor zwölf Jahren war er auf der Straße in seinem Mercedes 190 an dem Haus vorbeigefahren, von dem er wusste, dass sich darin die Kommune befand (die in diesem Sommer ihr 25-jähriges Bestehen feiern wird. Der Bürgermeister hat sich angesagt. Andreas soll eine Buchpublikation vorbereiten, aber er weigert sich innerlich, vergisst es absichtlich), und bewarb sich wenige Stunden später dort vor dem wöchentlich einberufenen Plenum als Wohnpraktikant. Das war ein Novum. Das jemand dort erst einmal ein Praktikum machen wollte, um für sich herauszufinden, ob das Wohnen in einer Kommune etwas für ihn sein könnte. Und lernte dann dort während seines Praktikums die bereits dort auf Lebenszeit wohnende Kommunardin Kerstin kennen.

Und they took it from there.

19.2.

Auf die Geburtstagsfeier hatte ich mich jetzt eine Woche lang gefreut. Einerseits, weil ich Andreas schon lange nicht mehr gesehen hatte. Auch wenn ich an seinem Studio mehr oder weniger zufällig vorbeigekommen war, hatte ich ihn nie angetroffen (was allerdings auch nur zwei Mal vorgekommen war, seitdem wir uns zum letzten Mal kurz vor Weihnachten im Schädels begegnet waren). Andererseits, weil er in seine Kommune einlud, von der er mir schon häufig erzählt hatte, und auf die ich extrem neugierig war. Ich liebe Wohngemeinschaften und Kommunen. Ich finde es extrem fantasieanregend, wenn ich mir vorstelle, wie es wäre, in einer Kommune leben zu dürfen. Ich habe noch nicht einmal belastbare (oder stabile, wie es im Kreis der Gründerfamilie hieße) Erfahrungen in einer Wohngemeinschaft gemacht. Einmal, in den frühen Neunzigerjahren, war ich auf einer Dienstreise nach Berlin, von Hamburg kommend, in einer Kommune untergebracht. Die befand sich in der Yorckstraße in einem ausgedienten Fabrikgebäude. Auf jeder Etage wohnten dort um die 25 Menschen. Und zwar so, dass sie nicht nur nach Geschlechtern, sondern auch nach geschlechtlichen Neigungen sozusagen sortenrein auf den Etagen untergebracht waren. Aus mir heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen war ich damals auf dem heterosexuellen Frauenstockwerk untergebracht (während ich tagsüber ein Casting für Programmansagerinnen im Auftrag von Pro 7 im Hotel Intercontinental durchführte – Programmansagerinnen gibt es ja mittlerweile nicht mehr; aber immerhin noch das Hotel Intercontinental). Dort stand (also in der Frauenkommune, in die ich nach Drehschluss zurückkehrte) eine Presslufthupe neben dem Telefon (ein Festnetzapparat an der Küchenwand, Mobiltelefone waren noch nicht verbreitet (ich hatte aber schon eins!)), um, das fand ich auf Nachfrage heraus: in die Muschel hineinstöhnende Anrufer, von denen es damals wohl noch viele gab, durch einen Blast aus der Presslufthupe, die ihnen eigene Lust am Anstöhnen wildfremder Gesprächsteilnehmerinnen ein für allemal zu nehmen. Das Badezimmer dort war in Anlehnung an das von Friedensreich Hundertwasser gestaltete Bahnhofsgebäude von Uelzen mit buntgemischten Splittern von Fliesen und Spiegeln verziert. Aufregender aber, als durch Presslufthupe (die während meines Aufenthaltes dort übrigens nicht zum Einsatz kam) und diesen Fliesenbelag rings um den beeindruckenden Zahnbürstenbottich angedeutet wurde es dann doch nicht.

Was eventuell an der Kürze meines Aufenthaltes dort gelegen haben wird. Die Kommune, in der Andreas seinen Geburtstag feierte, war in den Neunzigerjahren in einem besetzten Haus entstanden. Ich war schon locker geschätzt eintausend Mal an seiner unsanierten Fassade vorübergegangen, denn mittlerweile liegt es ziemlich zentral (aber nicht das Haus ist umgezogen, die Stadt hat sich umgeformt). Im Erdgeschoss ist ein Kino, die Kommune beginnt eins drüber. Ein sehr kleiner Kommunarde hielt mir die Haustüre auf. Als ich eher anerkennend als mäkelnd eine Bemerkung machte betreffs der Dunkelheit im Treppenhaus, schaltete er das Licht ein. Andreas stand dort in der Küche, die freilich von riesenhaften Dimensionen war. Sämtliche Einbauten stammten aus der Küche eines Restaurants. Auf dem mächtigen Gasherd stand ein Topf, der bis zur Hälfte mit einer Fischsuppe gefüllt war. Das maximale Fassungsvermögen des Topfes war 100 Liter. Es gab einen Lagerplatz für Brote, auf dem sechs Laibe lagen. Einfach so. Der Brotberg fiel, ästhetisch gesprochen, nicht ins Gewicht. Go, try this at home!

Wenn man, wie ich, Gegenstände sehr mag, wird man sich in einer Kommune extrem wohlfühlen. Die einzelnen Gegenstände sind dort entweder sehr groß, wirken also skulptural, oder sie sind extrem zahlreich und, das hebt die Kommunenküche über die in einem Zeltlager oder in einer Mensa, Kantine et cetera: in sich dann variantenreich. Jede zweite Gabel sieht anders aus; es gibt nicht nur eine Suppenkelle oder zwei, auch nicht drei, sondern 15 und immer so weiter.

Selbiges gilt in ähnlichem Maße für die Menschen dort. In der Küche lernte ich eine Frau namens Daphne kennen, die selbst in einer Kommune in Nordhessen aufgewachsen war. Mittlerweile lebte sie in Berlin, und dort ganz normal, also in einer Wohnung für sich. Aber ihre Kindheit und Jugendzeit hat sie, privat wie es heißt, mit ihren Eltern unter anderen Menschen verbracht. Daphne sagte mir auf Nachfrage hin, dass sie es im Nachhinein als belastend empfand, das andauernd unangekündigter Besuch in der Wohnung anzutreffen war. Zumindest dass sie damit zu rechnen hatte als Jugendliche und Kind. Und dass einige dieser Besucher schlecht einzuschätzen waren. Diese Erosion des Sicherheitsgefühls, im Prinzip ja die Zerstörung des Wohnens, gehörte und, wie mir schien: gehört noch immer zur Kommune. In der Kommune, in der Andreas nun seit zwölf Jahren lebt, wohnen die Genossen nach dem Rotationsprinzip. Das bedeutet, dass sie nach bestimmten Zeitabständen in ein anderes Zimmer umziehen müssen, um sich gar nicht erst als Besitzende ihrer Privaträumlichkeiten empfinden zu können. Die Gemeinschaftsräume – die Küche, der Speisesaal und ein Wohnzimmer mit sogenannter Terrasse – bilden davon unberührt das allgemein besessene Zentrum. Die Kommune, das macht den Reiz für mich aus, ist in dieser Form die städtische Wohnform, in der die Villentheorie Rudolf Borchardts überleben konnte: als Dorf, als Versorgungsgemeinschaft nach eigenem Gesetz. Es kann gut sein, dass es dieser mediterrane Flair ist, der mich vor allem in der Wintersaison für den Gedanken der Kommune einnimmt. Aber das allein kann es nicht sein. Als ich dort gestern mit dreißig anderen an der langen Tafel im Speisesaal saß, Gesprächsgeräusche, Suppe sehr gut, dachte ich unweigerlich, dass dies meiner Vorstellung am nächsten kam, die ich einst hatte, als ich, auf dem Land aufgewachsen, an ein mögliches Leben in einer Stadt gedacht hatte. Und dass ich das nie hatte verwirklichen können für mich, außer während dieses kurzen Aufenthaltes (und dann ganz allein unter Frauen, was nicht recht zählt). Weil es diese Form des Zusammenlebens, die Kommune, damals zu Beginn der Neunzigerjahre schon gar nicht mehr gab. Oder zumindest in diesen Kreisen nicht, in die ich damals hineingeraten war.

18.2.

Als erster Gast der Vernissage hatte der Fischer die Galerie betreten. Im typischen Neonlicht vor weißen Wänden wirkte er dort selbst wie ein Ausstellungsstück. Bald kamen mehr und mehr Gäste, die, kaum anders als der Fischer, aber auf entscheidende Weise anders gekleidet und frisiert waren als er. Nun ergab sich das Bild einer Ausstellungseröffnung. Der Fischer verabschiedete sich von Erik und fuhr zurück in sein Haus am dunklen See. Ich hatte ja angenommen, der Fischer habe ohnehin in der Stadt zu tun gehabt. Fische ausliefern, naheliegenderweise. Oder etwas besorgen, was es dort draußen nicht gab. Aber er war wohl eigens dafür nach Berlin gefahren. Ein feiner Mann. Das war mir damals schon aufgefallen, als er mir die Fischknochen an seinem Weihnachtsbaum einzeln erklärt hatte. Wir würden ihn dort bald wieder besuchen müssen. Auch seines Räucherfischs wegen. Angeblich kann man ja in warmen Monaten mit einer Draisine zu ihm.

Auf dem Heimweg schauten wir noch in einer Pianobar vorbei, in der Filmstudenten aus Georgien ein Fest feierten. Wir kannten dort niemanden, aber es gab sehr viel zu essen. Möglicherweise waren die Gastgeber auch aus Armenien, denn in den Salaten waren nur wenige Walnüsse zu finden. Man nahm die Salate im Stehen ein, weil es nicht ausreichend Stühle gab. Am Flügel saß der herrlich ungesund aussehende Klavierspieler, der mir vage bekannt vorkam, aber ich war mir nicht sicher. Wir wünschten uns was von Gonzales. Nach drei Stücken, zu denen auch getanzt wurde, fragte ich nach Steve ‚Silk‘ Hurley. Er zwinkerte. Eine angeblich berühmte Schriftstellerin in einer karierten Bluse, deren Gesicht hell gepudert war, sodass es wie aus Plastik gemacht wirkte, drehte sich von ihrem Sitzplatz an einem vollbesetzten Tisch um und nahm ein Foto von ihrem eigenen Gesicht auf. Das Buffet wurde andauernd mit neuen Schüsseln bestückt. Das ging dann noch bis Mitternacht, bald musste die Bar schließen. Zum Abschluss spielte er noch Good Life (in der Version von Sueño Latino; davor war es La vie en rose gewesen von Grace Jones).

Kurz vor dem Potsdamer Platz, auf dem Abschnitt der Straße, wo die großen Flächen im Erdgeschoss derzeit noch von Galerien mit uninteressantem Programm trockengewohnt werden, bis dann auch dort, unterhalb von Andreas Murkudis, teurer vermietet werden kann, hielt ich vor einem Schaufenster inne. Ein Taxi stand im bloßen Raum, die Motorhaube aufgestellt. Drumherum war es dunkel. Die gelbe Taxilampe war angeschaltet und verbreitete ein mildes Licht. Das sah so schön aus, war aber leider gar keine Kunst. Erst nach einer andächtigen Weile hatte ich feststellen müssen, dass ich hier vor einer Filiale von Carglass stand.

In der S-Bahn spielte das iPad mit der ihm eigenen Stimme, der eines synthetischen Glockenspiels, den Auftakt von Guten Abend, gut‘ Nacht: Die Schlafenszeit-App erinnerte mich daran, in fünfzehn Minuten ins Bett zu gehen.

17.2.

Am Beispiel dieses Bildes eines Tukans. Wie er da sitzt auf dem Rand einer Trinkschale aus transparentem Kunststoff, in der sich eine Schicht Wasser befindet. Darunter, am Boden, ist der gelbliche Ton des Sandes zu sehen. Die Wirkung dieser Farbfläche ist beruhigend. Man nimmt den typischen Farbton wahr und schließt von ihm auf Käfighaltung; aber Zoo, professionell. Der kleine, grasgrüne Gegenstand aus Plastik, der sich an der Wasserschale befindet, eventuell handelt es sich um ein Ventil, um eine Halterung, ist ebenso wichtig. In seiner Funktion im Leben des Tukans wahrscheinlich nicht so sehr wie in seiner Funktion in diesem Bild.

Den Schnabel schaue ich lange an. Natürlich. Zu Anfang kurz, ganz einfach, weil er um so vieles länger scheint als das übrige Tier. Auf den ersten Blick wie dranmontiert. Dann genauer nachgedacht: Nein, das war eine Idee, die nicht vom Hinschauen ausgelöst wurde. Keine Erkenntnis aufgrund des Geschauten. Dass der Schnabel des Tukans wie dranmontiert erscheint ist ein Witz. Dieses Bild eines Tukans weist auf anderes hin.

Sein Auge, die Umrandung vielmehr. Der hübsche Doppelkreis aus Weiß und Rot. Dass selbst diese Linien aus Federn entstehen! Aus der Art wie sie gemustert sind im Einzelnen. Aus deren Anordnung, wie sie sich legen, entstehen die Ornamente. (Der Tukan kann seine Federn auch sträuben wie jeder Vogel, wie ein Pfau, aber ob er das willkürlich kann; also um partiell andere Muster hervorzurufen, insbesondere rings um seine Augen herum, das möchte ich bezweifeln. Ja, das möchte ich. Weil es mir unheimlich vorkäme, wenn er das tatsächlich könnte – wozu?)

Unweigerlich sehe ich einen Pinsel und eine Hand, die diesen Pinsel mit dem spitzen Griff ganz ruhig um das Auge des Tukans führt, um ihm den Kreis in Weiß, um den in Rot am Augenrand anzubringen. Um ihn, den Tukan zu vollenden. Und ich sehe seine Augendeckel einmal auf- und wieder zuklappen. Eine zarte, ledrig eingefaltete Haut wie von einem winzigen Elefanten. Dies unerschütterliche Blinzeln – ungerührt fährt der Tukan fort, mich anzusehen – ist Fiktion. Einbildung. Auch die Hand mit dem Pinsel gibt es nicht. Den Augenblick der Vollendung. Die eilig entgrateten Kunststoffsorten in verschiedenen Farben, Blau unter anderem, milchiges Orange, aus denen sein Schnabel zusammengesetzt wurde. Alles eingebildet. Ich habe mir all dies eingebildet, während der Betrachtung dieses Bildes.

»Schau noch mal hin«, sagt Wolfgang Tillmans. Look again! Das Bild eines Tukans ist ein Gedicht. Von Durs Grünbein war gestern ein schönes auf der ersten Seite des Feuilletons. Ich hatte es lange übersehen, so dekorativ war es mit seinem Rahmen in einen großen Text eingesetzt. Ich las das Gedicht wieder und wieder, es schien mir dafür gemacht. Speziell ich sollte es so lange lesen, bis sich der erste Anflug von Sinn davongemacht hatte. Verflogen. Er, das lyrische Ich, wünscht sich Reptilienhaut.

Look again. Nicht alles lässt sich durchdringen. Manches bleibt zu. Ich verstehe nicht, weshalb der Palast der Republik abgerissen wurde – und jetzt wird die Landshut gekauft.

16.2.

Kurz vor der Schöneberger Brücke, am Ufer, springen die Leuchttafeln im Bus, es sind viele, um und dann steht dort auf allen in einer gelben Schrift »Deutscher Widerstand«. Es ist bloß der Name einer Haltestelle, der Name ist eigentlich noch länger, die Worte verfehlen ihre Wirkung nicht.

Die Sonne scheint, jedes Körnchen Rollsplitt auf dem Bürgersteig wirft einen Schatten. Ein neues Blau am Himmel. Es geht, ich kann es kaum fassen, ein lauer Wind. Und zum ersten Mal seit Monaten brauche ich die Handschuhe nicht mehr.

Mittags im Kinocenter am Potsdamer Platz: Ich hatte das mit der Berlinale unterschätzt, es sind Hunderte Menschen, allein in meinem Saal etwa vierhundert, die sich den ganzen Tag über Filme ansehen. Ob wollen oder müssen, ich könnte es nicht. Mich hat eigentlich auch nur interessiert, wie in diesem Film, einem australischen, Berlin aussieht. Es geht gleich gut los (am Kottbusser Tor). Darauf scheinen sich alle Filmemacher geeinigt zu haben: Berlin, die gelb gestreiften Balkons, Möbel Olfe, Kottbusser Tor. Unser Bankenviertel. Ein Sonnenaufgang über der Museumsinsel wird gezeigt, eine Passagiermaschine fliegt durch den rostbraunen Streifen. Im Vordergrund, unscharf, die Patina der großen Kupel, ein bisschen Gold: schön. So sehe ich das selbst nie, geht ja auch gar nicht (aus optischen Gründen). Im Bus las ich auf dem Oberdeck im Sonnenschein das schöne Interview von Dominic Eichler mit Wolfgang Tillmans, da geht es genau darum: wie man das abbilden könnte, was man sieht. Es geht nicht! Was man gesehen hat in einem Motiv, kommt in der Kamera anders an. Die nimmt es physikalisch auf, du: psychologisch. Ganz dumm ausgedrückt. Mit dem Schmerz muss man zu arbeiten wissen. Diese Behinderung verstehen und in das Motiv hineindenken. Seinen Bildern, vor allem den Stilleben, sehe ich das an. Seinen liebevollen Blick. Hingabe. Hoffen tue ich es nicht, aber ich bezweifle es einfach, dass es eine technische Lösung geben wird, um vielen oder beinahe allen eine solche ergreifendere Fotografie im tillmanschen Sinne ermöglichen zu können. Also durch einen Filter beispielsweise, der diesen liebevollen Blick emuliert. Ich sehe ja schon auch, dass die Fotos, die jemand mit seinem iPhone gemacht hat, einen anderen Eindruck hinterlassen, als die von jedem anderen Telefon. Und das interessanterweise auf allen Endgeräten, auf denen man sie sich anschaut – nicht bloß auf dem Display eines iPhones. Sie wirken auf Anhieb technisch gelungener, auch schärfer, auch mit ihren verlagerten Schärfen und ihrer Farbigkeit, die in sich besser aufeinander abgestimmt scheint.

Perverserweise fing es in dem Film dann nach wenigen spätsommerlichen Szenen auf der Oranienstraße bald zu schneien an. Dick verschneite Bäume, es wurde auch so gut wie überhaupt nicht mehr hell. Auch das Ende dann nachts.

Draußen gottseidank strahlende Luft, Biergläser im Sonnenschein, der noch ein paar Stunden halten würde – es war ja erst Nachmittag. Eigentlich ist Kino eine gute Erfindung, finde ich. Nicht auszudenken, wenn ich da jetzt aus der Tür herausgekommen wäre und es wäre auch dort noch Winter gewesen und schon wieder Nacht.

15.2.

Seltsam, im Internet finde ich keinen Namen für den Erfinder des snooze button. Die Hinweise bleiben vage und verweisen auf die Jahre 1956 oder ´57, in denen ein amerikanischer Hersteller das wohl erste Gerät auf den Markt gebracht hat mit solcher Funktion, die damals noch in Form einer Snooze-Wippe zur Verfügung stand.

Ich war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass ich lediglich »Erfinder Snooze« einzutippen bräuchte, um auf den Wikipedia-Eintrag eines Menschen verwiesen zu werden. Vielleicht gibt es ihn gar nicht, den einen Erfinder, und die Schlummerfunktion ging aus einem Kollektiv hervor. Möglicherweise hielten die Ingenieure des Weckerherstellers ihre Zusatzfunktion für einen Gag, mehr nicht (so ähnlich wie die Erfinder von SMS). Mit der Snooze-Wippe, das Gerät wird auf den Abbildungen in Rosa gezeigt, hatte der Geweckte die Wahl zwischen zwei verschieden lang verzögerten Weckintervallen. Angeblich, so las ich im Umfeld des Themas Snooze, ist das maschinell gesteuerte Weiterschlummern schlecht für das Wohlbefinden. Nachdem man ein, zwei oder noch mehr Mal auf die Snooze-Taste gedrückt hat, fühlt man sich angeblich teilweise schlechter ausgeschlafen als beim ersten Wecken. Kann ich mir nicht vorstellen. Es ist doch in jedem Fall eine Verlängerung der Schlafzeit. Dazu kommt das schöne Gefühl der Selbstbelohnung, wenn ich auf die Schaltfläche drücke, um mir noch etwas Schlummer zu schenken. Besonders schön finde ich es, wenn ich nach einiger Zeit des Schlummerns aufwache und mit Blick auf den Timer feststellen kann, dass mir noch einige Minuten geblieben sind, bevor der Wecker sich erneut meldet – mir aber auch erneut die Schlummerfunktion anbieten wird. Neulich früh, ich snoozte, entdeckte ich an mir den Wunsch, einmal eine ganze Nacht hindurch mich von der Snoozefunktion wecken zu lassen, um dann immer wieder auf »Snooze« zu drücken, sodass ich nach ein paar Minuten wieder aufgeweckt werden und weitersnoozen würde. Dabei selbst im Schlummer, das Bewusstsein nur halb an und dabei zu einem Teil auch in der Erwartung des baldigen Weckrufes versammelt, die Konzentration schon auf ihrem Weg in die Fingerspitze, die dann die Schaltfläche noch ein weiteres Mal betätigen würde, stellte ich mir das als einen Reigen der Selbstbelohnung vor, als Paradies. Eventuell kombiniert mit künstlicher Ernährung.

14.2.

Gestern begegnete ich einem Mann wieder, den ich viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Damals nannte man ihn den Regenwurm. Er sah immer noch so aus. Wir begegneten uns zufällig, weil er mir von der aufwärts führenden Rolltreppe entgegengefahren wurde, während ich selbst gerade abwärts fuhr. Wie in dem Gedicht topographie c von Helmut Heissenbüttel, mit dem ich eine wichtige Erinnerung verbinde, weil ich beim Lesen dieses Gedichtes auf einer Fotokopie die Möglichkeiten der Poesie vermittelt bekam mit seinem »Schrei der Möwe, der noch immer meine Schwester ist«. Manche hatten geglaubt zu wissen, der Regenwurm sei Organist. Dabei war es unmöglich zu erraten, was er machte. In der Öffentlichkeit machte er so gut wie gar nichts außer Kaffee trinken und geradeaus schauen. Im ersten Sommer hatte er sich gelegentlich mit einer Nachbarin über das Übliche unterhalten. Da waren, so oft ich es überhaupt mitbekommen hatte, keinerlei Rückschlüsse möglich gewesen auf sein Leben. Auch gestern: dass er sich kein bißchen verändert hatte. Er trug die keilförmige Kappe, wie ich sie bei ihm in Erinnerung behalten hatte. Er erkannte mich nicht.

Und noch immer plane ich jeden Fußweg als viel zu kurz ein und muss mich dann sehr beeilen, um noch pünktlich sein zu können. Das passiert mir sogar bei Wegen, die ich gut kenne. Ich nehme an, das liegt daran, dass ich die wahren Distanzen nicht wahrhaben will. Oft ist ein vermeintlich kurzer Weg durch Berlin in Wahrheit derart weit, insbesonders bei diesen Temperaturen, dass ich mich selbst betrügen muss, um mich zu motivieren. So verdränge ich dann regelmäßig die Breite der Straßen. Es gibt sie nicht, wenn ich mir einen Fußweg bis zur nächsten Haltestelle vorstellen muss, und so kommt mir die ganze Strecke in so und so vielen Minuten machbar vor. Aber dann stehe ich gestern am Rand der vierspurigen Hardenbergstraße – es könnten auch sechs Spuren sein, acht, sie würde nicht noch viel breiter angelegt sein müssen – und dort erkannte ich in diesen breiten Straßen, von denen es in der Stadt sehr viele gibt, den Hauptfaktor des Berliner Stressproblems: Ich nenne es den Berliner Schnitt. Dieses Gesetz der Disproportion sieht es vor, eine Straße so unabsehbar lang wie nötig und dabei so unüberwindlich breit wie möglich zu planen. In der Mitte dieser unablässig von Verkehrsmitteln befahrenen Asphaltbahn gibt es eine unabsehbar lange Insel, sehr schmal, auf der eine Fußgängerampel aufgestellt wurde. Diese wird so geschaltet, dass sie immer rotes Licht zeigt. Die am ganz anderen, dem gegenüberliegenden und rettenden Ufer hingegen zeigt öfters mal Grün. Springt die mittlere, die die Hoffnung anfächelnde Ampel, die von den im Frieren wartenden Passanten als Leuchtturm empfundene, auf grünes Licht um, macht die am anderen Ufer eine Pause und zeigt rot an. Die Phasen, in denen der Straßenverkehr an den vom Warten schon ganz durchgefrorenen Passanten vorbeidröhnt, sind so lange wie nur möglich einzustellen. Idealerweise braucht ein Passant von durchschnittlicher Beweglichkeit um die vier Minuten, um eine Straße zu überqueren, die nach dem Gesetz des Berliner Schnitt gestaltet wurde. Unabhängig von diesem Gesetz gibt es noch eines, dass keinen Namen trägt. Es regelt die Häufigkeit, mit der solche unabsehbar langen, unüberwindlich breiten Straßen nacheinander vorkommen sollen im Stadtplan von Berlin. Demnach sehr häufig.

13.2.

Verrückt, nein: erstaunlich, wieviel Nahrung ich verbrauche, wenn ich den Tag über nichts anderes mache, als am Tisch zu sitzen und zu lesen, schreiben, das Geschriebene zu lesen, während ich es schreibe und hinterher. Hauptsächlich gelesen also, ein stiller Vorgang, bei dem die Arbeit im Inneren des Körpers geleistet wird. Ernährungsphysiologisch lässt sich der hohe Energieverbrauch bestimmt mit dem Gehirnstoffwechsel erklären, es ist ja ein großes Organ. Trotzdem habe ich gestern alles aufgeschrieben, was ich im Laufe dieser Stunden meinem Gehirn so alles zuführen musste; die Zubereitung der Speisen schafft freilich noch zusätzlichen Energiebedarf:

1 Liter Vollmilch
2 Eier
75 Gramm Butter (gesalzen)
50 Gramm Zucker
3 Orangen
1 kleines Brot
500 Gramm Joghurt
120 Gramm Leberwurst
1 halbe Salatgurke
180 Gramm Emmentaler Käse
1 Liter Nudelsuppe
2 Weichkaramellbonbons
200 Gramm Cornflakes

Die Liste liest sich, als ob ich einen Gast gehabt hätte (dem war aber nicht so). Wenn sich dann noch, wie bei der Raupe Nimmersatt, diverse Törtchen, ein Lolli oder gar Schokolade im Schrank befunden hätten, wären sie ebenfalls aufgegessen oder zumindest durchlöchert. Und ich war immer noch nicht satt.

12.2.

In einem melodramatischen Sonnenaufgang, der sich über drei Stunden hingezogen hat, erscheint lange nichts als eine beige Zone und darüber bleibt es dunstig. Dann fällt ein Strahl auf die Teekanne, die zu leuchten beginnt und ihre kleinen Punkte an die Decke wirft. Am Boden liegt eine alte Ausgabe der Zeitung mit dem halbseitigen Foto in Schwarz-weiß aus dem Plenarsaal in Bonn mit den kastig schwarzen Möbeln, die, wer weiß wohin, verschwunden sind (und ob sie irgendwo noch eingelagert sind). An ihrem ersten Arbeitstag, dem 29. März 1983, ist darauf die Abgeordnete der Grünen, Marieluise Beck, zu sehen. Sie trägt einen Pullover aus flauschiger Wolle über ihrer weißen Bluse und lacht aus vollem Hals. Vermutlich nicht über einen Witz aus ihrem Umfeld, sondern über eine komische Stelle in einem Vortrag, denn der unweit entfernt von ihr sitzende Bundeskanzler lacht ebenfalls. Die Finger ihrer linken Hand hält sie zusammengefaltet, zu keiner Faust, eher so, als hätte sie von diesen Fingerspitzen etwas fortgeschnipst. Nicht allein, weil es eine historische Aufnahme ist – und weil dieser Pullover, den sie trägt, der den Grauwerten der Abbildung nach eventuell gelb war, grün, orange oder rosa, seltsam zeitgenössisch wirkt; das betrifft auch ihren Haarschnitt –, wirkt dieser fröhliche Moment wie ein zum Laufen gebrachtes Filmbild, angeklickt von einem ersten Sonnenstrahl.

Auf der zugefrorenen Fläche am Ufer haben sich einige Kraniche versammelt, die dort in ihren weiß strahlenden Federkleidern wie aufgereiht sitzen. Enten verfolgen sich über das Eis und über dem Wasser dahinter, das im Sonnenschein schon wieder blau wirkt, so blau wie im letzten Jahr, startet ein Kormoran zu einem Erkundungsflug durch. Auf die ihm eigene, gewissermaßen ihm eingebaute, mühselige Weise. Er kann ja nicht anders, und trotzdem würde ich ihm beinahe gerne zurufen: Nichts dazugelernt! Es quietscht und es zwitschert. Anima Latina von Lucio Battisti untermalt das sehr schön.

John Baldessari fragt: »Warum haben die Höhlenmenschen keine Stillleben gemalt?« Auch die damaligen Landschaften stelle ich mir ziemlich spektakulär vor.

Als ich gestern von dem Cargo-Kult um das alte Flugzeug las, Eckart Lohse, einer meiner absoluten Lieblingsautoren hatte das beschrieben: Die ehemalige Lufthansa-Maschine mit dem ehemaligen Namen Landshut, die, nachdem sie durch viele Hände gegangen war, jetzt irgendwo in Südamerika steht und dort versteigert wird, soll möglicherweise, zumindest wird das anscheinend erwägt, vom Staat erworben, aufwendig, entweder ganz oder in Teilen filetiert, nach Hause transportiert und hier ausgestellt werden. In dem Text wird der Wunsch der GSG 9 erwähnt, das sechs Meter hohe Leitwerk wie ein Hirschgeweih als Trophäe auf einer Kaserne aufzubocken. Wie ein Dinosauriergerippe (im Naturkundemuseum in der Invalidenstraße steht eines auf verspiegeltem Podest). Oder wie ein Wirbelknochen eines Pottwals (in Peru, dort liegen die hier und da in der Landschaft herum, aber als Hinterlassenschaften). Interessant, wie in dem Text subtil nachgezeichnet wird, wie aus dem neutralen Ding Flugzeug, das wie gesagt jahrzehntelang weiter von diversen Fluggesellschaften als Verkehrsmaschine benutzt worden war, dann in der Politikerrede plötzlich etwas Weibliches gemacht wird, das schützenswert wirkt und des Erhalts mehr als würdig. Einfach durch den ursprünglichen Namen: die Landshut. Eine Sie. Selbst noch in ihren Fragmenten.

11.2.

Aufgewacht und dann lange herumgelegen mit dem präsidialen Gefühl, mir einen Überblick über die äußere und innere Lage verschaffen zu müssen. Alles schien unklar, mulmig, nicht verwirrt, trotzdem unübersichtlich, vom Erleben in Räumen bestimmt. Vermutlich, so dachte ich, ist das auch das mit Abstand Schlimmste für Dich in diesen Tagen: dass es kein Dazwischen mehr gibt. Du eilst von Raum zu Raum (weil es dort warm ist, hell). Das Unterwegssein aber findest du fruchtbarer als das Angekommensein. Möglicherweise liegt das am Alleinesein.

Die Erinnerung an den Mittag in der Konditorei zu Bonn, wie sich dort der Raum nach und nach mit fremden Menschen gefüllt hat; gemeinsam zu beobachten, was die sich im Einzelnen bestellt haben und wie sie es einnahmen: auch als einzelner Beobachter ist das möglich, die Möglichkeit besteht nicht sogar, sie besteht auch in Berlin, aber es entsteht nicht dieselbe Freude, es macht auf eine andere Art Lust, zu beschreiben, was sich vor mir abspielt, wenn ich es in einen Text einschreiben kann (und nicht in Dich).

Lust am Text, ja, aber. Vor ein paar Abenden, als ich im Zwiebelfisch verwechselt wurde, da saßen an einem erhöht gebauten Tisch neben mir zwei Männer, die sich mit durchdringenden Stimmen unterhielten, sodass ich nicht anders konnte, als sie passiv zu belauschen (falls es so etwas überhaupt gibt analog zum Passivrauchen). Der Modus ihrer Unterhaltung bestand aus dem permanenten Selbstzitat. Das geht ja jetzt ganz leicht, indem man dabei vom Display seines Telefons abliest wie von einem Teleprompter. Und so lasen sie sich gegenseitig im Wechsel ihre jeweiligen Postings vor. Die freie Rede diente der Überleitung zum nächsten Posting, hin und wieder kam es zu Nachfragen der jeweiligen Gegenseite bezüglich spezifischer Re-Postings oder Replyings, woraus dann im wechselseitigen Vortrag ihre Unterhaltung entstand. Höchst intertextuell also. Der eine, offenbar im Lobbying oder bei einer Partei beschäftigt, wechselte dabei zwischen zwei Geräten ab, eins für private Zwecke, das andere dienstlich. Nicht nur deshalb stand ihm eine größere Zahl an Zitaten zur Verfügung. Er war, das stellte sich bald heraus, weil der andere, der zudem noch leicht übergewichtig war, bald beinahe verstummte, auch näher dran an den wichtigen Themen. Ich nahm an, er arbeitete für die CDU, weil es bei ihm ausführlich um schiefgegangene Briefings für Julia Klöckner ging, auf deren Grundlage diese dann in diversen Interviews mit regionalen Fernsehsendern schlecht abliefern konnte. Je weniger der andere ihm entgegenzuhalten hatte, umso dröhnender trug der eine seine Textbausteine vor, um sie dann selbst zu interpretieren. In diesem Vortrag fiel dann der Vergleich des Kanzlerkandidaten Schulz mit dem amerikanischen Präsidenten Trump, den ich an jenem Abend als abstruses Detail nahm, in der ohnehin auf mich abstrus wirkenden Art der Gesprächsführung frischwegs vom Display.

Dann passierte das mit der Verwechslung. Und überdeckte das zuvor Erlebte, weil mich der Gedanke an einen Anderen in Beschlag nahm. Aber als ich zwei Tage später dann eben dieses Argument gegen Martin Schulz als Zitat des Finanzministers in der Zeitung wiedergegeben fand, kam die Erinnerung zurück an die beiden auf ihren Hockern. Sie bedeutet nichts. Auch in der Politik wird gearbeitet und die Arbeiter dort haben auch irgendwann Feierabend und gehen dann noch ein Bier trinken, warum auch nicht.

In der Druckersprache, so steht es in diesem Lokal in der Speisekarte, bedeutet der Zwiebelfisch einen Buchstaben aus einer anderen Schrift, der sich ins Schriftbild des Textes verirrt hat. So war ich an jenem Abend im Zwiebelfisch so einer für die Frau, die mich mit dem Anderen verwechselt hatte. Und das Zitat des Mannes mit den zwei Telefonen wurde zum Zwiebelfisch in meinen Augen, als ich ein paar Tage später die Zeitung las.

Klaustrophobie und Entropie: »it’s a hell of a combination«, heißt es in Coffee and Cigarettes.

10.2.

In den Zeitungen hier wurde es nur gemeldet, die NZZ macht einen großen Artikel daraus: es gab und gibt in diesem Winter nur sehr wenige kleine Vögel in den Städten zu sehen. Vermisst wurden, offiziell also nicht bloß von mir die Meisen, Spatzen und Finken. Der Deutsche Naturschutzbund hat in seiner alljährlichen Vogelzählung Stunde der Wintervögel ermittelt, dass der Rückgang um ein Drittel der sonst üblichen Zahl liegen wird. In der Schweiz gibt es eine solche Zählungsinitiative, an der in Deutschland erfreulicherweise 180.000 Vogelfreunde mitarbeiten, nicht. Aber schon seit dem November des vergangenen Jahres meldeten sich laut NZZ besorgte Schweizer bei der Vogelwarte von Sempach: »Sie sind besorgt und wollen wissen, wie sich das Ausbleiben der Gartenvögel erklären läßt«.

Sehr wohl gemessen wird in der Schweiz, einem Agrarland, der Ertrag der Buchen. Die Rede ist dort von der im Frühling einsetzenden Buchenmast. Die Bäume (Fagus) waren im Herbst 2016 außergewöhnlich fruchtbar, die Zeitung spricht von einem tonnenweise vermehrten Abwurf von »Bueche-Nüssli«, also Bucheckern, wie zuletzt vor 30 Jahren. Demzufolge handelt es sich um ein europaweit verspürtes Phänomen; jedenfalls soweit dort Buchenwälder stehen.

Der Text führt die in Deutschland und Schweiz separat gewonnenen Erkenntnisse über anfallende Bucheckern in den Wäldern und ausbleibende Kleinvögel in den Gärten zusammen, und überlässt seinen Lesern den desillusionierenden, sogar traurigen Schluss, dass die kleinen Vögel sich nicht etwa freiwillig, oder der liebevoll gefüllten Futterhäuschen wegen in die Städte aufmachen, sondern in Hungersnot. Wenn, wie in diesem Jahr, ausreichend Bucheckern, Bueche-Nüssli und wie sie in den anderen Sprachen auch heißen werden, auf dem Boden der Wälder zu finden sind, bleiben sie wahlweise dort.

Auch für die Birdwatcher und Vogelfreunde haben die Schweizer einen eigenen Begriff. In der NZZ werden sie als »Küchen-Ornithologen« bezeichnet.

9.2.

Gestern Abend wurde ich zum ersten Mal verwechselt. Ich saß im Zwiebelfisch und las in der NZZ, da beugte sich eine Frau zu mir herunter und fragte höflich, ob ich in der Herderstraße wohne. Das konnte ich guten Gewissens verneinen. Sie blickte mich an. Konnte sich aber sichtlich nicht von ihrem Eindruck lösen. Auch meine Stimme, die Art wie ich sie beim Antworten angesehen hatte, wie ich sprach, schien sie nicht überzeugt zu haben: »Sie sehen jemandem ähnlich, der in meiner Nachbarschaft wohnt.« Nach meinem Namen hatte sie mich nicht gefragt.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie sagte: »Er sieht genau aus wie Sie«. Dann erst bat sie mich um Entschuldigung. Ich fragte die blöde Frage, ob er denn wirklich genau so aussähe wie ich. Dabei starrte sie mich an. Offenbar wurde ihr Eindruck von Neuem belebt, sobald ich mit ihr sprach. Ich war für sie wie eine Erinnerung an den anderen, die ein Eigenleben begonnen hatte. »Gut, dass Sie es nicht sind«, sagte sie im Gehen. »Er ist kein angenehmer Mensch.«

Ich zahlte und ging. Kam an ihrem Tisch vorbei, wo sie mit einem Herrn in ihrem Alter saß. Sie unterhielten sich leise. Ich konnte nicht anders als anzunehmen, dass es um mich ging.

Oder um den anderen.

Der andere. Das ging mir lange nach. Der Gedanke kam immer wieder. Ich schaute mir die Herderstraße, von der ich zuvor noch nie gehört hatte, in Streetview an. Eine kurze Stichstraße in der Nähe der Oper.

Um 3:30 Uhr wachte ich auf und dachte in der Dunkelheit schon bald wieder an diese Straße. Und war anscheinend bereits im Plänemachen begriffen, mir diese Straße zumindest einmal anzuschauen. In der verhohlenen Absicht, dort dem anderen zu begegnen. Es würde beruhigend sein, wenn ich dann feststellen könnte, dass er mir nicht derart ähnlich ist. Was, wenn doch? Beziehungsweise: Würde ich überhaupt erkennen können, wenn er mir zum Verwechseln ähnlich wäre? Ansprechen würde ich ihn auf gar keinen Fall. Womit denn? »Wir sehen uns ähnlich, finden Sie auch?«

Er mich aber vermutlich. Denn wie die Frau sagte, ist er kein angenehmer Mensch.

8.2.

Hildesheim. Der Modepark Röther dort (das cremefarben gestrichene Gebäude heißt wirklich so, und es hat kaum Fenster). Auf Hildesheim zu und von Hildesheim weg führt eine Allee über Land, ein paar hundert Meter dahinter verläuft noch eine, sodass sich in der Vorbeifahrt ein Fries ergibt aus ineinanderlaufenden Reihen von Bäumchenskeletten wie aus einer Laterna Magica an die Wand geworfen.

An welche Wand?

An irgendeine. An eine, die Dir lieb ist. An der Du dies Bild sehen willst.

Weiden werden ausgeputzt, Arbeiter tragen Leuchtkleidung, die Wurzelballen wurden freigelegt wie Zahnhälse (unwillkürlich zog ich Luft ein durch die Zähne, obwohl das ja dann besonders wehtut). Kurz vor Braunschweig standen vier Rehe auf einer durchweichten Wiese – drei schauten weg und eins schaute her, und allesamt machten sie ein erstauntes Gesicht, weil das bei dieser Tierart ja durch den gesamten Körper geht, das Erstarren der Mimik.

Die weißen Blumen!

Nur ein paar Minuten weiter schwingt sich am selben Himmel die Silhouette eines Raubvogels auf. Hinter ihm ist alles milchgrau, aber das sieht er nicht.

Der Zug bremst. Rechts ist es grünlich, links strohfarben, es ist ein außerplanmäßiger Halt. Wie unordentlich die Landschaft zu dieser Jahreszeit wirkt. Als sei es egal, weil sowieso niemand genau hinschaut. Und wie ich das denke, schaue ich weg.

Der Zug, also sein Lokführer, versucht nun, die vergangene Zeit wieder gutzumachen; sie einzuholen.

Es geht durch Kurven. Dem Gegenüber schwappt sein Weißbier erst links, dann kontrapunktisch rechts aus den Mundwinkeln (wie beim Zähneputzen). Ich tät‘ gern dazu gurgeln (tue es aber nicht).

Draußen die Pappeln wie Bürsten, die Wälder wie irgendwas; insbesondere die Birken sehen schäbig aus. Jetzt täte ein Fluss gut, zur Not auch ein See. Aber es kommt nichts.

Sad.

Bald führt die Landschaft links und rechts einen weißlichen Streifen mit. Offenbar wird es kälter. Dann kommt Berlin. Herbert, der Pharmavorstand vom Wasserhäuschen, konnte das, wie er betonte: »einzige Gedicht« von Franz Kafka rezitieren. Darin kamen unter anderem auch Spaziergänger vor, die nackt – also unbekleidet – im Kies unterwegs waren. Und ich hatte Herbert ermahnt, hatte gesagt: So etwas gibt es doch nicht – nackte Menschen, draußen.

Und Herbert, mit großen Augen: in Frankfurt schon.

Im Traum leuchtet jemand mit der Taschenlampe in Tütensuppen und zeigt mir das bunte Granulat.

7.2.

Im vierten Stockwerk unseres Hotels gab es im Treppenhaus eine Tür, auf der in vergoldeten Buchstaben Helmut Schmidt stand. Sonst nichts. Also keine weiteren Erklärungen. In einem der umliegenden Gänge, die ansonsten menschenleer waren, bis auf einen einzelnen Mann, der hinter einer Glasscheibe auf einem Laufband trainierte, trafen wir auf eine Arbeiterin des Reinigungspersonals und befragten sie (auf Englisch), nach dem Raum hinter dieser Tür.

»It is conference room.«

Da es Sonntag war, hatte die Hotelküche geschlossen. So lautete zumindest die Begründung der Rezeptionistin, die uns einen Fächer aus den faltbaren Speisekarten von Bonner Bringdiensten aufs Zimmer gebracht hatte. Die Pizzeria Big Boss Brothers aus Bonn Bad Godesberg wusste mit den arabischen Schriftzeichen حلال aus der Masse an herkömmlichen Pizzabringsdiensten herauszustechen. Zudem war hier das Angebot an Belagskompositionen schier unübersichtlich und wurde in einer für das Setzen von Telefonbüchern entwickelten Schrift in einer veritablen Bleiwüste aufgeführt. So gab es UNTER ANDEREM eine Abteilung der Abart Pizza Hollandaise, die uns neugierig und auch noch hungriger gemacht hatte. Wir bestellten eine Hollandaise mit Thunfisch und eine amerikanische Fleischstreifenpizza mit käsegefülltem Rand. Der Telefondispatcher der Pizzeria stellte sachkundige Fragen, die – hier passt es mal ausnahmsweise: Pizzaspezialitäten wurden uns bereits wenige Minuten später per Motorradkurier bis ans Bett serviert.

Zur Hollandaise nur so viel: cremig. Und im Übrigen genau so, wie man sie sich vorstellt. Die amerikanische hingegen: eine Wucht.

6.2.

In die Außenwand der Bonner Kunsthalle hat ihr Architekt Gustav Peichl das Wort Deutschland in vergleichsweise kleinwüchsigen Buchstaben aus Bronze einsetzen lassen. Im letzten Abendlicht, das den hellen Ton der Wände rosig färbte, stand dort davor gestern ein Mann und fotografierte das Spiel aus Licht und Schatten und die reliefartig aus dem Beton hervortretenden Buchstaben, perspektivisch nach hinten weg, zum D in Deutschland hin in eine Unschärfe hin fluchtend. Das sah dynamisch aus auf seinem Display. Die Aufnahme war vermutlich als Header für seinen Account bei Twitter gedacht.

Die Ausstellung mit den Räumen von Gregor Schneider beginnt in einem Vorraum, dort sind indische Gottheiten aufgestellt, die teilweise noch in ihren Verpackungen stecken. Ringsum wird auf drei Projektionsflächen simultan gezeigt, wie an einem Ort in Indien diese Skulpturen aus Zement modelliert wurden. Dann fängt es dort an zu regnen und alles wird überschwemmt, während ein anderer Film zeigt, wie eben diese Skulpturen auf einer Art Thronwagen in das reißende Wasser eines indischen Flusses geschoben werden, während auf der anderen Seite dann bereits ein Tempel eingeweiht wird, dessen Altar mit diesen Skulpturen geschmückt erscheint.

Ein Mann in dunkler Kleidung, der streng nach Zigarettenasche roch, war plötzlich neben uns aufgetaucht in dem ansonsten schummrig beleuchteten Raum. Ohne dass wir ihm eine Frage gestellt, noch nicht einmal fragend um uns geschaut hatten, erklärte dieser Mann uns die Filminstallation mit wenigen Sätzen, indem er in seinen Worten wiedergab, was wir dort gesehen hatten. Und jagte grußlos davon, riss eine schwarze Tür in der mit schwarzem Molton verkleideten Rückwand des Saales auf, um in der dahinter aufgetanen Dunkelheit zu verschwinden. Wir folgten ihm nach.

Die Zimmerflucht bestand aus den unterschiedlichsten Räumen. Das klingt jetzt farblos, aber wann hat man das schon, dass man eine Türe öffnet und dahinter befindet sich nicht das Erwartete, aber halt auch nichts komplett Unerwartetes, sondern ein Raum, der von sich aus nicht passen will? So gelangten wir in einen Flur mit vielen Schiebetüren, die man allesamt nicht aufschieben konnte (in dieser Kunstausstellung war das Berühren der Kunst erlaubt, vielleicht sogar erwünscht, jedenfalls löste es keinen Alarm aus, gleich wie wirklich wir auch an den abstrahierten Modellen von Türen schoben und rüttelten. Unterdies wurden die Räume von Tür zu Tür konkreter, bis sie nach dem Durchsteigen einer gepolsterten Röhre, die von ihrem Inneren her leuchtend wie Cy Twomblys Zitronen gänzlich unverbunden in einem grenzenlos schwarzen Raum aufgebaut war, regelrecht ekelerregend wurden. Besonders schlimm war ein Badezimmer, hinter dessen beschlagenem Duschvorhang aus transparentem Plastik das Wasser mit zuwenig Druck aus dem Brausekopf rieselte. Auch ansonsten bot sich mir dort ein Anblick, dazu das Geruchliche, von dem ich mich nicht mehr leicht erholen konnte.

Ausgerechnet in einem dieser Folgemomente sprach uns der Mann in Schwarz erneut an. Es war, als hätte er uns eingeholt, dabei waren wir ihm doch hinterhergegangen. Übergangslos, also schon wieder ohne jeden Gruß, begann er uns von seinen Erfahrungen mit den Besuchern dieser Ausstellung zu berichten, die voller Leid gewesen waren. Offenbar gehörte der Mann zum Aufsichtspersonal des Bonner Museums. Vielleicht war er auch ein von Gregor Schneider beauftragter Darsteller eines Museumswärters. Im Zustand der leichten Verunsicherung, in den uns die Rauminstallationen der Zimmerflucht Gregor Schneiders versetzt hatte, schien uns das nicht mehr selbstverständlich zu sein. Auch zog sich das Gespräch mit dem Mann auf immer grotesker wirkende Weise in die Länge, bis dieser schon beim Aufsagen Kölnischer Grußformeln angelangt war. Unsere Flucht durch weitere Türen führte jedoch nicht ins Freie, sondern nur in weitere Räume, die Gregor Schneider in, wie es uns nun schien, unaufhörlicher Folge hintereinander geschaltet hatte, um unsere Plage ins Unendliche zu verlängern. Kurz bevor es unerträglich geworden war, standen wir in einem Raum, auf dessen Fußboden durch Abriebe schmutzig gewordene Kindermatratzen verteilt lagen, sowie unter Plastiktüten nur halb verborgene Attrapen von toten Kindern und Erwachsenen, die Trainingshosen anhatten. Endlich also der comic relief. Im letzten Raum waren dann scheinbar wahllos fotografische Arbeiten des Künstlers gehängt. Auf der einen, offenbar ein Selbstporträt, war er nackt und über und über mit Haferschleim bedeckt abgebildet. Daneben hing ein von den Proportionen her heillos überdehntes Aktgemälde einer unbehaarten Frau. Der Ausgang führte erneut durch den Vorraum, wo noch immer die Filme aus Indien gezeigt wurden. Wir beeilten uns, bevor noch der Schwarze kommen konnte, um uns erneut hinter ihm her in das Innere zu zwängen.

Vor dem Museum war noch ein wenig vom Tageslicht übrig, wie uns schien. Aber das kam aus kleinen Punktstrahlern, die in das über den Vorplatz auskragende Dach aus Beton eingelassen waren. Der Nachthimmel blau wie im Sommer. Ein friedliches Bild.

5.2.

Der Taxifahrer, der uns vom Hauptbahnhof bis ans Hotel mitnahm, war nicht gut auf Bonn zu sprechen. Mit seiner Stadt ginge es nur noch bergab. Und das, na ja, seit ewiger Zeit. Aber was hieß schon seine Stadt – in Bonn aufgewachsen war er ja nicht, sondern als Fahrer des Schweizer Botschafters hier her gekommen, damals, in den Achtzigerjahren, als die eidgenössische Bundesrepublik noch in Bonn vertreten war. Damals – er hatte nun, um das zeitlich hinter ihm gelegene Areal erzählerisch auszuleuchten, weit ausgeholt und dazu passte, dass die Straße, auf der er uns fuhr, ihren Namen abschnittsweise änderte von Adenauer-Allee in Willy-Brandt-Allee – in jener Zeit war alles noch herrlich gewesen. Heute alles bloß Abfall. Hatte man früher von einem Haus in Bad Godesberg nur träumen können, musste man heute stets fürchten, dort tatsächlich hinziehen zu müssen. Selbst in den Bonner Stuben, einst angeblich erstklassig in der Altstadt, befände sich mittlerweile eine Shisha-Bar. Bonn, so seine Meinung, sollte sich endlich löschen.

Ein Wutbürger, ganz klar, der den goldenen Zeiten hinterher trauerte, als er mit seinem Chef, dem Schweizer Botschafter noch nach Dienstschluss den sogenannten Einkehrschwung im Nightclub Zur Dicken Bürste üben durfte. Dieser ehemalige Vorzeigeclub Bonns inmitten der Altstadt war mittlerweile geschlossen. Das Schild mit dem Pagenkopfgesicht hing sinnlos über der mit Brettern vernagelten Türe, die dazu noch mit einem Palimpsest unterschiedlichster Sprühdosenhandschriften verunziert war. Dito die ehemalige Bäckerei gleich nebenan. Sogar die Betreiber eines wohl erst kürzlich eröffneten Burgerlokals hatten ihre Ambitionen mittlerweile entnervt (vermutlich) aufgegeben. Das Mobiliar war bereits abtransportiert.

Doch die Sonne schien und die berühmte milde Rheinauenluft sorgte bei stellenweise mehr als sieben Grad für eine gesunde Euphorie, denn zum ersten Mal seit vielen Wochen war ein Ende dieses Schreckenswinters tatsächlich denkbar geworden. Es würde Frühling werden. Und so in etwa würde es dann.

In der Konditorei Müller-Langhardt wusste man sich leider nicht mehr spezifisch zu erinnern an jene Torte, die Helmut Kohl sich dort am liebsten bestellt hatte, obwohl in der Speisekarte noch Werbung mit der Naschlust des Altkanzlers getrieben wurde. Wir bestellten von daher zwei unterschiedliche Stücke, eins von der mit Stachelbeeren und Baiser, eins von der mit Haselnusssahne unter der Marzipanhaube – ganz klar: es konnte nur die letztere der beiden sein. Das schmeckt man, es funktioniert in etwa so wie beim Gläserrücken der Spiritisten, wenn man einen fraglichen Tortenfreund so lebendig vor Augen stehen hat, beinahe schon in 3D, wie ich unseren Altkanzler Dr. Helmut Kohl.

Im Mineralienmuseum, das allein die Reise wert ist nach Bonn, gab es einen Stein namens Jaspis, gefunden in Kandern, Baden-Württemberg, der sah einer schönen Leberwurst sehr ähnlich. Also einer bereits angeschnittenen. Mit rötlich frischem Kern. Die Pellenfarbe vom Typ Hausmacher. Man roch förmlich den Majoran. Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein schöneres Mineral gesehen zu haben.

Und wiederum war draußen alles freundlich und unzerstört. Vor den Häusern der Burschenschaften hingen bunte Fahnen herunter und hinter geöffneten Fenstern gingen junge Männer mit turbanhaften Kopfverbänden umher und tranken aus Henkelbechern Kaffee. Nach einem brutalistischen Halbmeisterwerk aus den Achzigerjahren kamen wir am Haus der Tierzucht vorbei. Ein schönes Schild aus Bronze, die Versalien sauber herausgearbeitet. Circa 1956. Die Lust, nach Bad Godesberg überzusetzen, um sich die schlimmen Zustände dort vor Ort anzuschauen, von denen im Bonner Generalanzeiger im Café eben auch schon berichtet worden war, wurde davon nicht groß intensiviert. Vor dem Traditionslokal Zum Gequetschten (weil dort ein Kruzifix in einem steilen Winkel knapp über der Tür hängt, angeblich) standen einige Narren und Narralesen in ihren Kostümen und rauchten. Trotz tadellos sitzender Narrenkappen machten sie im Licht der scheidenden Sonne einen derangierten Eindruck. Aus dem Inneren des Gequetschten kam Stimmungsmusik.

4.2.

Als ich angekommen war, leuchteten die Türme in Streifen, was ich zuvor noch nie gesehen hatte, denn zum letzten Mal war ich hier in der Weihnachtszeit gewesen, nun aber mussten die Leute wieder arbeiten, die Büros blieben bis spät in die Nacht besetzt.

Am Morgen war der Himmel blau, die Vögel machten Geräusche, die auf ein baldiges Ende des Winters hindeuteten. Es ist erstaunlich, wie viel so ein Wetterumschwung doch bewirkt; einige Cafés hatten bereits die Stühle vor die Tür gestellt. Ich saß im Cafe Plank, dessen guter Kaffee mir von Thomas Meinecke ans Herz gelegt worden war. Neulich hatte man ihn irgendwo als den »Altmeister der Genderliteratur« bezeichnet, ich hatte vergessen wo, aber der Kaffee war wirklich sehr gut.

Mein ursprüngliches Vorhaben, in der Kleinmarkthalle die Fleischwurst, die dort bei Schreiber aus einer schmalen Luke heraus nach Ansage in Abschnitten, deren Länge der Kunde vermittels schieblehrenhafter Gesten (ich berichtete darüber im vergangenen Jahr) bestimmen darf, zu verkosten, war schon eine halbe Stunde früher gescheitert, und zwar daran, ganz simpel eigentlich, dass dort die Warteschlange um ein Entschiedenes zu lang gewesen war.

Nun bezeichne ich mich zwar mit Peter Handke als einen Gernewarter, aber die Schlange dort in der Kleinmarkthalle, in der Hasengasse zu Frankfurt, reichte bereits vor der Mittagsstunde um circa zwanzig Meter weit nach links; rechts neben der Luke des Schreiber’schen Wurstgeschäfts hängt ja ein Schild »Bitte links anstellen, um die Geschäfte des Nachbarn nicht zu beeinträchtigen« – von dort aus wären es noch etwa zwei Stunden bis zum Ziel gewesen.

So lange warte ich nicht auf eine Wurst.

Vom Fenster im Plank aus sah ich auf den Kebabladen der Familie Merkel, es sind Türken, die ihren Schnellimbiss dort schon seit 1986 betreiben. Damals war ich in etwa 15 Jahre alt, und im Stuttgart meiner Jugendtage gab es zwar Udos Hamburger und McDonalds, aber an einen türkischen Imbiss kann ich mich nicht erinnern. Mittlerweile hat sich das Snackverhältnis umgedreht.

»Einmal Merkel Kebab Haus
Immer Merkel Kebab Haus«

So hieß der Slogan des Unternehmens – gar nicht mal so schlimm, wenn man wie ich nicht für immer in Frankfurt ansässig sein würde. Die Kebabrübe, das hatte ich in den vergangenen Wochen frühmorgens am Savignyplatz vor Augen geführt bekommen, hat von ihrer Form und vom Charakter ihrer Fleischmasse her etwas fleischwursthaftes. Das scheint zum Ersten wie ein schwacher Trost, der, ja, ich kann es nicht anders sagen: schmelzende Geschmack des Merkel’schen Döners ließ mich alle Reue über den verpassten Fleischwurstgenuss im Hause Schreiber, an der Luke in der Kleinmarkthalle dort, vergessen. Nun fand ich es zwar auf Anhieb schade, dass hier im Bahnhofsviertel niemand Apfelwein trank zum Döner Kebab. Dann aber wurde ich von Eingeweihten zu einem Nebenbetrieb der Familie Merkel geführt. Das läuft in Frankfurt mittlerweile wie überall: In alteingesessene, prollige Institutionen ziehen neue Betreiber ein und machen etwas draus – ein ehemaliges Wasserhäuschen mit rot-weiß-gestreifter Markise am Rande der stadtauswärts führenden Allee.

Eine ausnehmend männlich codierte Szene.

Einige der Personen hatten leuchtgelbe Weste einer Frankfurter Behörde an; es ging um bereits von Eckhard Henscheid beschriebene Themen: unter anderem um das Great Barrier Reef – bei waahr.de haben wir uns von vornherein gegen Dialektschreibweise ausgesprochen, aber insbesondere Great Barrier Reef sollte man sich bei geschlossenen Augen in hessischem Dialekt ausgesprochen zu Gemüte führen.

Herbert, daraufhin: »Im 18. Jahrhundert wurden die französischen Kinder nach Australien exportiert. Der Grund war, ganz einfach: Die Franzosen hatten keine Milch mehr.«

Alexander, ein Hochaufgeschossener mit neongelbem Schal, tippte mir an die Brust. Vorausgegangen war ein kurzes Gespräch Alexanders mit der Betreiberin des ehemaligen Wasserhäuschens, das mittlerweile in der Hand der Familie Merkel sich befand.

Alexander: »Ist hinten auf?«
Wasserhäuschendame: »Musst du nachschauen.«
Alexander: »Wenn auf ist, lass ich auf. Wenn zu ist, lass ich zu.«
Wasserhäuschendame: »Genau.«

Daraufhin hatte sie das Fensterchen geschlossen, das das Innere des Wasserhäuschens mit der Außenwelt verband. Alexander erzählte mir, dass er Verleger sei. Zum Namen seines Verlages, auch zur Geschäftsordnung, wollte er mir keine weiteren Angaben machen. Aber er lächelte wissend, und während wir einen Bohnenkamp tranken, baute er einen ziemlich dilettantisch zusammengedrehten Joint. Dazu muss man wissen: Alexander und Herbert sind zusammengenommen ungefähr einhundertfünfzig Jahre alt.

Ich sagte: »Jungs, ich sehe hier tschechisches Bier vor euch stehen. Warum trinkt ihr keinen Apfelwein?« Herbert, der behauptete, Vorstand einer japanischen Pharmafirma mit Sitz in Frankfurt zu sein, umarmte mich. Alexander, seinen Joint herumreichend, trommelte sich nach Gorilla-Art an die Brust und rief: »Ich bin ein Frankfurter Bub‘!«

Das Fenster öffnete sich abermals, ich bestellte drei Flaschen Apfelwein, aber es kristallisierte sich heraus, man hatte dort keine Gläser mehr. Also längst nicht mehr. Denn es trank schon längst keiner mehr Apfelwein. Irgendwie konnten dann aber noch zwei Gerippte und ein Geblümtes aufgetrieben werden. Ein paar Runden später, das war, nachdem die Kolumbianerin vorbeigekommen war und es angefangen hatte zu regnen, übergab sich Andi, der bis dahin still gewesen war, schwallartig in die neben dem Wasserhäuschen aufgerissene Baugrube. Alexander hielt ihm die Haare aus dem Gesicht und rief dabei in meine Richtung: »Das ist der Äppler!«

3.2.

Hinaus aus der Stadt – zumindest war das mein Plan. Schon bei der Einfahrt des sogenannten Sprinters von der Hauptstadt nach Frankfurt, das ja auch eine mögliche Hauptstadt bedeutet hatte, legte die Bahn einen vorbildlichen Zahn vor: Der Zug stand eine Viertelstunde vor Abfahrt auf dem Gleis. Ich finde sämtliche Beschwerden über die Pünktlichkeit et cetera sowieso spießig. Es reist sich mit keinem anderen Verkehrsmittel so angenehm wie mit der Bahn. Und keines hat vergleichbar schön dimensionierte Fenster zum Hinaus-in-die-Landschaft-schauen, das kommt noch dazu. Es gibt, zumindest gleich nach der Stadtgrenze von Berlin, dort sehr viel zu sehen.

Ich mag Deutschland außerhalb seiner Städte. Ich mag die Flächen, die allenfalls von Überlandleitungen strukturiert werden und ansonsten ist da nichts, noch nicht einmal Wälder, bis hin zum Horizont. Der weit ist, sich über unmerkliche Hügel erstreckt, und, weil der Zug aus Berlin heraus über Halle und Erfurt in Thüringen nach Hessen führen sollte, bis dahin beinahe ununterbrochen sich zeigen kann, denn es ist ja fast alles Agrarland, eine Brache (aus architektonischer Sicht).

Autobahnen. Ich saß im Bordrestaurant und schwelgte in den Geschichten, die mir und vielen hunderttausend anderen Lesern von dem Bordmagazin Mobil erzählt wurden, das, seitdem es vor nur wenigen Wochen erst vollkommen neu gestaltet worden war, auch inhaltlich, sich vom Gratisblatt zu einer Zeitschrift entwickelt hatte, die wahrgenommen werden wollte. Und als Herausgeber eines Archivs für literarischen Journalismus ist es für mich selbstverständlich, dann dort ganz genau hinzusehen.

Draußen färbte sich der Bildrand in Kürbistönen ein, dazwischen herrschte das Wetter; in Berlin hatte es noch geregnet, eisig kalt übrigens. Der Kellner des Bordrestaurants war mit seiner Freundin auf Whatsapp. Nach drei, vier raschen Repliken rief er sie an, um sie zu fragen, ob sie sich endlich erbrochen hätte.

Unser Zug hielt an, weit noch vor Erfurt. Wir befanden uns noch nicht einmal auf Thüringer Boden, sondern in Delitzsch. Angeblich, so kam es über die Lautsprecher, war hier eine Fliegerbombe gefunden worden, die jetzt entschärft werden musste. Nach einiger Zeit des Stillstehens stiegen alle aus.

In dem Bahnhofsgebäude gab es einen Aufenthaltsraum ohne Geldautomaten. Auf dem diagonal gefliesten Boden standen eine künstliche Palme, die aus einem ausgedienten Weinfass ragte, sowie ein lackierter Stehtisch im Tikki-Design. Was an diesem Stehtisch verzehrt oder gegluckert werden sollte, blieb fraglich, weil es im Bahnhof von Delitzsch keinerlei Imbissbetriebe, oder sonst irgendetwas dergleichen gab. Hinter dem Fahrkartenschalter saß eine Frau, die professionell auf mich wirkte, die ich fragte, ob es hier in Delitzsch einen Geldautomaten gab. Sie sagte: nein.

Dann fuhr unser Zug weiter. Es hieß, die Bombe sei nun entschärft, aber davon war in der Vorbeifahrt nichts zu erkennen: weder ein Krater, noch ein Roboter, noch Leute oder ein Gefährt.

Genau so schnell, oder eilig, wie die Laune meiner Mitfahrenden wütend und schlecht geworden war, hatte sie sich nun wieder gelegt.
Die in dem Mobil-Heft auf mehr als dreißig Seiten plattgewalzte Mobilfunkinitiative der Bahn, also, dass man jetzt von seinem Zugsessel aus ins Internet kann, während man durch die Landschaft saust, wird in Zukunft nur weitere Anlässe liefern, dass die Passagiere sich beschweren und aufregen wie bei unserem Bombenalarm. Bloß dass es dann halt nicht mehr um Ankunftszeiten gehen wird, sondern um mangelnde Downloadgeschwindigkeiten. Ich jedenfalls war ganz froh, dass die Fliegerbombe entschärft werden konnte, und uns nicht auch noch um die Ohren geflogen war! Tod in Delitzsch: Nein danke. Andererseits ist es ja auch egal, wo und wie.

Draußen zeigte der Planet einen Schattenriss seiner bebauten Kruste vor himmlischen Folien. Alles stand kurz vor dem Verglühen.

2.2.

Ich war mit Würsten gekommen. Zwar von der Metzgerei Haas, aber nicht zu vergleichen mit den Kümmelknackern auf unserem Landausflug neulich. Die waren so herrlich trocken und dabei noch zart gewesen. Zumindest in meiner Erinnerung. Und irgendwas fehlte in denen von Haas. Bloß was?

Erik hatte wohl seit einigen Tagen nichts mehr gegessen und fiel dementsprechend über die Würste her. Ihm waren in den vergangenen Wochen noch einige Güsse gelungen, die nun von Strahlern angeleuchtet auf ihren Podesten standen. Pfundweise Zinnsoldaten waren zu neuem Leben erstarrt.

Um uns herum saßen kleine Lichter auf den Kränen vor den Fenstern und blinkten rot. Einst war dies Areal, das vom Hauptbahnhof bis zum Hafen am Fluss und dahinter bis zum Flughafen reicht, von seinem Bebauungszustand her tot gewesen. Verschmäht. Eine Brache, gesäumt von Lagerhäusern und vereinzelten Industriebauten. In den warmen Monaten gab es einige Jahre ein Zirkuszelt. Trauriger Zirkus natürlich. Immer wieder mal hatten Galerien hier versuchsweise den Betrieb aufgenommen, dann wieder eingestellt. Unter Klaus Wowereit hatte es noch Versprechungen gegeben für die Berliner Kunsthalle. Was nun in Wirklichkeit hier gebaut wurde, und die Kräne standen ringsum und in die Tiefe gestaffelt, überall bis hinüber zum Bundeswehrkrankenhaus, dessen mächtiger Schlot um die Mündung herum mit roten Lichtern blinkte, war egal geworden. Angeblich, so hieß es an der Tankstelle, über die es bereits eine eigene Dokumentation auf ZDFinfo gab, handelte es sich sogar um die größte Baustelle Europas. Und hier, also bei dieser Tankstelle, so hieß es dort auf Nachfrage, hatte Brad Pitt einst im Sommer sein Motorrad betankt. Eine schwarze Ducati.

Holzberger erzählte vom vanishing point. Er hatte seine Stimme den weihnachtlichen Lichtverhältnissen angepasst, er sprach gedimmt. Wir saßen um den kleinen Tisch mit den Würsten herum, Holzberger erklärte den Denkfehler der Ingenieure einer ersten Autobahn von Bonn nach Köln, der aus heutiger Sicht betrachtet ein Erfahrungsfehler gewesen war. Man hatte diese Autobahn als gerade Verbindung geplant. Wie einen Strich auf der Landkarte von B nach K. Schon bei der Einweihung kam es zu Unfällen. Aber nicht auf der Bahn selbst, sondern im Abseits. Aus mysteriösen Gründen waren immer wieder Fahrende von der Autobahn abgekommen, und waren über den Grünstreifen ins Off geschnellt. Da es zumeist schwere Unfälle waren, konnten die verunglückten Fahrer nicht mehr nach den Problemen befragt werden, von denen diese Unfälle verursacht worden waren. Auf einer zweiten Teststrecke, Holzberger sprach hier kurzzeitig so leise, dass ich beinahe schon weggenickt war, passierten diese unerklärlichen Unfälle ebenfalls. Man zweifelte an der Richtigkeit der Idee Autobahn an sich, die man mehr oder weniger von der römischen Heerstraße übernommen hatte, gedanklich. Man rief bei Thomas Pynchon an. Quentin Tarrantino schrieb bereits an der Szene einer Nachtfahrt auf der Deutschen Autobahn, die einen langen Dialog zum Inhalt hatte, in der ein Schauspieler dem anderen die Geschichte vom vanishing point erzählte, und die dann freilich ein überraschend blutiges Ende nehmen würde.

Jedenfalls stellte es sich dann heraus, dass das menschliche Gehirn vom Befahren einer strichgeraden Autobahn zwangsläufig ermüdet. Im Auge wird dann ein für die Wahrnehmung vor Windschutzscheiben verantwortlicher Botenstoff rasch aufgebraucht, das Gehirn bekommt keine neuen Informationen, es hält den scheinbar immer gleichen Bildausschnitt für ein Standbild – vergleichbar mit einem Bildschirmschoner – und schaltet sich ab, beziehungsweise geht es auf Standby. Langeweile der Zentralperspektive. Vanishing point.

Holzberger: Die Lösung fanden die Ingenieure in Fahrbahnen, die um einen Radius von zwei Kilometern gekrümmt verlaufen. Durch diese mal nach links, mal nach rechts beinahe unmerklich geschwungen angelegten Autobahnen, gibt es einen sich ständig verlagernden Fluchtpunkt fürs Auge. Die Fahrt durch die Landschaft eröffnet geschwungene Panoramen. So angelegt, wurde die deutsche Autobahn zum unterhaltsamsten Autobahnensystem der Welt.

Besonders schön geführt war die Autobahn, so Heiko Holzberger, auf der Strecke nach Erfurt, dort schwingt sie aus ästhetischen wie Sicherheitsgründen an Weimar vorbei.

1.2.

Beim Klang seines Namens kommt mir der Februar gestreift vor. Was vermutlich am Zebra liegt, am Element Br in beiden Worten. Der Januar schwingt und März ist ein Punkt.

Ein Vogel sitzt verborgen im Strauch bei der Mauer. Ich stelle ihn mir klein vor und rund. Er macht ein Geräusch, das so klingt, als ob ihm sein Schnabel über Nacht erst gewachsen wäre. Als ob er die Schnabelhälften noch auseinandersprengen müsste, indem er in sie hineinstößt wie in ein Blasinstrument aus Horn. Es macht einen piepsenden Knall.

Es ist so schwierig, einen guten Film zu drehen, einen guten Roman zu schreiben, ein gutes Bild zu malen – alles andere ist ja schon so gut gemacht. Das Kunstwerk müsste in etwa genauso gut werden. Aber ganz anders. Und selbstverständlich sein. Rätselhaft.

31.1.

Heute früh war alles, was am Boden nachts noch schwarz gewesen war, zu einer dünnen weißen Schicht geworden. Das sah zumindest friedlich aus. Gestern hatte es am Mittag zu regnen angefangen, ganz scheußlich. Bei dieser Temperatur. Zum Glück fiel mir das Kino ein. Im Zoopalast wurde ein Film gezeigt, bei dem ich mir die Chance, dass in den bei Tageslicht gedrehten Szenen auch die Sonne scheinen würde, als gut ausrechnen konnte. In Axolotl Overkill sind sogar grüne Bäume zu sehen. Und in einer langen Szene tritt ein Pinguin auf. Mitten in einer sommerlich leuchtenden Wohnung. Er bewegt sich über das Altbauparkett und schaut in die Räume hinein. Ich hatte noch nie einen Pinguin in einer Wohnung gesehen. Niemand sprach mit dem Pinguin. Es war auch fast niemand zu Hause. Leider war die Szene nicht noch länger, ich hätte dem Pinguin noch sehr gerne weiterhin zugeschaut. Aber draußen regnete es, und der Film war irgendwann vorbei.

30.1.

In der vorvergangenen Nacht hatte ich von einem Kuchen geträumt. Also auch von seiner Herstellung. Und das sehr detailliert, beziehungsweise war mir das Rezept plausibel erschienen. Ich dachte noch oft an den Kuchen in meinem Traum und ging dann gestern früh zum Supermarkt (denn es war verkaufsoffener Sonntag sogar hier draußen), um die in meinem Traum nötigen Zutaten zu besorgen, weil ich herausfinden wollte, wie der Kuchen aus meinem Traum schmeckt, denn der Geschmack hatte, wie überhaupt das Anschneiden, im Traum keine Rolle gespielt. Von seiner äußeren Wirkung war der Kuchen imposant gewesen. In jeder Beziehung wollte ich ihn von innen sehen.

Auf 3Sat lief, etwas Schöneres kann es beim Anrühren von Kuchenteig überhaupt nicht geben: die betagte Dokumentation aus den siebziger Jahren, als Vladimir Horowitz zum ersten Mal nach Jahrzehnten aus den Vereinigten Staaten in die Sowjetunion einreisen durfte, um dort in Moskau ein Konzert zu spielen (er stammte ursprünglich aus Kiew). Ich bin alles andere als ein Kenner der klassischen Musik! Aber ich höre sehr gerne Klaviermusik und ich kann genau benennen, welche Stücke mir gefallen, auch wenn ich das Werk der Komponisten im Einzelnen nicht kenne. Der Saal, in dem Vladimir Horowitz auftrat, er war da schon ziemlich gebrechlich und betrat die Bühne mit vorsichtig gesetzten Schritten, fasste über eintausend Menschen. Man erkannte das nicht nur an den Brillengestellen (Horowitz selbst trug in den Interviews eine flamboyante Fliege, die ziemlich schlaff herunterhing, weil sie so üppig war): Sie entstammten nicht bloß einem anderen System, das war eine andere Welt. Er setzte sich, und die Kamera, weil es ein alter Film war, zeigte das nicht in HD, aber ich konnte die Hände von Vladimir Horowitz gut erkennen: Er fing an ein Stück von Scarlatti zu spielen (das wurde eingeblendet). Und ich sah: Er denkt mit den Fingerspitzen.

Ich schmolz zwei Tafeln extrem dunkle Schokolade (also solche, die man eigentlich nicht essen kann oder will, es sei denn, man trägt braune Schuhe zu blauen Anzügen, gelt sich die Haare, kennt sich mit Rotweinen oder Zigarren aus und findet Armbanduhren interessant) im Wasserbad und tat, weil solche Schokolade wenig Fett enthält, noch zwei Löffel voll Butter dazu. In einer zweiten Schüssel rührte ich vier Eier mit vier Löffeln Zucker so lange, bis der Zucker sich in den Eiern gelöst hatte. In die Eier füllte ich die Schokolade mit der Butter, stabilisierte diese Creme mit etwas Mehl, aber nicht viel, vielleicht drei Löffeln, dazu etwas Backpulver, denn bei den Eiern heutzutage weiß man halt nie. Das Backpulver war die bislang einzig reale Zutat, den Rest hatte ich exakt so in der Zusammensetzung geträumt. Dann wickelte ich den Inhalt einer Tüte Weichkaramellbonbons aus. Die gibt es von unterschiedlichen Herstellern, zumeist zeigt das Einwickelpapier der Bonbons eine Kuh. Das Format dieser Bonbons ist klassischerweise quaderförmig. Ich halbierte die mit dem Messer, sodass ich einen Haufen karamellfarbener Würfel vor mir liegen hatte.

Vladimir Horowitz spielte noch immer. Beziehungsweise schon wieder. Es waren Interviews eingeschoben, in denen er sich an seine Kindheit erinnerte. Beispielsweise an seinen Onkel, einen Spezialisten für Skrjabin, den sie Kinder den loud piano player genannt hatten – weil er laut Klavier gespielt hatte. Und dass sie zu Hause auf vier Klavieren Beethoven gespielt hatten: seine Mutter, sein Vater, seine Schwester und er. Möglicherweise auch in anderer Geschlechtskonstellation. Es ging ums Prinzip.

Die Hälfte der Teigmasse füllte ich in eine auslaufsichere Springform, die ich gebuttert und gemehlt hatte (der Kuchen würde, wenn er was würde, extrem feinporig werden). Auf diese erste Schicht verteilte ich spiralförmig die halbierten Karamellbonbons. Es waren vierundzwanzig Würfel, also hatte ich zwölf Bonbons halbiert. Eine gute Zahl, denn wie es in den Psalmen steht: Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Bevor die zweite Teigschicht drüberfließen kann, muss kräftig mit Meersalzflocken gesalzen werden. Dann mit Teig fluten. Dann noch einmal salzen. Bei 160 Grad Ober- und Unterhitze backen.

Lange Auskühlen lassen. Am Besten sogar über Nacht. Er sieht wenig appetitlich aus, weil der zerfließende Karamell ziemliche Löcher brennt in die Kuchenoberfläche. Mein Tipp: Die kraterhafte Oberfläche mit einer Schicht Schlagsahne verbrämen.

Ansonsten: traumhaft. Hüben wie drüben sozusagen. Im Traum wie in der sogenannten Realität.

29.1.

Zwei Tage lang fast nur gelaufen. Durch den Wald, der nur noch aus Stämmen besteht, soweit mein Auge reicht. Im Sonnenschein leuchten sie grünlich golden, sind wie aus Metall gegossen, vor langer Zeit schon, mit einer schönen Patina. Ich dachte unwillkürlich an Fritz Lang mit seinem Dekowald für Die Nibelungen, der nur aus Stämmen ohne Blätterdach besteht (die Kamera schaut nie hinauf in diesem Film), so sah das aus. Die Stämme nur weniger dick oder umfangreich. Aber das Licht ganz genau so wie im Stummfilm. Dementsprechend wenige Waldbesucher. Als fehlten dem Wald momentan die Attraktionen, also meidet man ihn wie einen schlechten Zirkus mit nur einem Kamel (der Elefant ist leider erkrankt).

Für den Wannsee hat es nicht gereicht, auch im kleinen Wannsee treiben nur noch Schollen, die man von Weitem durch das Holz glitzern sehen kann bei entsprechendem Licht. Der Schlachtensee ist zugefroren. Nicht weil er schmaler ist oder weniger tief, er ist stellenweise sogar tiefer, glaube ich, aber vor allem ist es ein richtiger See, wohingegen der Wannsee bekanntlich, wie es bei Rothko (der Band) heißt: Roads Become Rivers, Rivers Become Oceans (Four Tet Remix).

Es ist seltsamerweise niemand anders auf dem Eis. Aus dem Holz ringsum dringen Spaziergangsgespräche. Ich warf einen Scheit, ziemlich dick, dicker als mein Arm, Birke: eine dumpfe Erschütterung, die kaum höher kommt als bis über meine Knöchel. Das Eis ist demnach einen Meter dick oder mehr. Vermutlich. Abdrücke von Schuhsohlen, kleine und große, die Spurrichtung nicht mehr nachzuvollziehen, ein Knäuel in mehreren Schichten übereinander. Bei Virginia Woolf bricht eine Frau mit ihrem Apfelkarren in die erstarrende Themse ein und wird dort, einen Apfel in der Hand, wie um ihn von hinter der Mattscheibe schwebend anzubieten, in dem schwarzen Eis konserviert wie in einem Tropfen Bernstein. Seltsam, dass mich die Furcht erst auf der Mitte des Eises ergreift, als das Ufer, von dem aus ich losgegangen war, genauso weit entfernt ist wie das Ufer, das ich erreichen könnte (und seltsam, dass ich auch in dieser Situation nur ungern denselben Weg zurücknehmen wollte, sondern einen in Anführungszeichen anderen. Den anderen kannte ich ja in dieser Logik gesprochen schon).

Eine Frau, sehen konnte ich sie nicht, bezichtigte mich. Ihr Mann, mindestens ebenso laut, nannte sie Gisela. Und mahnte sie dann noch mehrfach, ihn zu begleiten: Gisela!

Meine Tante heißt so. Ist aber ganz anders.

»Was machen die Enten im Winter«, fragt ein Kind. Berechtigte Frage. Im Zeitmagazin läuft jetzt ein Jahr lang eine Serie, die sich mit dem Thema Fernbeziehung beschäftigt. Eine Fotografin und ein Fotograf geben für jede Ausgabe je ein Foto ab und schreiben dazu ein paar Zeilen. Sie lebt in New York, er in London. Wahrscheinlich habe ich die erste Ausgabe verpasst, in der vielleicht erklärt wurde, wie das zu lesen ist. In meiner Ausgabe schickt er ihr ein Bild eines Frauenhalses mit Perlenohrring, sie ihm das Innere eines Papierkorbes aus gebürstetem Stahl, an dessen Wand verschiedenfarbige Klebebandreste leuchten. Er schreibt von seiner Erinnerung an ihre Schönheit. Sie lehnt seinen Vorschlag, zu ihm zu ziehen, argumentativ sauber begründet ab. Ich bin trotzdem gespannt, wie es weitergeht. Auch weil ich das Buch von Leanne Shapton so gerne mochte mit dem fiktiven Bestand von Fotos und Gegenständen einer Haushaltsauflösung. Zum ersten Mal hatte das freilich Fran Lebowitz gemacht, 1977 in I Cover the Waterfront: da bestand die ganze Seite ihrer Kolumne aus irgendwelchen Gegenständen, einer Herdplatte unter anderem, und im Text hatte sie so getan, als sei sie bereits tot und nun würden ihre Hinterlassenschaften versteigert. Dementsprechend las sich der Text wie einer aus dem Auktionskatalog. Und war, wie sämtliche ihrer Kolumnen, als Protest geplant gegen die von ihr als menschenunwürdig, zumindest schwer erträglich empfundenen Lebensbedingungen einer freischaffenden Schreiberin im Manhattan der Siebzigerjahre.

Die Zeit mit dem Zeitmagazin hatte mir der Zeitungsverkäufer verkauft, der am Donnerstag abends im Zwiebelfisch seine Runde machte. Das gibt es dort am Savignyplatz noch, dass ein Zeitungsverkäufer mit dem druckfrischen Tagesspiegel und der Zeit durch die Lokale geht. Das Wechselgeld war so gut wie gefroren. Als ich ihm Danke sagte, dass er das für uns macht, schaute er mich lange an.

28.1.

Großes Hallo, aber wirklich, hier draußen im Supermarkt. Gestern, es war kurz vor Mitternacht, ich stand an der Kasse an und füllte derweil online das Geschmacksrätsel von Haribo aus (allerdings nicht ganz im Sinne der Leute in Bonn, denn die Tüte mit den rätselhaften Sorten gab es in ganz Berlin nicht, die hatte mir Friederike per Post geschickt, insofern ist es nicht einmal mehr fraglich, ob Frankfurt am Main einst weltberühmt werden wird, während Berlin in Frankfurts Schatten ganz prächtig gedeiht). Der Supermarkt hier draußen liegt zwischen einer Schnellstraße und dem Wald, der hinter dem Supermarkt auch rasch tiefer wird. Es öffneten sich die elektrischen Schiebetüren und dort in der Öffnung stand vor nachtschwarzem Hintergrund ein Reh. Nicht mehr ganz das Jüngste. Ich weiß nicht, wie groß die final werden können. Das Reh verharrte auf der Schwelle bei geöffneten Türen. Bei uns Menschen herinnen war es supermarkthell, bei ihm draußen noch dunkel. Womöglich war es von einem Bus aufgeschreckt worden beim Äsen auf dem kleinen Spielplatz vor dem Supermarkt, wo überall handgeschriebene Schilder angetackert wurden, auf denen steht »Alkoholkonsum verboten«, dieselbe Botschaft auch in kyrillischen und polnischen Buchstaben. Das Reh starrte die Menschen an, uns, die wir das Reh anstarrten. Eine Erscheinung. Dann machte es einen Satz, streifte den fahrbaren Container mit Säcken voll Blumenerde. Die Türen, blind für das Ereignis an sich, eine dritte Klasse zwischen Menschen und Tieren, schlossen sich.

An der Kasse des Supermarktes saß, wie so oft, der junge Mann, der sehr dick ist. Er sitzt zurückgelehnt in seinem Kassiererstuhl und in den Abendstunden, wenn man mehrfach hintereinander kommt, weil man noch etwas vergessen hatte, riecht man das: vaporisiert er, vielleicht raucht er auch Bongs; vermutlich auf dem Hinterhof, wo die leeren Kartons gelagert werden. Wie sollte er den Job auch anders aushalten? Er zieht Tüte um Tüte, Karton um Flasche über das Glasfeld des Scanners, es piept, er wartet auf die Eingabe der persönlichen Geheimzahl, vergibt die Treueherzen. Er ist ein Bindeglied zwischen Scanner und Kartenterminal. Eine vierte Klasse hat sich geöffnet und er ist mittendrin.

Am Morgen hatte ich die Sonne aufgehen sehen in dem ehemaligen Café Kranzler, in dem angeblich sogar Helmut Kohl einst die Torte gelobt hatte (wie auch den Apfelstrudel im Hotel am Schlossgarten in S). Ralf Rüller hat die sogenannte Fläche nun übernommen und bespielt sie, wie es heißt, mit seinem Konzept namens The Barn, das in Prenzlauer Berg und Mitte bereits für Aufsehen und -regung gesorgt hatte, als es Donald Trump noch nicht gab. Passenderweise las ich dort den sehr informativen Artikel in der New York Times von Maggie Haberman, die sehr schön von der Freude des neuen Präsidenten an seinen Spielzeugen berichtet. Beispielsweise wie erstaunlich klar die Sprachübermittlungsqualität der Telefonleitungen im Weißen Haus doch ist. Erinnerte mich an Gottfried Benn, der auch nie darüber hinweg kam, dass sein Mäzen Oelze sich in Kastens Hotel zur Teestunde Lachs mit Toast und Butter bestellt hatte. Fand er, der in seine Gedichte auch gern mal das Wort »Avenuen« eingebaut hatte, weil es so schön weltmännisch klingt, auf die schönste Weise faszinierend, wie man auf solche Zusammenstellungen bloß kommt (Tee, Lachs, Toast, Butter).

Gewann dann nach dem Reh-Incident krachend im Monopoly. Mit meiner üblichen Taktik (je zwei Häuser auf die grünen Straßen, je vier grüne Häuser auf Schwanenwerder (34.000 Reichsmark) und Grunewald (20.000 Reichsmark). Dann, hinter dem Losfeld noch je ein Hotel auf Turm bzw. Huttenstraße (5/9000 Reichsmark). Die fungieren dann als meine Klingelbeutel, in die man im Vorübergehen noch ein bisschen was reintun muss, was aber nicht mehr ganz so wehtut im Vergleich. Später dann noch alle vier Bahnhöfe, dazu E-Werk und Wasserversorgung. Das Glück war mir hold, beziehungsweise: das Unglück, denn willing suspense of disbelief hin oder her: Ich beobachtete dennoch, dass ich zum Arschloch mutiert war durch meinen Erfolg. Gott sei Dank bloß für die Dauer eines Brettspiels.

Kommunismus ist aber auch keine Lösung. Die Menschen brauchen Beschäftigung. In einer generalbuddhistischen Offensive: Jedem einzelnen Tier auf dem Planeten seinen eigenen Wikipedia-Eintrag. Müssen ja nicht alle so lang werden wie der von Peter Handke.

27.1.

»La solitude, ça n’existe pas«, würde es später am Abend in einem Film heißen, der, wie ich mit dem Blick eines Nebendarstellers dort aus dem Fenster realisierte, in einer Berliner Wohnung gedreht worden war, in der ich selbst einmal gewohnt hatte. Diese Wohnung gab es noch immer. Erst neulich war ich an diesem Haus vorbeigegangen.

Zuvor, da war es noch hell gewesen, schauten wir, weil es vom Balkon aus nichts anderes zu sehen gab, auf die Fassaden der anderen Straßenseite. Abschied von den Schweizern, sie erzählten von der Schweiz. Wir kamen auf die Bibliothek von St. Gallen, die ich schon einmal besichtigt hatte und die für mich die schönste Bibliothek war, in der ich jemals gewesen. Aber was ich dort nicht gesehen hatte, war das System aus mehreren Uhren, die durch eine in die Wände eingemauerte Kardanik aus kupfernen Stangen sämtlich miteinander verbunden waren, sodass jede Uhr in der Bibliothek von St. Gallen die genau gleiche Uhrzeit anzeigte wie die große auf dem Turm des Gebäudes, die nach außen hin sichtbar war. Dieses System, so vermutete Enea, vom Prinzip her eine frühe Atomuhr, war mehrere hundert Jahre alt. Wohingegen es in einer weiteren, einer neugebauten Bibliothek in der unmittelbaren Nachbarschaft (noch immer St. Gallen) einen Roboter gibt, der die Bücher sortiert. Weil der Architekt, der diese Bibliothek entworfen hatte, es für unschön befunden hatte, dass in Bibliotheken auf die Bücherrücken ein Inventurskleber angebracht werden muss, hatte der sich ein System ausgedacht, nach dem in die Buchdeckel ein Mikrochip eingeklebt wird, der bei geschlossenem Buch für das menschliche Auge unsichtbar ist. An jedem Abend, wenn die Menschen nach Hause gegangen sind und das Licht in der Bibliothek ausgeschaltet haben, fährt der Roboter an den Regalen entlang und tastet mit einem Lesegerät die Buchreihen ab. Er registriert den Standort jedes einzelnen Bandes. Die zurückgegebenen Bücher müssen von den Bibliothekaren deshalb nie an einen bestimmten Standort zurückgebracht werden, weil der Roboter ihnen am darauffolgenden Abend einen aktualisierten Standortplan liefern wird. Die Bibliothekare tragen die Bücher einfach irgendwohin, wo gerade Platz frei geworden ist. Oder: wie sie lustig sind.

In dieser Bibliothek entsteht, bedingt durch das Ausleihverhalten, eine beständig sich verändernde Gruppierung der Bücher untereinander. Wenn Borges das noch erlebt hätte! Das Auswerten der Standortpläne sämtlicher Tage über einen längeren Zeitraum wäre bestimmt interessant.

Wir waren auf dieses Thema gekommen durch den Besuch eines Vertreters für einen Handschriftenroboter. Die von seiner Firma entwickelte Software ermöglicht es, beliebige Texte einzutippen, oder per copy & paste einzugeben, die dann in einer beliebigen Handschrift dargestellt werden (um sie dann als Bilddatei in ein Layout einzupassen). Korrekturen in der Syntax, der Schreibung und Änderungen des Wortlauts der maschinell erzeugten Handschriften sind problemlos per Tastatureingabe möglich. Das ist der Todesstoß für die Comic Sans.

Der Vertreter kam halt leider ein paar Tage zu spät, da hatten die Schweizer sich schon etliche Zeit mit dem Schreiben und Scannen und Größer- und Kleiner-Kopieren von Handschriften verschiedener Handschriftenkünstler beschäftigt. Was auch schön gewesen war, aber halt anders schön. Nicht unbedingt mühevoll.

Die Arbeit hatte uns zusammengeführt, und die Arbeit war nun beinahe getan. Weihnachtliche Gefühle. Vor uns lag eine Zukunft aus 220 leeren Seiten.

26.1.

1974 verlegt Andy Warhol seine Factory ein vorletztes Mal – von 33, Union Square West auf den Broadway, Hausnummer 860. Zeitgleich wird die Factory umbenannt und heißt ab sofort The Office.

In der Küche gibt es zwei Kaffeemaschinen: die Bravilor Bonamat und eine von Melitta. Die Bravilor Bonamat heißt nicht nur toll, sie sieht auch besser aus als das Gerät von Melitta, ein verdruckster Kasten mit einer langen Reihe von Funktionsknöpfen und einer Flüssigkristallanzeige. Wie in einem Witzfilm will sie andauernd etwas, anstatt einen Kaffee auszugeben. Angeblich kann sie sogar Cappuccino. Ein dünner Schlauch aus weichem Kunststoff führt bis in eine aufgeschraubte Packung fettarmer Milch der Marke Ja! hinunter; angeblich kann die Melitta sich aus dieser Milchpackung die Milch selbstständig heraussaugen, um sie dann, während ihres Weges durch den Innenraum der Kaffeemaschine in Schaum verwandelt, in die bereitgestellte Tasse auszugeben. Doch drückte ich die Cappuccinotaste, meldete das Flüssigkristalldisplay: »Reinigung notwendig«. Oder »Wasserbehälter füllen« – ein für die Kaffeemaschine an sich nachvollziehbares Bedürfnis. Fast immer steht aber da: »Easy Clean starten?« Ich mache dann nichts, fühle mich wie bei Kottan ermittelt, habe das einmal auch schon zur Sprache gebracht, aber freilich kennt diese antike Fernsehserie mittlerweile kein Mensch mehr.
(Macht nichts.)

Die Bravilor, möglicherweise sagt man zu ihr auch der Bravilor – ganz einfach, weil’s muskulöser tönt, ist genau so: no nonsense. Schlicht und klobig wie ein Halbschuh von Alden. Vemutlich aus Amerika (ich hab gerade kaum Zeit, um zu googeln), läuft bei ihm der Kaffee aus dem oberen Teil durch eine Filtertüte in eine Kanne. Die, wenn sie dann mit in etwa dreizehn Tassen voll Filterkaffee sich gefüllt hat, was in etwa drei Minuten bloß dauert, plus der Vorgang läuft (sic!) völlig geräuscharm vor sich hin, man auf das Gehäuseobere stellen kann, wo eine Warmhalteplatte eingebaut ist, die den Kaffee in der Kanne stundenlang warmhält und ihm dabei erst das von den guten Leuten von Bravilor vorgesehene Aroma angedeihen lassen hilft. Das einzige Problem der Bravilor Bonamat: Der von ihm oder ihr produzierte Kaffee schmeckt, gleich welches Kaffeepulver man in die rosettenförmigen Filtertüten eingefüllt haben mag, in etwa so, wie ich mir den von Detektiv Cooper frenetisch gelobten Fernsehserienkaffee in Twin Peaks immer geschmacklich vorgestellt habe. Läuft die Melitta mal, produziert sie zumindest einen Espresso, der nicht ganz verkehrt ist.

Und so kam ich dann gestern auf einen ultimativen Lifehack: In eine große Tasse lasse ich die Melitta einen dreifachen Espresso laufen, den ich mit zwei Stücken Würfelzucker verrühre. Darauf einen Schluck Milch. Die Tasse dann mit dem black as the sky on a moonless night aus dem Bravilor (den ich insgeheim Brumilor nenne) auffüllen. Diese Kaffeeschorle schmeckt riesig!

Heute früh bekam ich beim Gedanken daran schon richtig gute Laune, wozu natürlich noch half, dass die Sonne schien und ich gerade in der Zeitung von der Verhaftung oder zumindest Aufstöberung des Keltischen Druiden las. Himmel blitzblau. Vor dem Fenster wurden Baumaschinen auf die gesperrte Straße gefahren. Später dann: Abschied von den Schweizern. Stört alles nicht.

25.1.

Die Vereisung Mitteleuropas beinahe abgeschlossen. Aus München gibt es tolle Geschichten: Schon von der Landebahn aus zeigt sich dort das ergreifende Panorama einer geschlossenen Winterlandschaft (-15 Grad). Der See ist zugefroren, betreten soll man ihn nicht. In der Fahrrinne der Verkehrsschiffe, sie ist in etwa fünf Meter breit, dümpelt das von den Schiffschrauben kontinuierlich kleinteilig gehaltene crushed ice. Die übrige Oberfläche ist in eisengraue Vielecken erstarrt wie der afrikanische Wüstenboden auf den Plakaten von Brot für die Welt. Die Eiswüste von Caspar David Friedrich mit ihren erfrischenden Blautönen vor frühlingshaft flatterndem Himmel: ein Werk der reinen Phantasie. Komisch, dass man sich das, zumindest war das in meinen frühen Jugendjahren so, als Poster kauft und übers Bett hängt. Als Wandschmuck diese Eiswüste. Weil es kaum andere Motive gab im Angebot? Gab es schon. Ich erinnere mich auch noch an Salvador Dalí, die Taschenuhren aus warmem Camembert. Und an weibliche Roboter mit Schlitzsonnenbrillen auf, die sozusagen nackt waren, die als Titten zu bezeichnenden Brüste aus spiegelnd poliertem Edelstahl. Mit rot angemalten Lippen.

In der S-Bahn redete die Begleitperson in beruhigendem Tonfall auf ihre kleine Gruppe aus vier sehr jungen Frauen ein. Wie es sich herausstellte, arbeitet sie für das Goethe-Institut. Woher die Frauen stammen, blieb unklar, weil sie auf Deutsch antworten mussten. Vom Akzent her konnte das alles sein, auch Nepal. Vom Aussehen der Frauen aber Nepal ganz sicher nicht. Also Italien. Die Begleitperson erklärt auf eine schöne Umwege nehmende Weise eine Idee, die ihr wohl im Schlaf der vergangenen Nacht aufgegangen war. Sie fände es schön, und fragt die ihrer Erzählung lauschenden Frauen nach deren Meinung, wenn diese damit anfingen, besondere Gegenstände, die ihnen im Lauf eines Tages in die Finger kämen, auch Gegenstände wie Blätter und Zweige, die ihnen am Wegesrand, aber auch Eintrittskarten und Flyer: wenn sie all diese Gegenstände und Fundstücke, möglich wären sogar kleinere Basteleien, verbunden mit ein paar persönlichen Gedanken, zum Tag, zu ihren Träumen auch, welche Nachrichten sie erhalten haben, was sie traurig gemacht hat, was nicht – ich war da schon beinahe an meiner Haltestelle angelangt, der Zug schon im Bremsen begriffen, da hellte sich das Gesicht einer ihrer Zuhörerinnen auf und sie brachte endlich das deutsche Wort heraus: »Tagebuch«.

Was war ich froh. Gibt ja nichts Schlimmeres, als wenn einem ein Wort auf der Zunge liegt.

24.1.

Heute vor einem Monat, heute in elf Monaten.

Eingeschlafen – gar nicht so lange her, da hätte ich noch schreiben können »mit dem Hörer in der Hand« – direkt nach dem Telefongespräch mit Roe Ethridge, das ich im Dunkeln geführt hatte: liegend, Licht aus, Display auch aus, nur der Knopf meines Aufnahmegerätes leuchtete orangerot. Bei ihm war es midday, Los Angeles, Autogeräusche im Hintergrund. Roe Ethridge zündete sich eine Zigarette an.

»Could you live outside the United States?«
»Good Question«
»Did you ever?«
»No. «

Dann ging es über Poutine, Kanada. Wo ich noch nie war.

Geträumt vermutlich demzufolge von einem Restaurant, in dem es Wahnsinnsfritten gab. Ich freute mich gleich, als es losging in dem Restaurantsetting, weil ich meine kulinarischen Träume sehr mag und sehr gern sehr viele mehr davon hätte, weil wie in den erotischen Träumen, geht auch in meinen kulinarischen nie etwas schief (ist aber nichts Besonderes, glaube ich, jedenfalls habe ich noch nirgends von ekligen Essträumen gelesen).

Die Fritten in dem Traumrestaurant, das damit zum Restaurant meiner Träume wurde, waren von der Dicke, vom cut her Pommes Pont Neuf, aber halt länger, ungefähr 11 Zentimeter. Sie wurden, in Gittern aufeinander geschichtet, auf verhältnismäßig kleinen, stark spiegelnden Tellern aus weißem Porzellan serviert. Ohne Aufdruck, ich weiß nicht, wie das Traumrestaurant sich nannte. Werde es aber eines Nachts wiederfinden. (Das ist das Gute an meinen Träumen, die nur wenige Sujets kennen und von daher zu Wiederholungen gezwungen sind.) Roe Ethridge ist ein guter Name für ein Restaurant.

Beim Aufwachen freute ich mich schon wieder aufs Einschlafen. So, wie man sich an manchen Tagen beim Einschlafen aufs Frühstück freut.

Allein auf dem Bahnsteig, das gibt es hier öfter um diese Zeit früh am Morgen. Die Rolltreppe macht Geräusche. Wie ein Orchester, das Instrumente mit gläsernen Saiten stimmt.

23.1.

Theoretisch könnte es in sechs Wochen schon tatsächlich März sein. Das scheint unvorstellbar. Auch, dass es jemals wieder hell werden könnte vor halb neun. Dass jemals die Sonne wieder scheint. Gestern, kaum dass ich fertig war mit meiner Klage über die Finsternis und das Brandstättenhafte der Landschaft vor meinem Fenster, hatte es sich dort wie mit einem Schlag aufgeklart: In den Zweigen des großen Baumes saßen – ich hatte meine Brille nicht auf – mehrere Pinguine, und sonnten sich hoch in der Luft.  So sehen die hiesigen Nebelkrähen aus, wenn beim Aufplustern ihr lehmfarbenes Untergefieder zum Vorschein kommt. Bei Plustemperaturen wirken sie elegant und von ihren Farben und der vom wie lackierten Schnabel aus abwärts getuschten Form wie belgische Polizeibeamte - aber bei minus vier Grad Punktpunktpunkt (Für diesen Sketch braucht man vier bis fünf Eiswürfel. Man verbirgt sie in der hohlen Hand, die man sich auf Hüfthöhe hält, und fragt in die Runde: »Wie pinkeln Eskimos?«)

Es ist generell eine ganz schlechte Zeit, um etwas zu erleben. Die Tiere frieren. Selbst wenn sie nicht frieren, machen sie so gut wie nichts, noch nicht einmal Geräusche. Und die Menschen beeilen sich vor allem, um rasch wieder von der Erdoberfläche zu verschwinden, sodass es auch, wenn es erst hell geworden ist, so gut wie nie etwas Interessantes zu sehen gibt draußen. Und ob man sich das ehrlich wünschen sollte, dass bei einem zu Hause ordentlich was los ist – ehrlich gesagt: lieber nicht.

Abends spät dann zeigte ich Enea noch den russischen Supermarkt am Stuttgarter Platz. Für einen Schweizer ist das ein wirklich exotischer Ort. Auf der Langstraße in Zürich gibt es diverse asiatische Läden und Imbisse, aber wie die Nebelkrähen haben sich die russischen Unternehmen vor allem in Berlin angesiedelt. Den russischen Supermarkt gibt es schon ein paar Jahre, aber mittlerweile wurde er vom Farbkonzept her überarbeitet. Über den Regalen reicht ein Fries aus grellen Plakaten bis an die verspiegelte Decke. Allein das Regal mit den Würsten ist sehenswert – man bekommt nicht unbedingt Lust darauf, die Würste zu probieren. Dasselbe gilt für eine Wand aus Schütten voller Bonbons in vielen Größen: Hier reicht der Anblick der glitzernden Einwickelpapiere als Genuss. Der Alkohol, in einem russischen Supermarkt interessiert das freilich, wird in Bedienung verkauft. Wie in unseren Supermärkten in der Schweiz und in Deutschland Käse und Fleisch. Die russische Verkäuferin steht hinter ihrem Tresen in einer Nische des Marktes. Die daraufhin zuführenden Regale enthalten Weinflaschen, manche sind aus Georgien (zu erkennen an den wie von Außerirdischen im Film erdachten Schriftzeichen auf den Etiketten). Schnäpse nur auf Anfrage, beziehungsweise nach dem Beratungsgespräch. Es waren aber, was schade ist, keine Russen da, die Schnaps kaufen wollen. Es waren im Grunde überhaupt keine Russen da. Bis auf die Schnapsverkäuferin. Der Supermarkt hat 24 Stunden durchgehend geöffnet. Auch sonntags. Aber um jetzt abzuwarten, bis ein Russe kommt, den wir beim Einkaufen beobachten dürften, dazu war es uns gestern spätabends auch im Supermarkt noch zu kalt.

22.1.

Unaufhörlich begegnen sich in den gegeneinander bewegten Luftschichten Wolken mit ähnlichem Gesicht. Die Sonne taucht dahinter ab und erscheint dann wieder in einer Lücke, weiß, aus spiegelndem Material. Alles unter dem Himmel ist grau, schwarz oder bläulich, hier und da dampft oder qualmt es, so als hätte es die ganze Nacht gebrannt.

Ich kann verstehen, dass, ich weiß nicht mehr genau, wer, womöglich war’s ein Dichter ohne Namen, den Sonnenaufgang über einem Schlachtfeld mit einer Kerze Gottes beschrieben hat, die zum Ende der Nacht angezündet wird von dessen unsichtbarer Hand. Auch das Wetter, solch einen unendlich langwierigen Januar, will ich von ihm bedichtet lesen. Ich kenne bloß das Kapitel mit dem Eiszeitwinter in Orlando, als man sich noch auf Schlittschuhen aneinandervorbeifahrend kennenlernte: »Birds froze in mid-air and fell like stones to the ground«.

Dass eine Frau aus Norwich quasi explodiert sein sollte in einer Wolke aus winzigen Kristallen scheint dagegen plausibel. Es gibt diesen selbstgedrehten Film auf Youtube, da tritt der Anwohner einer sibirischen Bahnstation bei minus 60 Grad vor die Tür, um im Freien dort einen Schluck Wasser in die Luft zu speien. Der, man sieht es in diesem Film, tatsächlich noch in der Luft schwebend, gefriert. »Mid-air« und »turned visibly to powder and being blown in a puff of dust over the roofs as the icy blast struck«.

Die Zeit scheint mitgefroren. Zeit, die sich elastisch anschmiegt an die Temperatur, die gelatinös gerinnt – eine Horrorvorstellung (bitte nicht schreiben!!!). Januar, Februar, die blattlose Zeit, die fest- und freudlose auch: Für mich die reine Abfallzeit. Beim Händewaschen fällt mir auf, dass sogar meine Fingernägel langsamer wachsen. Es ist, dazu muss ich wirklich rechnen: gerade 18 Tage her, dass ich aus Frankfurt zurückgekommen bin. Mein Zeitgefühl behauptet etwas ganz anderes. Nur wenige Lichtstunden, und Dunkelheit wiegt scheinbar doppelt schwer. Mindestens.

»All ends in death«, Orlando would say, sitting upright on the ice.

21.1.

Ich saß bis weit in den Nachmittag hinein am Schreibtisch und versuchte mich auf ein Telefongespräch mit Roe Ethridge vorzubereiten. Bis dahin bloß innerlich. Den Stapel der Bücher, Galeriepublikationen und Zeitschriften hatte ich noch nicht angerührt. Die selbstgemachten Mappen, die mir die Schweizer gebracht hatten, eher durchgeschaut als studiert. Wie ließe sich der Komplex des Politischen heute, aber nicht bloß heute, am liebsten komplett, umgehen? War das überhaupt möglich?

Er ist nur drei Jahre älter als ich. Am Morgen war in Texas ein weiteres Zeichen auf der Stele von Tz’unun entziffert worden: Es weist auf einen Herrscher der Maya in der Zeit zwischen dem 7. August und dem 26. Juli hin (beides 639 vor Christus). Ich habe mich vor Jahren für den Newsletter der Entzifferungsgruppe angemeldet und lese die teils mehrmals pro Woche eintreffenden Erfolgsgeschichte sehr gern. Noch nicht einmal zur Zerstreuung. Beinahe wie eine Erzählung, in der immer wieder etwas Ähnliches passiert. Ich war auch schon mal Mitglied der Deutschen Kakteengesellschaft. War auch sehr beruhigend, deren monatliche Mitgliedernachrichten ins Haus geschickt zu bekommen und dann in der ausnehmend schön gestalteten Broschur zu lesen. In der Maya-Gruppe fragte man sich nun, um welchen Herrscher es sich gehandelt haben dürfte. Da sind ja noch tonnenweise Stelen und Steinplatten übrig, auf denen Millionen kleiner Schriftzeichen ihrer Entzifferung harren. Die Maya-Tsolkin, so nennen sich die Schriftzeichen, sind den ägyptischen Hieroglyphen von ihrem Prinzip her ähnlich, dabei aber sowohl hübscher gestaltet, aber vor allem komplexer von ihrem Verschlüsselungsgrad. Auf einer quadratischen Matrix finden sich bis zu vier Elemente, die im einzelnen zwar wiederholt auftreten, aber in ihren Kombinationen auf unterschiedliche Bedeutungen hinweisen. Die Entschlüsselungsarbekt wird zusätzlich erschwert, weil die spanischen Eroberer um Cortez the Killer den Nachfahren der Maya die spanische Sprache oktroyieren wollten. Dafür musste den Ureinwohnern die alte Sprache aberzogen werden, deren Alphabet auch mit diesen Tsolkin festgehalten ward. Um einige Laute, beispielsweise das lispelnde Zischen im Spanischen, durchdrücken zu können, wurden die Alphabete der Maya verfälscht, umgedeutet und, wo nötig: zerstört. Auslöschung der Muttersprache. Zumindest in Teilen.

»Thema für Roe Ethridge?« schrieb ich nicht an den Rand. Als Erik anrief, um mir endlich von den Fortschritten seines work in progress mit den Bleigüssen zu berichten, live, war es bereits dunkel. Er war dort in dem Haus und hatte den Ofen bereits eingeheizt. Ich konnte alles genau vor mir sehen. Es war ja gerade mal eine Woche her. Die Klappe im Boden der Küche. Der Ofen. Die Stille im Garten und der zugefrorene See vor der Tür. Ich erzählte Erik nicht, dass die Bilder Roe Ethridges, gerade drei Jahre älter als Erik und ich, von Larry Gagosian verkauft werden. In der Wikipedia steht, Roe Ethridge besitze ein Haus am Rockaway Beach (wie Klaus Biesenbach).

Wie gern wäre ich jetzt in dem schönen Haus am See gesessen bei einem köstlichen Glas vom Pfirsichwein. Erik erzählte mir neulich, dass er oft daran dächte, wie schön und vor allem unproblematisch es sich in diesem Haus vermutlich leben ließe. Ihm kämen diese Gedanken immer dann, wenn das Leben in der Stadt sich wieder einmal, wie so oft, als kompliziert darstellt. Kann ich verstehen. Sehr gut sogar. Ich hatte ja auch falsche Entscheidungen getroffen und wäre als Dechiffreur glücklich geworden.

Jan Philipp Reemtsma schreibt in seiner Erinnerung an den Keller, dass er auch noch Jahre nach seiner Freilassung aus dem Keller sich manchmal dabei ertappt fand, dass er sich nach dem Keller zurückgesehnt hatte.

20.1.

Gestern war der Techniker vom Kundendienst zweimal da, um den Kopierer zu reparieren. Die Schweizer schneiden den ganzen Tag über Fotos aus. Die Fotos finden sie in Büchern und Zeitschriften, sie bekommen aber auch Fotos zugeschickt von Fotografen, die mit einer Produktion beauftragt wurden. Sie kennen die Prozentzahlen auswendig, also um wieviel Prozent man eine Vorlage, etwas kleiner noch als eine Postkarte, vergrößern muss, um ein Vollformat DIN A4 mit umlaufend weißem Rand zu erhalten. Der Rand dabei immer gleich stark. Der wird dann in einem weiteren Arbeitsgang abgeschnitten. Die ausgeschnittenenen Motive werden in Mappen sortiert, die die Schweizer sich aus weißem Karton selbst anfertigen. Auf die Mappendeckel wird handschriftlich der Name des Fotografen gemalt. In einem weiteren Arbeitsschritt werden aus den Motiven dann Layouts zusammengestellt. Zunächst auf Tischen, bei längeren Strecken auf dem Fußboden. Diese Layouts werden dann im Computer nachgebaut. Ein verkleinerter Ausdruck der im Computer nachgebauten Layouts wird dann an einer der Styroporwände festgesteckt.

Ja, vor dreißig Jahren war das langweilig. Aber jetzt! Vor allem sieht es dann im Druck tatsächlich anders aus. Auf irgendeine Weise schlägt sich dieser Prozess im Effekt nieder. Man weiß nicht, wo, aber man sieht es. Ein Ichweißnichtwas. Wie der Klecks Ketchup in der Bloody Mary. Lässt man den weg, wird der Drink leider bloß halb so gut. Das Ketchup macht etwas, aber wir wissen nicht, was. Die Schweizer verwenden auch einen eigenen Blindtext. Nicht lorem ipsum, es handelt sich um das Protokoll eines Telefongesprächs mit einem Mann namens Brad.

19.1.

Schreiben: Ich liebe es. Und eigentlich sogar beinahe egal, was. Wie ich gestern erst feststellen durfte. Gestern verfasste ich drei kurze Texte, einen über den Kaktus, einen über die Bratwurst, einen über die Socke. Alle drei Mal war es schön gewesen, zu schreiben. Es öffnet sich vom Prinzip her dabei der immerselbe Raum, in dem ich mich aufhalte, während um mich herum dann die Zeit vergeht. Vom Geschriebenen aufschauen und es ist hell. Rainald Goetz hat mal gesagt: »Wenn es geht, ist es gut, wenn es mal nicht geht, ist es nicht gut«. Natürlich ohne das »nicht gut«. Das ließ er weg, und schaute, anstatt etwas zu sagen, vor sich hin. Aber wenn er es irgendwann vorher oder hinterher aufgeschrieben hätte, dann. Vermutlich. Etwas in der Art.

18.1.

Derzeit komme ich täglich an einem Antiquitätengeschäft vorbei, dort steht im Fenster eine afrikanische Skulptur. Sie ist in etwa einen Meter hoch und ähnelt von der äußeren Form her einem Kaktus ohne Verzweigungen (und ohne Topf). Im oberen Drittel der Form befinden sich auf der dem Fenster zugewandten Seite zwei Löcher, die, weil sie parallel und nebeneinander auf einer Waagerechten eingebracht wurden, mich an Augen denken lassen, und daraufhin erscheint mir das Ganze natürlich als Bild eines beseelten Wesens. Das Material könnte Ton sein oder eine andere Erde, jedenfalls ist es von rötlichem Hellbraun. Weder glasiert noch bemalt.

Ich habe das Geschäft noch nie betreten, bleibe aber jeden Tag zweimal vor dem Schaufenster stehen. Wenn es dunkel ist, wird die Skulptur von der Nachtbeleuchtung gelblich angeleuchtet (nicht -gestrahlt). Man würde das Lämpchen mitkaufen wollen, falls. Ich kam da gestern aus dem Lokal Zwiebelfisch, wo ich die Neue Zürcher Zeitung gelesen hatte. In den kommenden Tagen habe ich viel mit zwei Schweizern zu tun, da kommt es leicht zu Missverständnissen, also bade ich allabendlich ein bisschen in deren Sprache, um mich vom Gefühl her auf ihre Ausdrucksweisen einzustellen. Die beiden sind, sprachlich gesehen, wie Goldfische in ihrem Plastikbeutel von ihrer Schweizer Sprache umgeben und mit meinem Deutsch dringe ich nicht vollständig zu ihnen durch. Gestern fragte Beda, dabei eine der eigens für ihn aufgestellten Styroporwände abschreitend, an der schon zig ausgeschnittene Schriftproben und Zeitschriftenseiten beispielhaft hingen, nach einer Nadel, dabei erzählte ich ihm, dass ich neulich vor dem Haus eines Mannes gestanden hatte, einem Uhrmacher, der als Erfinder der Reißzwecke gilt.
»Was ist Reißzwecke?«, fragte der Schweizer. Und lächelte nach meiner Erläuterung in sich hinein. Enea, der andere Schweizer, schaute mich ausdruckslos an.

Bei der Zeitungslektüre genügt beinahe schon ein einziger Satz. Gestern beispielsweise auf der Titelseite im Vorspann zu einer Randspalte: »Trump spricht im Interview mit europäischen Zeitungen«. Nicht »Bild« und »Times«, sondern europäische Zeitungen. Das rückt alles zurecht. Der Satz würde vermutlich noch stärker wirken, wenn ich ihn in einem Lokal in Freiburg gelesen hätte, wo die Schweiz schon ganz nahe scheint, vor allem räumlich. Er funktioniert aber auch noch am Savignyplatz in Berlin. Es gibt Menschen, die halten die Schweizer Sprache für eine Art Dialekt des Deutschen. Dann könnte ich mir das abendliche Sprachbad sparen. Auf einer Folgeseite, noch immer im Politikteil, fand sich eine ganzseitige Erzählung von den Straßenrestaurants in Singapur: »Tische und Hocker sind profan und am Boden festgeschraubt; für Kinder sind das ideale Turngeräte. Eine Zuordnung der Plätze zu einer bestimmten Küche gibt es nicht. Es herrscht Selbstbedienung. Ventilatoren blasen, Plasticgeschirr klappert. Angestellte räumen die verschmierten Teller ab und schieben sie auf Servierwagen in die Küche. Kinder schreien, und sporadisch heulen Mixer auf. Die Luft ist voller Dämpfe und scharfer Gerüche, es ist überall feucht und nass. Im Neonlicht glänzen die braun-grillierten Gänse fettig, daneben liegen blasse, rohe Hähnchen. Grosse Schweinsstücke versperren wie ein fleischiger Vorhang die Sicht auf Töpfe und Bratpfannen.« Ein Meisterwerk. Ganz klar. Als Objekt abgesandt aus einer Galaxie im außereuropäischen Weltraum.

Der große See friert jetzt zu. Die Verkehrsschiffe hinterlassen gurgelnde Geräusche.

17.1.

Am Abend traf ich mich mit Moritz in der Mozarellabar, die wirklich so heißt. Dann gingen wir die kurze Strecke zu Fuß in die Schönhauser Allee. Die Diskothek dort heißt Last Cathedral. Es gibt sie schon eine verblüffend lange Zeit, viele Jahre. Dabei ist diese Gegend auf der Talseite der Schönhauser Allee längst gentrifiziert, im Nachbargebäude befindet sich beispielsweise das für seine restriktive policy berühmte Café The Barn von Ralf Rüller. Auf der anderen Seite wird das Last Cathedral von einem Drogeriemarkt (Rossmann) flankiert. Es handelt sich um eine sogenannte Klienteldiskothek. Die Klienten sind, der Name lässt es vermuten, klarerweise Grufties, aber gestern ging es um Mode, denn im Last Cathedral fand die Auftaktveranstaltung der Berliner Modewoche statt. David Roth und Carl Jakob Haupt veranstalteten dort ihre Mottoparty. Motto: Tod.

Die Warteschlange hatte sich bereits um das Drogeriegebäude und beinahe um das um die Ecke gelegene Soho House herumgewickelt. Das ist das Gute an den Partys von David und Carl Jakob: Seit es diese Veranstaltungen gibt, ist die Modewoche danach auch gleich wieder vorbei. Das war vorher nicht so. Man musste dann teilweise noch quälend viele Modenschauen besuchen und sich dann am Mittwoch auf dem grauenhaft langwierigen Cocktailempfang der Zeitschrift Vogue mit Filialleitern einer Mercedesniederlassung auf Sylt unterhalten. Die Modewoche in ihrer alten Form erstreckte sich tatsächlich noch über mehrere Tage und nahm vom Gefühl her tatsächlich eine gesamte Woche in Anspruch. Die von David und Carl Jakob relaunchte Modewoche dauert nur ein paar Stunden einer einzigen Nacht. Aber mittlerweile, seit dem Anschlag auf ein Konzert der Eagles of Death Metal in Paris sind noch nicht viele Monate vergangen, in der Sprache der Mode: nur ein Wimpernschlag, habe ich scheinbar ein für mich neuartiges Gefühl entwickelt: Ich stehe nicht mehr gern in Warteschlangen vor Diskotheken namens Last Cathedral an, in der eine Mottoparty mit dem Motto »Tod« gefeiert wird. Ein Gefühl, das ich teilen kann mit beispielsweise Thom Heise, der damit sogar etwas geschäftlich zu tun gehabt haben wird, und den ich dann an der Bar traf, und der, im Gegensatz zu mir, sich verkleidet hatte mit einem imposant wirkenden Offiziershut. Auch ihm war nicht wohl mit solchen Menschenmassen, die über die Wendeltreppe hinunter in den Raum drängelten. Meldung aus dem oberen Stockwerk: Die Schlange war inzwischen doppelt so lang. Anscheinend gab es im Untergeschoß keine Notausgänge. Allein, das man nach so etwas schaut!

An einem Kreis aus Stahl hingen gehäutete Schafsköpfe über dem Tresen, die, das erzählte Carl Jakob und es schien für das Verständnis wichtig, in einem Koffer aus Aluminium aus Kassel hertransportiert worden waren im ICE. Was mir sehr gefiel, Moritz gab sich anfangs abwartend, dann aber doch hingerissen: zwei Zwerge. Sie hießen Elke und Ulf. Also auch von den Namen her angenehm kurz. Übrigens selbst auch Eltern. Carl Jakob hatte sie über eine Webseite gebucht, die sinnigerweise unter »Kleindarsteller.de« firmierte. Der Job der beiden bestand nun darin, vom Tresen aus, also stehend, eine Flasche Wodka nach der anderen in die geöffneten Münder all jener zu füllen, die sich so etwas schon immer, oder bloß heute, spontan, gewünscht hatten. Das wollten viele. Unschönes Detail: Wie Carl Jakob erst am Abend beim Eintreffen der Zwerge herausgefunden hatte, handelte es sich bei ihnen von der Gesinnung her um Nazis. Also nicht bloß Wutzwerge, schon noch ein bißchen mehr. Aber wie beim Wutzwerg war wohl der Grund bei Ulf und Elke in deren Lebensgefühl des Ausgeschlossenseins zu suchen. An diesem Abend waren sie jedenfalls mittendrin im Geschehen. Aber ob das politisch was brachte, gesinnungsmäßig, muss leider bezweifelt werden. Als wir gingen, schraubte Elke gerade eine neue Flasche auf. Im Eingangsbereich traf ich dann noch auf Larissa, eine Tätowiererin, die auf malerische Übergänge spezialisiert ist (in ihrer Kunst), und die sich dort einen kleinen Arbeitsplatz eingerichtet hatte. Die Gäste durften sich von ihr kostenlos tätowieren lassen. Aber bloß eins von zwei Motiven: entweder Pentagramm oder Totenkopf. Bei unserem Abschied hatte sie gerade Ulf in der Mache, der sich einen Schädel in den Unterarm stechen ließ. Die Warteschlange reichte bis zum gelblich flimmernden Horizont.

In der U-Bahnstation Rosa-Luxemburg-Platz werden historische Fotos als Wandschmuck ausgestellt und auf einem dort erfährt man, dass es vor hundert Jahren hier noch eine Zigarettenmarke gab, die hieß »Problem«.

16.1.

Um kurz nach zwei Uhr aufgewacht; ungewöhnlich, weil wenn schon, dann wache ich mitten in der Nacht für gewöhnlich kurz nach drei Uhr auf. In meinem Traum war ich in der Umkleidekabine der Rolling Stones gelandet. Wer genau von den Musikern mit mir in dieser Kabine war, konnte ich nicht erkennen – was auch daran gelegen haben wird, dass ich von denen nur drei auswendig präsent hätte, aber ich wusste, wie ich es vom Gefühl der Gewissheit her nur als Träumender wissen konnte, dass es sich bei den mit mir in der Enge einer Kabine zusammengepferchten Männern um die Rolling Stones handelte. Die Stimmung war heiter, aber die Heiterkeit wirkte nicht ansteckend auf mich. Dies allerdings nur im Traum selbst, und dies auch lediglich im Nachhinein festgestellt, denn als ich dann wach lag, fand ich mich guter Laune. Auch amüsiert von der absurd weit hergeholten Geschichte meines Traums. Ich interessiere mich für ziemlich viel, aber so gar nicht für die Rolling Stones.

Vermutlich war es die waranhafte Mimik von Edmund Stoiber gewesen, die diese Traumbilder erzeugt hatten. Vor dem Einschlafen hatte ich ihn noch in der Gesprächsrunde von Anne Will gesehen. Die Kamera hatte ihn, wenn er sich abgeregt hatte, immer wieder mit einer Nahaufnahme gezeigt: die Augen geschlossen, als genieße er den Sonnenschein. Wie ein sehr großes Reptil, oder ein sehr kleines in Großaufnahme, auf einem Stein.

15.1.

»Am nächsten Tag setzten wir die Graupen auf, kochten sie mit Salz und gossen sie ab. Meri verrührte in einem zweiten Topf drei Becher Matsun und drei Becher Schmand«, las ich in einem Manuskript über sein Jahr in Armenien, das Marc Degens mir mitgegeben hatte. Fügte sich wärmend in unsere Situation in dem Haus am zugefrorenen See, das, je länger wir dort blieben, desto wahrscheinlicher war zumindest mir das erschienen, um die Klappe im Küchenfußboden, beziehungsweise den darunter verborgenen Vorratskeller, herum gedacht worden war.

Zehn Stunden geschlafen, ohne sich am Morgen danach auch noch krank zu fühlen – entweder lag das in der Landluft begründet, vielleicht auch waren dem Ofen die Nacht über einschläfernde Gase entwichen. Jedenfalls fühlten wir uns stark. Ein Spaziergang über den knirschend gefrorenen Schnee führte am Ufer entlang und später dort eine Treppe empor auf den Wall, hinter dem ein Supermarkt wartete. Die freundliche Verkäuferin packte uns von ihren Kümmelknackern in eine Tüte, die mit nackten Schweinchen bedruckt war. Die veranstalteten übermütig Purzelbäume und, wie auf wundersame Weise, verletzten sie sich dabei nicht mit den Messern und Gabeln, die sie in ihren Fäusten hielten. Kein Tropfen Comic-Blut war auf die ihnen umgebundenen Servietten gespritzt. Am Tresen stand auch ein Freak an, größer noch als Erik, dazu mit Schultern in etwa doppelt so breit. Dem ringelte sich ein dünner Pferdeschwanz aus ergrautem Menschenhaar unter seiner Mütze aus vanillefarbenem Pelz in den Nacken. Seinen Körper hatte er in das Twin-Set eines weißen Daunenanzuges verpackt, das kreuz und quer mit stilisierten Birkenstämmen bedruckt war, hinter denen sich schematisch dargestellt, die Schatten von Tieren zu verbergen suchten. In den Wäldern ringsum gab es nirgendwo Birken.

Nach Einbruch der Dunkelheit fuhren wir zurück in die Stadt. Erik verschwand zwischen den staksenden Menschen im Eingangsbereich des Hauptbahnhofs, mich entließ Heiko am Haus der Berliner Festspiele aus dem Baustellenfahrzeug. Es gab, das war seit Tagen so abgemacht, ein Tanztheater von Alain Platel. Es war noch über eine halbe Stunde hin bis zum Einlass und trotzdem scharten sie sich und strömten. Hier gibt es ein Publikum zu sehen, wie sonst nirgendwo in der Stadt. Auch modisch. Insbesondere modisch. Und das an beiderlei Geschlecht. Hier wird noch Issey Miyake getragen. Und Broschen. Lange Mäntel aus, wie es heißt: fließenden Materialien. Das Stück war ausverkauft.

Das Bühnenbild lässt einiges ahnen. Berlinde de Bruyckere zeigt einen zerschlissenen Fries aus Rupfen. Davor liegen zwei ausgestopfte Pferde aufeinandergestapelt. Ein Flaschenzug, der bis in den Schnürboden reicht, kündigt ein drittes an. Die Tänzer, es sind neun, fangen nach dem kurzen Solo damit an, sich gegenseitig die Nafri-Looks vom Leib zu reißen. Damit sind die acht Männer eine ganze Weile in wechselnden Konstellationen beschäftigt. Vorgeführt werden Beweglichkeit und Stück für Stück nun auch die blanken Instrumente selbst, in Gestalt der sehnigen Körper. Die einzige Tänzerin ist von ihrem Typ »herb« her leider nicht so ausgesucht, das man sich auf das Kommende freut. »Uraufführung 1. September 2016, Jahrhunderthalle, Ruhrtriennale, Dauer 1 Stunde 40 min ohne Pause«. Der Regisseur hat eine hohe Wette laufen mit seinem Publikum, das Stück heißt Nicht Schlafen. Die Musik von Gustav Mahler ist freilich schön.

Der Applaus nimmt kein Ende. Die Frau neben mir macht einen schallenden Indianderruf, den sie mit ihrer vor den Lippen vor und zurück oszillierenden flachen Hand erzeugt. Jan weist mich völlig zu recht darauf hin, dass der Berliner Applaus gemeinhin mit »herzlich, aber kurz« charakterisiert wird. Das dritte Pferd war tatsächlich aus der Versenkung gehievt worden (mit dem Flaschenzug).

Auf dem Weg zur Bahn machten wir bei Herrn Arzou Station. Er betreibt sein Restaurant schon mindestens seit den Siebzigerjahren. Als ich ihn kennenlernte, war er schon ein älterer Herr. Damals noch einer zum Fürchten. Man konnte nicht einfach in sein Restaurant kommen, man musste vorher reservieren. Wer reserviert hatte, hatte unbedingt pünktlich zu kommen. Ansonsten passierte es, dass man von Herrn Arzou wieder nach Hause geschickt wurde. Oder anderswohin. Jedenfalls weg. Mittlerweile ist er milde geworden. Aber in den Details unerbittlich. Die Speisekarte wurde seit den Siebzigerjahren nicht mehr verändert. Wozu auch? Es gibt dazu tatsächlich keinen einzigen Grund. In dem Manuskript beschreibt Marc Degens einen Aufenthalt in den verschneiten Bergen Armeniens, wo ihm ein Bergbewohner seinen ausgedienten Kleiderschrank vorführt, in dem sich stapelweise die armenischen Fladenbrote mit Namen Lawasch türmen. Ein menschliches Eichhörnchen. Dieses Dauerbrot schmeckt frisch vom Grill ausgezeichnet. Vor allem, wenn man darin den Hackspieß Lule einwickelt, gemeinsam (nicht zusammen) mit Streifen roter Zwiebeln und ein paar Blättern Minzbasilikum. Dann kam das Kalbfleisch, das bei Herrn Arzou ein unvergleichliches Aroma hat – von seiner Zartheit nie zu schweigen. Ich glaube ja, dass er beides, Textur und Aroma, unerreicht dadurch erzeugt, in dem er die Kalbsfilets in Milch mariniert, tagelang. Da ist eine fadenhaft zarte Spur eines Aromas von gegrillter Milch an und hinter den Stücken. Gefragt habe ich Herrn Arzou aber noch nie.

In der Bahn sind nach ein Uhr nachts noch hundert Menschen stadtauswärts unterwegs. Telefongespräche, Paare, einzelne Männer. Ich bin einer von ihnen. In Blässhuhnhausen ist alles beim Alten. Hier muss ich nie weg, um bei der Heimkehr die Schönheit von neuem zu finden.

Wind weht, Mensch geht. Bett steht.

14.1.

Vorbei an Gärten und Häusern, an einigen kleben noch Reste der Stadtmauer, führt die Straße an einer Tankstelle vorbei in den Wald. Wir besuchten den Fischer, der dort am Ufer eines weiteren Sees, es gibt deren acht rings im Wald, sein Geschäft betreibt. Ein wortkarger Mann mit klarem Blick. In einem Eimer drängeln sich Forellen aneinander. Dazwischen steckt ein Gerät, das den Strom aus der Steckdose ins Wasser entlädt. Danach ist Ruhe im Eimer. Der Fischer betätigt den grünen Schaltknopf der Sonde noch ein paar weitere Male und bei jedem Mal geht das Gezappel im Eimer von vorne los, ein elektrisches Ballet. Sobald sein Daumen den Knopf wieder freigibt, sinken die Fischleiber in sich zusammen.

In dem Verkaufsraum steht noch ein Weihnachtsbaum. Es ist kalt dort, es liegen kaum Tannennadeln auf dem sauber gewischten Fußboden. Die Zweige des Baums sind mit schmalen Streifen eines Netzes behängt. Dazwischen aus Holz ausgesägte Fischformen. Die fischförmigen Fläschchen aus Kunststoff, in denen einst Sojasoße war, mit dem roten Schraubverschlüsschen anstelle eines Fischmauls. Ich fragte ihn nach einem ziemlich großen Knochen am goldenen Band, der dort hing. Der Fischer erinnerte sich noch genau an den Tag, einem im Februar 1991, als er diesen Wels mit 33 Kilogramm Gewicht aus dem See gezogen hatte. Der Knochen ist einer aus dessen Wirbelsäule. Nach dem Filetieren des Fanges hatte er die Reste auf das Dach seiner Hütte geworfen, wo dann wohl die Krähen die Knochen blitzblank abgeputzt hatten. Die schönsten Teile kommen seitdem, seit den frühen Neunzigerjahren an seinen Weihnachtsbaum. Er zeigte uns die Ringe auf diesen Knochen, reliefartig, an denen sich das Alter eines Fisches ablesen lässt. Vergleichbar mit den Jahresringen auf einer Baumscheibe.

Er lieh uns das Dreibein, auf dem Rückweg fing es wieder zu schneien an.

Erik hatte die Feuerstelle im Garten vorbereitet. Das Blei schmilzt bei 280 Grad in einem Kupfertopf, es dauerte ziemlich lange, so in etwa 20 Minuten, bis drei Kilogramm einer Legierung aus Zinn und Blei zu einer metallisch glänzenden Pfütze zerronnen waren. Eingeschmolzen waren sämtlich misslungenen Güsse, obendrauf, wie als Würze, die Zinnsoldaten aus den in Sütterlin beschrifteten Schachteln. Erik schätzte, dass er in etwa zehn Versuche brauchte, um eine Form zu erhalten, die in seinen Augen Bestand hat. Und das auch aus statischem Grund, denn einige der aus dem Schapfen ins eiskalte Wasser geschütteten Ladungen erstarrten zwar zu bizarren Formen, aber sie halten dann entweder nicht oder nur schlecht zusammen, weil etwa ein zu dünner Grat den zum Standfuß geeigneten unteren Teil mit einem dafür zu schweren Kopf zusammenhält. Das Ganze läuft vom Prinzip der Herstellung her wie beim Käsefondue. Ist freilich gefahrvoller, weil insbesondere beim Einschmelzen der fehlgegangenen Güsse die Legierung aus dem Feuertopf herausknallt und spritzt.

In einigen Stunden Arbeit entstand so am Ende, da war es bereits dunkel geworden, gerade mal ein einziges Stück, das Gnade findet vor Erik, der es geschaffen hatte. Zwar spielt der Zufall eine gewisse Rolle beim Bleigießen – man kennt das ja selbst aus der Silvesternacht – und auch in dem stark vergrößerten, brutalistischen Maßstab, in dem Erik hier das Bleigießen betreibt, wird ein Teil der Formgebung von Zufälligkeiten oder schwer beherrschbaren Faktoren bestimmt; aber halt nicht nur. Wesentlich ist an dieser Arbeit vor allem die Selektion. Was darf bleiben, was geht zurück in den Topf. Wir sprachen wenig, fragten uns aber, wie lange, wie umfangreich die Versuchsreihen von Jackson Pollock wohl gewesen sein mögen, bis er dann mal eine Leinwand auf seine Weise befriedigend beschüttet hatte, dass dort ein Bild entstanden war, wie er es sich vorgestellt haben wird.

Wer, wie Erik, schon Hunderte Mal ein paar Kilo geschmolzene Metallsuppe in den Bottich geschüttet hat, verinnerlicht gewisse Bewegungsabläufe und weiß, mit welchem Schlenker er eine gewünschte Form erzeugen kann. Auch wenn dann in den Details noch Überraschendes sich gebildet haben wird. Die Skulptur des Tages war dann etwa dreißig Zentimeter hoch. Sie wiegt bestimmt an die zwei Kilogramm. Vom Gesamteindruck her wie ein Bürogebäude namens The Golden Fang. Alle übrigen Stücke werden demnächst wieder eingeschmolzen. Das eine jedoch wird nun von einem 3D-Scanner abgetastet und aus den Daten wird ein 7,3-fach vergrößertes Modell in Wachs ausgedruckt, das in die Ausstellung kommt. Weshalb nun ausgerechnet 7,3-fach bleibt des Künstlers Geheimnis. Und hat ganz vermutlich mit den Eigenheiten des Kunstmarktes zu tun. Wer sich für das Wachsmodell so stark interessiert, dass er sich zum Kauf entschließen kann, erhält damit eine in Bronze gegossene Version. Für Gartenskulpturen gibt es mittlerweile wohl einen gesunden Bedarf, seit unter den Sammlern der Trend zum Landsitz geht.

Zum Nachtessen dann die Forellen aus dem Backofen. Dazu Kirschen und Gurken aus dem Weckglas. Ein guter Jahrgang, frühe Achtzigerjahre. Nachspeise: Schokolinsen in rosa und weiß.

13.1.

Um sechs vom iPad geweckt worden. Hielt das aber für einen Fehler, es war noch krabbendunkel. Weitergeschlafen und später dann festgestellt, dass Erik gestern wohl die Fensterläden geschlossen hatte. Der Garten draußen, unabgeerntete Äpfel wie Christbaumkugeln im Gegenlicht, Schneeschaufelgeräusche von hinter der Mauer zum Nachbargrundstück. Ich greife zum Sprachrohr der Verständigung, einem alten Schlauch, der in die Wand neben meinem Kopfende führt und das untere Stockwerk mit dem Badezimmer oben verbindet, aus dem mir Eriks Geräusche übertragen werden, der dort sein kaltes Bad am Morgen nimmt.

»Mohler«, röhre ich hinein, »tun sie mir doch bitte den Gefallen, und bringen Sie mir einen Mokka. Und suchen Sie mir dazu auch die Karten raus. Von Paris und seiner näheren Umgebung«.

Als es dunkel geworden war, saßen wir längst in dem Baustellenfahrzeug. Am Steuer Heiko Holzberger, der uns nach einstündiger Fahrt quer durch die Stadt noch das angeblich älteste Gasthaus Berlins zeigen wollte. Das niedrige Fachwerkhaus steht am Rande des Tegeler Waldes. Wir aßen dort Linsen und Spätzle, während über uns andauernd Menschen in schweren Schuhen durch die Räume schlurften. Offenbar wurde das erste Geschoss dort mit Fremdenzimmern ausgebaut.

Die Fahrt ging weiter durch leere Natur. Verlässlich die einschläfernde Wirkung des Mittelstrichs in der Dunkelheit. An den Seiten des Blickfeldes wurde es heller und heller: wir fuhren in den verschneiten Wald hinein.

Erwacht dann mit der schlechten Laune des Kindes, wenn die Türen des Kokons aufgerissen werden, weil wir jetzt angeblich da waren. Die kalte Luft überall, und ich hätte am liebsten nur weitergeschlafen.

Leider auch kein intelligent house, das schon per Fernsteuerung eingeheizt wurde. Wir saßen zu dritt um den Tisch in der Stube, die nackten Füße in drei Bottichen mit aufgekochter Schneeschmelze. Der aus Weichkaramellbrocken gemauerte Ofen kam allmählich in Fahrt.
Es gibt dort in der Küche eine Klappe im Boden, darunter liegt ein tiefer Raum, dessen Wände dicht an dicht mit Weckgläsern verstellt sind, aus denen man in Berlin mittlerweile das Bircher Müsli und Salate mit Quinoa oder Couscous serviert bekommt, abends auch Drinks. Hier wurden eingeweckt Birnen in kleinen Stücken und halbierte Zwetschgen. Sieht aus wie in Frank Leders Atelier. Holzberger mischt kleine Schlucke aus einer Flasche Klarem und einem Glas Birnenkompott zu einer wohlschmeckenden Substanz. Auf dem Etikett der Flasche steht »Prima Sprit«. Verkaufspreis 17 Ostmark 60 für den halben Liter. VEB Bärensiegel, Betriebsteil Neuruppin. Das Zeug hat 95%. War also für die damaligen Verhältnisse nicht billig, aber preiswert. Es gibt unter der Küchenklappe auch noch Flaschenweise Pfirsichwein, der, wenn man die ersten zwei Schlucke überwunden hat, gar nicht so übel schmeckt. Nicht gerade nach Sommer, auch nicht nach Pfirsich, aber auch nicht nach Fisch. Das Etikett ist mir grünem Filzstift beschriftet. Abfüllung aus der Ernte 2004. die Birnenkonserve ist von 1996. Ein gutes Jahr.
Wir begutachten die Zinnsoldaten, unbemalt sehen die ja zauberhaft aus. Filigran und regelrecht kostbar. Erik hat hunderte dabei, die mit in die Bleischmelze müssen. Das Blei stammt vom örtlichen Fischer, so etwas gibt es hier noch. So etwas gibt es am Wannsee nicht mehr (Fischer).

Der Trunk wirkt stärkend. Wärmen tut er auch. Da wir uns hier zur Klausur eingefunden hatten, trage ich programmgemäß aus dem first draft meines treatments vor. Der erste Spot unserer Imagekampagne für Thüringen zeigte demnach eine Halbtotale eines türkischen Imbisslokals mit hellblauen Wänden. Die Dönerrübe ist rechts im Bild, links steht der Imbissbetreiber mit schwarzem Schnäuzer im weißen Kittel mit dem langen Dönerabschneidemesser in der Hand. Hinter ihm hängt in goldenem Rahmen ein Portrait Björn Höckes, daneben noch eines von Erdogan. In gelber Futura wird das Wort Thüringen eingeblendet. Der Imbissbetreiber spricht den Umlaut im Landesnamen genießerisch aus. Die Kamera fährt in einer waagerecht gleitenden Bewegung weiter und rahmt einen vor der hellblauen Wand sitzenden Inder ein, der einen safranfarbenen Turban trägt. Er hat graumelierte Augenbrauen und spricht ein indisches Hochenglisch, das in gelber Futura untertitelt wird: »I came to the country in 1961 to work as a mason. We were building the wall. The Chinese had a wall already but this one was same but different. Our work was difficult sometimes but somehow we finished. Then, in 1989 the wall was demolished completely. But somehow I already decided to stay. Because I like it here«.

Dann die Linienzeichnung des Landeswappens und das Wort Thüringen noch einmal in Futura und beides in gelb.
Dann noch der Spot mit dem Klossmuseum, eventuell auch noch einer zur Schokoladenmanufaktur Goldhelm.

Würde in den kommenden Tagen noch ausgearbeitet werden müssen, bis wir das vor Boris Lochthofen präsentieren konnten.

Holzberger meinte, dass nun, da es endlich bullerwarm geworden war, auf wundersame Weise klar würde, was eine Stube ursprünglich bedeutet hatte. Also im ganzen kalten Haus der einzige Ort der Zuflucht. Danach zu Bett.

12.1.

In ihrer Meditation der Gemeinsamkeit beschreiben Ingrid und Jörg Splett den Blick des Kindes als eine Schale: Aufgrund seiner geringeren Körpergröße schaut es auf zu seinen Eltern, deren liebende Blicke diese Schale füllen. Wer kein gemeinsames Kind hat, zudem noch getrennt vom Liebespartner leben muss, erlebt das Schalenphänomen dann doch mit einem ersehnten Telefonat, wenn die vermisste Stimme lindernd wirkt und sich für beide, nach der Beendigung des Telefongespräches, die gemeinsame Schale wieder als mit dem Guten gefüllt fühlen lässt. Die Oberfläche noch zittrig, zeigt es dennoch schon ein klares Bild: Wir beide sind eins. Oder wie Fran Lebowitz im August 1976 in I Cover The Waterfront schreibt »Food gives real meaning to dining room furniture«.

Und wie durch ein Wunder, oder als ob dies Wundersame am Schalenphänomen noch einer Bebilderung durch das Naturgeschehen bedurft hätte, fing es kurz darauf mega an zu schneien. Und wenn ich mega schreibe, dann meine ich es auch so. So viele Flocken, Minimum. Nach einer halben Stunde trieben sie in waagerechter Strömung an den großen Fenstern vorbei. Am Nachmittag hatte sich der Sturm dann gelegt und die Flocken säuselten abwärts oder wie es bei Schnee heißt: hernieder. Selbst auf den nackten Ästen des Baumes lagerte sich eine zentimeterhohe Schicht ab. Das traurige Bild eines auf die Gleise geworfenen Adventskalenders der Sexshopmarke Orion, sämtliche Türchen im Unterleib der daraufgedruckten nackten Frau klaffend, die Schokoladenstückchen fehlten, darunter der Schriftzug »Süße Weihnachten«, das ich am Morgen an der Station versehentlich angeguckt hatte, war damit hoffentlich verhüllt. Oder wie Tomas Maier mir das vor vielen, vielen Jahren als Essenz seines Relaunches von Bottega Veneta diktiert hatte: »I had to pull the black drape upon«. Bloß halt in Weiß.

Es kommt nicht oft vor, dass man das Glück hat, bei der Erfindung eines neuen Frühstücks dabei zu sein. Mir war dies bislang noch nicht gelungen, bis dann gestern um kurz nach 9 Uhr Markus aus dem sogenannten Ärmel eins schüttelte, für Tammo und mich, die wir dort in seinem Café am Tresen standen und unsere Zukunftsängste so lange voreinander laut aussprachen, bis sie uns gar nicht mehr so angstfördernd vorkamen. So ähnlich wie in dem Gedicht von Samuel Beckett in den Flötentönen, also wie es in En face/Le pire als Lebensempfehlung ausgesprochen wird. Inzwischen hatte Markus Scheiben von Weißbrot geröstet und mit Olivenöl imprägniert. Darauf Sardellen und eine große Menge Petersilienblätter und in einer symbolischen Vorwegnahme des nachmittäglichen Wetterumschwunges wie mit Schneeflocken bestreut, aber die hier waren aus Botarga. Dazu passten zwei Gläser Prosecco. Markus Schädel: mit einem Ärmel als Füllhorn. Sein großes Herz. Dass es später schneien würde, war da nicht nur noch nicht vorstellbar, wir hatten überhaupt nicht an diese Möglichkeit gedacht. Die Möglichkeit späteren Schneiens, Roman.

Wir kennen unsere Zukunft nicht. Auf Anhieb ist das ab und an ein schrecklicher Gedanke. Auf Dauer wirkt er angstlindernd. Unklar blieb, wie man das neu erfundene Frühstück betiteln sollte. Denn auch das Frühstück brauchte einen Namen. Tammo war der Ansicht, das Datum seiner Erfindung müsste genügen: Elftererster. Aber ob das ein guter Name für ein Frühstück war? Und war das überhaupt wichtig? Würde es sich weisen? Es würde sich weisen. Soviel war gewiss.

In ihren Verpackungen stoßen die Menschen aneinander wie Spielfiguren. Und in den Gassen wie in der Sophienstraße fällt es gar nicht groß auf, dass auf dem Bürgersteig dort einer das Kind auf dem Schlitten zieht. So dörflich wirken die niedrigen Häuser. Das Umherschweben der Flocken arbeitet ihrem dörflichen Erscheinungsbild entgegen. Rings um den Friedhof. Inmitten Berlins.

11.1.

Ob es das gibt, dass man nach einem Menschen Heimweh hat, dachte ich. Da war es schon wieder dunkel. Auf dem Alexanderplatz lag der Schneematsch kniehoch und ganz hinten, also bei sommerlichen Temperaturen nicht allzu weit entfernt, sah ich die Straßenbahn, die ich noch kriegen wollte, und ihr gelbes Blech erschien in Anbetracht der Matschwüste wie frisch lackiert. Warm und gemütlich das Licht in ihrem Inneren. Viele Menschen. Trauriger Pinguin.

10.1.

Langsam, wirklich Schritt für Schritt bewegte ich mich am Vormittag auf mein Ziel zu. Wie ein Pinguin. Zum Glück hatte ich nicht auch noch einen Smoking an. So ähnlich geht mein Lieblingswitz. Der einzige, den ich gut auswendig kenne. Er stammt aus der Fernsehserie Twin Peaks. Dale Cooper, ein Detektiv, erzählt ihn in einer der letzten Folgen der zweiten Staffel, die ansonsten sehr schlecht ist. Es ist der einzige Pinguinwitz, den ich kenne. In der Sonntagszeitung hatte ich gelesen, dass die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie eine an Pinguinen orientierte Fortbewegungsmethode empfiehlt für den Fall, dass Bürgersteige und Wege, wetterbedingt, eine Gefahr bedeuten. Dieser Fall war gestern Vormittag plötzlich eingetreten, als ich die Choriner Straße bergan ging. In dieser Straße wird traditionell nicht gestreut oder geschaufelt. Es handelt sich schließlich um eine Museumsstraße. Zumindest auf ihrem unteren, dem vergleichsweise steil bergan (oder bergab, je nachdem) führenden Teil. Zwar wurde just dort, an der Einmündung zur unaussprechlichen Querstraße, die vom für Radfahrer tödlichen Weinbergsweg herüberführt, das letzte noch nicht fassadensanierte Haus kurz vor Wintereinbruch noch fassadenrenoviert, auch wurde auf eben diesem unteren Abschnitt vor ein paar Jahren ein von den Alteingesessenen als hinterrücks empfundenes Apartmentgebäude mit Tiefgarage und verglastem Deli im Erdgeschoss errichtet (»hochgezogen«), aber hier und da lebt sie dort halt noch, die ehemalige DDR. Kulissenhaft. Und dies als Kulisse der ehemaligen DDR. Also im Stile des Berlins in den wenigen Jahren nach dem sogenannten Fall der Mauer, als das Alltagsleben in diesem Viertel, Prenzlauer Berg, noch so aussah. Zumindest so ähnlich. Nur mit schlechteren Kaffeemaschinen. Und mit anderen Kunden und Gästen. Die Betreiber hingegen sind noch echt. Auch von ihrer Feindseligkeit her. Wer beispielsweise in der Gaststätte Schwarze Pumpe mit EC-Karte zahlen will, sollte sich auf einiges gefasst machen. Auch das Berganschreiten mit Methode Pinguin ist dort nicht gern gesehen. Das heißt, man sieht’s halt schon ganz gern. Speit dann aber auch demonstrativ aus auf den ungeschaufelten Schnee. Gepriemt wird dort ja selbstverständlich auch. Die Ware stammt mittlerweile allerdings aus Dänemark, weil im Südharz, dem ehemaligen Zentrum der deutschen Kautabakproduktion, wurden so lange und überall immer mehr Apartmentgebäude mit Tiefgarage und verglastem Deli im Erdgeschoss hochgezogen, bis die deutsche Kautabakproduktion erstickt ward. Mir rollte ein Apfel entgegen. Der war dem Betreiber des Spätkaufs neben dem Souterrain aus einer Holzkiste geplumpst, die er, gefüllt mit noch mehr von diesen Äpfeln, auf den dick verschneiten Stufen seines Ladens, der übrigens Späti heißt, abgesetzt hatte. Ein den Spätkauf verlassender Gast ließ die Ladentüre offenstehen. Der Spätibetrieber knallte sie mit der Hacke zu und grinste den ihm entgegenwatschelnden Pinguin herausfordernd an. Ich sagte nichts.

Damit lag der steile Teil der Straße auch bereits hinter mir. Der auf einer gedachten Ebene voranführende Abschnitt bis zur Einmündung in die Schönhauser Allee ist bis auf den Spielwarenladen und die Bäckerei Zässin nur noch wenig museal anzuschauen. Hier gab es aber bis vor kurzem noch die letzte Baulücke des Viertels, das ja ansonsten aufgrund des sogenannten Milieuschutzes den Neubaulustigen keine Chancen mehr lässt. Es sei denn, man kennt sich aus, wie beispielsweise um die Ecke von der Baulücke, wo sich einst der für die in seinem Inneren herrschenden Zustände völlig zu Recht gefürchtete Supermarkt der Berliner Traditionsmarke Kaiser’s befunden hatte. Im Grunde war’s ein nur dünn maskierter Bolle, in dem bekanntlich einst in den Achtzigerjahren die traditionellen Maikrawalle erfunden worden waren. Damals noch mit Plünderungen. Also so ähnlich, teilweise aber noch härter, ging es in dem Kaiser’s gern auch schon am Vormittag zur Sache. Aber mittlerweile ist dort nur noch ein tiefes Loch, wo früher das traditionell ufohafte (aber DDR-Ufodesign) Zweckgebäude jahrzehntelang alles ausgehalten hatte. Als mir der Architekt Wolfram Popp, der sich mit solchen Dingen hervorragend auskennt, im Sommer zuvor erzählte, dass die Pachtverträge beinahe aller Kaiser’s-Filialen zum damaligen Jahresende ausliefen und ich mir doch einmal vor dem geistigen Auge, zur Not dürfte ich mein Fahrrad zur Hilfe nehmen, vergegenwärtigen sollte, auf welchen sogenannten Filetstückgrundstücken diese Supermärkte einst hochgezogen worden waren, da bedauerte ich zutiefst, nicht Architekt geworden zu sein. Oder noch besser Bauunternehmer wie Dieter Bohlen. Stattdessen halt leider Komponist. Kopfschüttelnd ging ich damals nach Hause. Ich wachte in jener Nacht sogar einmal auf, lachend: Nein, dieser Wolfram! Kurz darauf schloss erst der Kaiser’s. Und dann passierte das, wovor in diesem Stadtviertel sich alle fürchten, zu Recht, was aber keiner, auch nicht mit Nichtschaufeln, noch verhindern kann: Die Architekten der Bürogemeinschaft Graft stellten an der künftigen Baugrube, die Leiche war, wie es heißt, noch warm, ihr Schild auf. Zu deren Entwurfsstil gibt es nichts zu sagen. Interessant ist allerdings schon, dass Architektur zu einem gesellschaftsfähigen Thema geworden ist. Man unterhält sich über Gebäude. Auch mal über Grundstücke. Ein Architekt wie Thomas Kröger beispielsweise ist auf privaten Feierlichkeiten ein gern gesehener Gast. Jahrelang fiel er vor allem durch sein Tragen einer rosa Pudelmütze aus flauschiger Wolle auf. Dann mehrten sich die Erfolgsgeschichten, die unter den Freunden der Architektur in Berlin von den Häusern erzählen. Als es hieß, die letzte Baulücke auf der Choriner Straße würde von Thomas Kröger geschlossen, ging ein Raunen durch die Wohnzimmer und Galerien. Man war gespannt. Was würde er damit machen, wie es bei Edward Bulwer-Lytton hieß. Nicht weniger als die komplette Transformation, so viel sei verraten, denn zuvor befand sich auf diesem Grundstück ein Gebrauchtwagenhändler. Das Grundstück ist also groß, nicht breit wie’n Hafen, dafür aber lang. Die ursprüngliche Bebauung war kaisershaft. Der Gebrauchtwagenhändler hauste in einem blauen Container. Der Rest des verschneiten Grundes ging für die Gebrauchtwagen drauf. Der berühmte erste Spatenstich ist noch nicht erfolgt. Auch steht dort, an der gänzlich von sämtlichen Überresten des Gebrauchtwagenhandels geräumten Baulücke, noch immer kein Schild. Gestern standen davor zwei Zugezogene mit Mützen auf und unterhielten sich leis‘. Ihr Blick ging auf die weiße Weite hinaus, die sauber aufgeräumte Leere dort, den Schnee.

Irgendwo anders in der Stadt atmete Thomas Kröger tief ein.

9.1.

Den Tag über am Fenster gesessen, das Licht von draußen so halb im Rücken. So müssen die sich im Mittelalter gefühlt haben, wenn es dann endlich mal geschneit hatte im Winter: Ah, mehr Licht, Kerzen sparen. Alles drin sieht anders aus, anders auch als im Sommer, im umseitig reflektierten Schneelicht. Erinnerungen an Skiferien, auch wenn die ewig her sind (und da auch ganz und gar nicht immer die Sonne geschienen haben wird).

Am Nachmittag dann den Stapel alter Zeitungen, circa sechs Wochen in täglichen Ausgaben werden es gewesen sein, auf einen Stuhl neben den Tisch gelegt und wirklich versucht, nachzuvollziehen, was in jeder einzelnen Ausgabe ausschneidenswert beziehungsweise aufbewahrenswert oder verwertbar mir erschienen war. Es bliebt verblüffend wenig übrig. Ganz ganz selten finde ich eine tatsächliche Anstreichung auf den Seiten. Manchmal bin ich beim Lesen zu faul, oft glaube ich, das war jetzt so sensationell gut (oder bizarr), dass mir das auch noch Wochen später ins Auge stechen wird (wie ich ja, leider, auch so gut wie nie Knicke mache in Bücherseiten, weil ich wider besseren Wissens zu wissen glaube, ich besäße ein sogenanntes fotografisches Gedächtnis, mache dann, cargo-culthaft snap mit dem Blick auf der Seitenzahl der mir wichtig erscheinenden Stelle und glaube dann wirklich, ich hätte die mitsamt des angeblichen Mentalschnappschusses wie zusammengeheftet in mein Gedächtnis ablegen lassen; obwohl ich genau weiß, dass nicht nur meines, dass kein Gehirn so organisiert ist! Woraufhin es dann in dem Moment, da ich das Zitat gerne zur Verfügung hätte – denn dass ich es irgendwo habe, dass ich es kenne, das behalte ich schon – eine unsägliche Sucherei losgeht; zuerst in meinem Gehirn, dann, wenn ich es endlich selbst vor mir selbst zugeben kann, dass ich es nicht finde, in dem fraglichen Buch. Dort dann, wieder liege ich dabei im Wettstreit mit mir selbst, kann es gut sein – das heißt, es war schon oft so – dass ich lieber dreimal das Kapitel V durchblättere (die mental abfotografierte Seitenzahl ist freilich verschlampt, beziehungsweise die Aufnahme ist damals nichts geworden und wurde, was ich mir verheimlichen konnte, stillschweigend weggeschmissen), als auf die Vernunft zu hören, die übrigens tatsächlich mit einer Stimme spricht: »Da steht es nicht. Das war woanders in dem Buch. Wo ganz anders. Noch nicht einmal in der Nähe. Vielleicht ganz hinten. Oder ganz vorn.« Diese Stimme, ganz klar stimmenhaft, spricht allerdings in einer nicht menschlichen Sprache. Es ist nicht so, dass ich tatsächlich deutsche Worte vernehme, die mich innehalten lassen und deren Diktat ich aufnehmen soll (wie Martin Walser). Dennoch äußert sich die Vernunft deutlich genug, dass ich sie ignorieren will. Wenn ich aber dann die gesuchte Stelle ganz wonders finde, schäme ich mich, beziehungsweise bin ich wütend. Vor mir selbst, beziehungsweise auf mich selbst in jedem Fall.

Gestern etwas fassungslos, wie wenig tatsächlich geblieben war von meiner Faszination in den letzten Wochen. Auf einigen der Titelseiten waren die Bilder, die sich Daniel an jedem Morgen hatte von mir erklären lassen, weil er die Unterzeilen nicht hatte lesen können. Der war nun längst zurück in seinem kleinen Haus in Los Angeles. Ich schnitt weder die verschleierte Ruth Leuwerick aus, noch die Indiander vor dem blauen Himmel. Daniel hatte ja besonders gut der chinesische Drache gefallen. Ich mag Drachen nicht. Überlebt hatte die Faszination für das Straßenbild in Mauve und Flieder aus, ich glaube, Valparaiso. Ich schneide die Erklärzeilen grundsätzlich weg (früher habe ich noch mit Bleistift den Zeitungsnamen und das Datum, phasenweise sogar das Ressort am Bildrand vermerkt), so ist es jetzt auch bloß noch eine märchenhafte Lichtstimmung, alles wirkt friedlich und wie fertig eingeleuchtet für einen langersehnten Filmkuss, dabei wurde die Aufnahme angeblich während (oder kurz nach) einer Naturkatastrophe gemacht. Die Seite über die Luisenbündlerinnen, überhaupt alle Seiten, über denen »Die Geisteswissenschaften« steht: Wie lange es die wohl noch geben wird?

Was soll I Cover The Waterfront überhaupt bedeuten? Ich stoße jetzt schon, wie mein fotografisches Gedächtnis beweisen kann, mein ganzes Leben lang immer mal wieder auf diesen stehenden Ausdruck. Erst gestern, als der Sohn eines Jazzmusikers auf Twitter Meldung machte, sein Vater sei im Kreis der Familie entschlafen »listening to Billie Holliday«. Danke fürs Mitteilen. Mir fiel da natürlich I Cover The Waterfront ein – Breit wie’n Hafen? Und wie ließe sich das ins Deutsche übertragen für eine Kolumne, geschrieben in, sagen wir: Berlin? Lang wie die Mauer? In den Armen der Mauer? Allumfassend wie die Mauer? Seltsam, dass mir zu Berlin noch immer nichts anderes einfällt als die Mauer. Wo es die Mauer doch schon längst nicht mehr gab, als ich damals hierher gezogen bin. Nina Simone hat I Cover The Waterfront nie aufgenommen. Verblüffenderweise! Wie ich dann feststellen musste, obwohl ich mir freilich todsicher war, dass. Es gibt schon einen guten Grund, weshalb ich beim russisch Roulette nie mitgemacht habe und Spielbanken generell meide. Das Stück von Nina Simone ist eine Coverversion von Alone Again, Naturally. Darin singt sie über den Tod ihres Vaters. Möglicherweise also deswegen. Falsche Stichwortsuche. Unklar abgelegt.

Und schwupps war’s wieder dunkel. In der Lindenstraße will ein als Frau gekleideter Mann im Flur mit seiner Freundin schlafen. Sie ist schon halb ausgezogen, er küsst gerade, vor ihr kniend ihr Nabeltattoo, wehrt sich aber dagegen, dass sie ihm die blonde Perücke abzieht. Daraufhin kommt es zum Streit, der Zuschauer erfährt, dass er sich schon seit längerem als Frau kleidet, von ihr zwar nicht, aber von den Nachbarn und von seinen Kollegen im Start-up als Frau angesprochen werden will. Und auch so behandelt, wie auch immer das sein mag. Seine Frau jedenfalls, sie sieht ganz konventionell aus, insbesondere aufgrund ihres Nabeltattoos, erklärt ihm, dass sie nur mit ihm schlafen kann, wenn er im Flur (oder im Bett) die blonde Langhaarperücke absetzt. Das ist jetzt also in demselben Sender (Das Erste, früher ARD) die genaue Umkehrung der Kir-Royal-Folge Adieu Claire, in der Mona, gespielt von Senta Berger, dem sogenannten marines look verfällt, und sich die tizianfarbenen Haare raspelkurz schneiden lässt. Woraufhin ihr Mann, der Baby heißt, gespielt von Franz Xaver Kroetz, seine Frau, die Mona, am Abend bitten muss, sich eine blonde Langhaarperücke aufzusetzen, damit er mit ihr schlafen kann.

Tjaja. Wie lange mag das jetzt her sein, wieviel Zeit ist vergangen – ich war da ja noch beinahe ein Kind.

8.1.

Seit dem letzten Update weiß das Betriebssystem des iPads präzise, was mit der Zeitangabe »Nachmittag« gemeint ist. Schreibt mir jemand, was manchmal vorkommt, ob man sich am Nachmittag auf einen Kaffee treffen wolle, schlägt das Programm mittlerweile vor, ein Ereignis am betreffenden Tag um 15 Uhr zu erstellen. Vielleicht auch nur bei mir, vielleicht beginnt auch nur bei mir der Nachmittag um 15 Uhr, weil das Programm alle meine früheren in die Cloud geladenen Kalender auswertet, und ich Verabredungsanfragen, die gemütlich auf Nachmittag hinausliefen, tendenziell mit 15 Uhr bestätigt habe. Und fortan verstärkt noch tun werde, obwohl ich vom Gefühl und von meiner Erziehung her den Nachmittag, wenn schon, um 16 Uhr ansiedele auf dem inneren Ziffernblatt. Gut möglich, dass ich mich in naher Zukunft präzise auf 15 Uhr verabredet fühlen werde, während ich noch immer unbestimmt Nachmittag sage. Dass sich eine scheinbar vage Zeitangabe* mit einem schnöden Zahlenwert füllt.

Es war also kurz nach Nachmittag gestern, da fing es an zu schneien. Und dieses Mal, dem ersten in diesem Jahr, schneite es so, wie es musste: leicht, wie beinahe schwerelos, wiegten sich die Flocken, die groß waren, zu Boden, wo andere bereits lagen, und blieben dort liegen. Ich war kurz vor Nachmittag noch im Städtchen gewesen, zu Fuß, da komme ich sozusagen automatisch durch den kleinen Park am Ufer des Sees an ein paar flachen Stufen aus Stein vorbei, die bis unter die Wasseroberfläche führen. Ich weiß nicht, wozu diese Stufen einst gedient haben mögen. Es gibt diese gartenarchitektonische Laune ja nicht nur am Wannsee, ich war schon an vielen Seen, wo eine Stelle am Ufer treppenhaft abwärts bis an oder sogar unter die Wasseroberfläche führt. Die Vögel sammeln sich dort, sogar die Krähen und Tauben, weil ab und an eine Greisin kommt oder ein Greis, der sie mit Toastbrot füttert. Auf der dem anlappenden Wasser nächstgelegenen, einer mit dem eiskalten Wasser überfluteten Stufe standen dort gestern die Enten. Sie saßen nicht. Offenbar sind die Schwimmfüße noch unempfindlicher gegen den Frost als ihr zusätzlich mit Daunen gepolstertes Unterbauchkleid. Ich habe an der Canal Street mal Entenfüße abgenagt, kann mich aber nicht erinnern, dass der Genuss irgendwie bemerkenswert gewesen war. Neulich auf der Kaiserstraße gab es im Schaufenster des Hot-Pot-Restaurants auch ein kleines Glasgefäß, ähnlich einem Aquarium, voll mit Entenfüßen zum In-die-Suppe-bestellen und dann wieder zum Herausholen und Abnagen. (Kulinarische Archäologie! Neulich las ich bei Ernst Jünger in den Tagebüchern aus den Siebzigerjahren: Da ist er zum Insektenfangen in Brasilien und seiner Frau und ihm wird kurz vor Nachmittag eine Mango serviert. Die damals anscheinend noch komplett unbekannt war in Europa. Noch nicht einmal Ernst Jünger, der Vielgereiste kennt die Frucht; lobt aber den Geschmack der »Mangopflaume«, wie er sie in seinem Eintrag nennt.)

An der Kirche der Baptisten hängt seit dem Herbst schon ein Plakat, das die Ausgabe einer warmen Mahlzeit verkündet: »Jeden Dienstag, von 12 bis 15 Uhr«. Ich musste gleich wieder an den Obdachlosen vor dem Peter-Behrens-Haus denken und an den am Savignyplatz und an den vor dem Bahnhof hier und an die vielen am Bahnhof Zoo. Noch schlimmer als kalt und kein Geld, keine Wohnung ist die Einsamkeit vor aller Augen. Klar, ich habe auch mal Rayuela gelesen und Die Liebenden von Pont Neuf gesehen, aber dass ein Mensch, für den sich die Frage »zu mir« praktisch nicht stellt und der, praktisch gesagt: sich nur selten waschen oder auch nur umziehen kann; der maximal ungesund und unhygienisch lebt, einen anderen Menschen findet, oder von dem gefunden wird: das wäre dann ein Wunder.

Also keine Liebe. Und auch kein Geld, um jemanden zu bezahlen, der andauernd an einen denkt, wie das sonst ganz normal ist, natürlich und selbstverständlich, wenn man geliebt wird. Dem, der ohne Obdach leben muss, ist nichts inbegriffen**. Er schläft ziellos und unbegleitet, er wacht alleine auf. Am See gibt es eine Stufe, die ist komplett von einer Schicht Eis überzogen. Da die untere am Wasser von den Enten besetzt wird, schlidderten auf der Eisfläche die Tauben hin und her. Auf der nächsthöheren wachen die Krähen, die doppelt so groß sind wie die Tauben, allein ihr Schnabel ist gigantisch im Vergleich zum zierlichen Pickinstrument einer Taube. Blässhühner wechseln hüpfend zwischen Entenetage und Krähenpodest. Sie haben die größten Füße von allen hier. Die überfrorene Stufe überspringen sie mit Bedacht.

* Was die Kulturgeschichte zum Thema Nachmittag hergibt, siehe den betreffenden Eintrag in der Wikipedia, der bereits ein paar Anreize bereithält: Stephane Mallarmé, Claude Debussy, Billy Wilder und Éric Rohmer und in Folge derer vor allem Marianne Faithfull (<3), sowie, in Japan, der Kosmos des 夕方.

** In einer der Broschüren aus der hervorragenden Edition des Hauses der Berliner Festspiele gab es die Protokolle eines künstlerischen Arbeit, den Namen des Künstlers habe ich leider vergessen: Er hatte eine Telefonzelle aufgestellt, von der aus jeder umsonst telefonieren konnte, wenn er sich damit einverstanden erklärt hatte, dass der Künstler die Gespräche anonymisiert protokollieren würde. Das Angebot wurde auch von Obdachlosen genutzt, die häufig kein Mobiltelefon besitzen. Ich kann mich beinahe wörtlich an ein Gespräch erinnern, da ruft einer nach Jahren seine Mutter an. Es ist fürchterlich.

7.1.

Wenn es dazu nicht so kalt werden müsste: Von den Lichtstimmungen her ist die Winterluft die zweitschönste nach dem Sommerdunst; beide hierbei in der Stunde vor dem Sonnenuntergang, die gestern kein bisschen die Blaue war, sondern klar und hell bis zuletzt. Dass dieser ganze Zauber allein durch die sich langsamer bewegenden Moleküle hervorgerufen wird, ist schwer einzusehen. Selbst der siffigste Feldwegrand macht nun einen ordentlichen Eindruck. Gefroren schaut offenbar alles manierlich aus, selbst Schlamm. Selber stillstehen kann ich nicht, muss mich andauernd bewegen. Inklusive hin- und hergehen, auf der Stelle auf und ab hüpfen et cetera. Geniale Erfindung: Handschuhe. Ich tippe, dass die nach denen für die Füße erfunden worden sind. Sozusagen von den Fußschuhen abgeschaut. Gar nicht einmal ihres Namens wegen. Auf Englisch heißen sie ja unverdächtig eigenständig. Aber andersherum ist die Erfindungsübernahme halt auch allein von der Körperhaltung her doch schwer vorstellbar. Beziehungsweise: Was bedeutete das für das Menschenbild?

Am Savignyplatz kam die Bahn bis zum Westkreuz vier Minuten vor einer, die mich direkt bis nach Hause brächte. Nahm ich erst die bis zum Westkreuz, stieg dort wieder aus und wartete noch immer vier Minuten auf die besagte, wie ich auch am Savignyplatz hätte auf sie warten müssen. Eine Problemverlagerung, wie sie ganz typisch für mich ist. Allerdings war ich kurz, immerhin zwei Haltestellen lang, in einem warmen Zug mitgefahren. Als ich dann in meine endgültig zielführende Bahn einsteigen konnte, fiel es mir zunächst nicht auf; allerdings ging mir das Blättern ungewohnt schwerfällig von der Hand. Dabei hatte ich kurz nur nachschauen wollen, warum Fran Lebowitz womöglich bei der sechsten Folge ihrer Kolumne I Cover The Waterfront das The im Logo des Kolumnenkopfes, bei dem die Buchstaben aus lauter Schattenrissen von den Hochhäusern einer Skyline gezeichnet war, in denen hier und da noch Licht an war (megahübsche Idee!!!), gestrichen und handschriftlich (mit Filzstift, einem sog. Sharpie vermutlich) daraus ein La gemacht hatte, sodass die sechste Kolumne in ihrer noch jungen Serie für Interview I Cover La Waterfront hieß (und in der achten war es dann ein El, also I Cover El Waterfront).

Zuerst fiel mir ein, dass ich meine Fäustlinge anbehalten hatte (ungünstig fürs Blättern), dann, warum (ich die anbehalten hatte): offenbar instinktiv, denn in dem Waggon war es tierisch kalt. Und dementsprechend still. Alle hielten die Luft, so gut es ging, an, weil selbst die ja wärmt von innen. Niemand sprach. Keiner wollte sich die Kälte in Form des Atemhauches vor dem eigenen Gesicht vergegenwärtigen, sonst bräche die kollektive Kältepanik aus. Erst beim Aussteigen sah ich die blauen Zettel in Din A4, die auf den Glasscheiben der automatischen Türen pappten: »Wagen nicht geheizt«. In schwarz auf blau, ich muss doch sehr bitten! Warnhinweise zur Ergreifung der Täter werden doch ansonsten auch nicht in diesen dezenten Farben gehängt. Die Strafgebühren fürs Schwarzfahren von der Farbstellung der Aufkleber her geradezu posaunt. Aber nun gut. Immerhin waren die Hinweiszettel bewusst schräg ins lange Viereck der Fenster geklebt worden, um Aufsehen erregen zu können. Wie jede Putzfrau ja auch immer sämtliche Gegenstände und Möbel diagonal in den Raum dreht, sie hinstellenderweise, ganz gleich wie sie vorher aufgestellt waren, bloß um zu beweisen, dass sie dagewesen ist.

Ein Gutes hatte der Kühltransport: als ich ausgestiegen war, fror ich einfach weiter, anstelle von neuem und schon wieder. Einmal war ich in Sibirien gewesen, weil ich Frank Schirrmacher überzeugt hatte, dass es eine gute Geschichte werden könnte, wenn ich mich zwei Wochen lang der magnetischen Strahlung eines der letzten Magneterzgebirge der Welt aussetzen würde. Und eben dort, in Magnitogorsk war es im November freilich auch tierisch kalt. Also noch tierischer, aber man merkte das nicht. Kalt ist irgendwann, also nach unten hin auf einer Skala gemessen, bloß noch kalt. Es gibt da keinen fühlbaren Unterschied mehr zwischen Minus zehn und Minus dreißig. Jedenfalls konnte ich keinen feststellen. Vielleicht war ich aber auch abgestumpft. Na ja, jedenfalls gab es dort Menschen, also Sibiriaken, Marktfrauen, die standen bei Minus dreißig Grad ohne Schuhe im Schnee herum, um drei Rote Bete zu verkaufen, die sie auf einer Radkappe angeordnet hatten. Ganz barfuß waren sie nicht, ihre Füße, nackt, steckten in Schläuchen aus Filz, die aber vorne offen waren, sodass man, also ich in dem Fall, die nackten Zehen der Marktfrauen sehen konnte. Eventuell eine Art Hybrid aus fingerlosem Handschuh (in den Achtzigern bei Saxophonisten beliebt, heute trägt sie nur noch Karl Lagerfeld) und Sandale. Aber ich will nicht zynisch sein: die Sibiriaken von Magnitogorsk waren schlicht arm. In der Straßenbahn saß man auf einem Blecheimer als Sitz, der war nach oben hin, also zur nichtexistenten Sitzfläche offen, darunter, also darin lagen glühende Kohlen. Die Straßenbahn fuhr sehr langsam. Aber so, nur so kam man zum Stahlwerk, das am Fuße des schon beinahe abgetragenen Magnetberges lag.

Ich war jedenfalls froh, als ich wieder zuhause war.

Der See friert zu. Im kleinen Hafenbecken wächst zungenförmig das Eis bis hinüber zum Steg. Es geschieht von den Rändern her. Am Ufer fängt es also an. 

6.1.

Heilige Drei Könige. Wunderschöner Sonnenaufgang: am Horizont die klaren Farben. Der See nicht zugefroren. Er lebt noch, so to say. Die Wellen spielen (ein graues Spiel). Als ich gestern in der Dunkelheit nach einem langen Tag der Lektüre uralter Interviews nach Hause kam, da schien die Heizung schon seit Stunden ausgefallen. Hilfe war unterwegs. Ich fand es drinnen trotzdem sehr beruhigend und gemütlich – allein schon meiner Türen wegen, die ich schließen konnte, um Räume nur für mich zu erzeugen. Nach stundenlangem Aufenthalt in einem Büro, wo zu jeder Zeit jemand anderes hereinkommen kann, oder manchmal auch nur plötzlich etwas sagt, oder zu telefonieren beginnt, seine Stimme laut werden lässt, ist das, sind die privaten Räume etwas, gehe ich in ihnen raumgreifend umher, weil ich sie leider nicht umschließen kann, obwohl ichs vom Gefühl her gerne würde aus lauter Dankbarkeit, dass es sie, die lieben Räume für mich gibt.

Am Morgen war ich am Savignyplatz die Treppe auf der hinteren Seite des Bahnsteiges hinuntergegangen. Dort lag zwischen Treppenabsatz und halb eingeklapptem Stahltor eine Gestalt. Komplett eingehüllt in einen sogenannten Mumienschlafsack aus rotem Kunststoff, der wie neu aussah und noch ganz sauber. Daneben ein Buch: ein dicker Krimi, Strandlektüre mit Metallic-Cover, John Mc Irgendwas, das neben dem Kopf der Mumie auf den schmutzigen Fliesen des Fußbodens lag. Ich nahm das zur Kenntnis, weil alles am Obdachlosen kaputt, geflickt, gebraucht, zerfleddert auszusehen hat, sonst stimmt etwas nicht mit seinem Bild und es ist am Ende nicht einmal ein Obdachloser. Ich müsste mich sofort um diese Person in dem Mumienschlafsack kümmern, die hier bei minus fünf Grad einen Selbstversuch im Extremcamping am Savignyplatz durchzuziehen droht. Oder ausgesetzt wurde, von ihrem Ex-Partner, von der eigenen Familie. Also mindestens 110 anrufen. Vielleicht sogar psychiatrische Hilfe, Notaufnahme am Morgen.

So aber: Nicht einmal angetippt worden, ist die oder der Schlafende, möglicherweise auch bereits Tote, die oder der von mir, oder einem der vor mir die Station am Savignyplatz verlassenden Leute. Wir, die wir Arbeit haben und eine Wohnung mit Räumen, in denen wir machen können, was wir wollen, ohne dass uns jemand anstupst und fragt, ob wir noch leben.

Gegenüber des Zoologischen Gartens auf dem Weg zur Schleuse gibt es eine lange Mauer, auf der die Gleise geführt werden. Sie bietet Schutz vor Wind, außerdem hat man vermutlich gerne etwas Festes im Rücken, wenn man schon unter freiem Himmel wohnen muß; also ich hätte das gern. Dort wohnen schon, seit ich denken kann, Männer das ganze Jahr über. Sie schlafen und liegen und essen dort Seite an Seite. Ob immer friedlich, weiß ich nicht. Ich habe da noch nie Halt gemacht, bin oft mit dem Fahrrad vorbeigefahren auf dem Weg durch den Tiergarten. Seit einigen Jahren nimmt dort in dieser Population an den Gleisen der Anteil von Frauen zu. Und zwar beträchtlich. Überhaupt nimmt die Zahl obdachloser Frauen in Berlin zumindest, woanders in Deutschland kann ich es nicht gut beurteilen, zu.

Obdachlose Frauen.

Dann lange nichts.

An dem Haus, in dem ich zur Zeit arbeite, um mir meine Wohnung leisten zu können, klebt eine dieser Gedenktafeln von KPM, die an Berliner Persönlichkeiten erinnern. So eine, wie sie in der Hauptstraße 155 seit vergangenem Jahr an David Bowie erinnert. In der Mommsenstraße 57 erinnert sie an Günter Neumann, »ein Mann, dem Berlin viel verdankt«. Er gilt als Urheber des Liedes Der Insulaner verliert die Ruhe nicht. Na gut. Entstanden halt zu einer Zeit, an die auch der Savignyplatz erinnert: Savignyplatz/Erkennen Sie/Die Melodie? Ein ganzer Platz im Walzerglück.

Im Frühjahr letzten Jahres verschwand wie von einem Tag auf den anderen der Mann, der vor dem leerstehenden Gebäude von Peter Behrens am Kleistpark gelebt hatte. Im überdachten Eingangsbereich, hinter einem hüfthohen Schutzwall aus prall gefüllten Müllsäcken und vielen, vielen aufeinandergestapelten leeren Erdnussdosen. Damals schrieb ich, dass ich annehmen wollte, er habe sich in einer karmischen Wandlung verflüchtigt mitsamt seinen Dosen und Tüten. Kurz vor dem Einbruch des Winters, als im Park nebenan die letzten Blätter weggeblasen waren, saß er wieder da. Und täglich wuchs die Anzahl seiner Tüten. Nur das mit den Dosen fängt später im Jahr erst an, wie es scheint. Oder es handelte sich um ein jahresbezogenes Ding für 2016.

5.1.

Seltsam, dass es ausgerechnet Giuseppe Arcimboldo ist; kein Künstler sonst, dessen Werke ich derart abstoßend finde. Als ich die Zeitung holte, gestern, erschrak ich regelrecht, als ich sie über die Mitte zusammengefaltet auf den Kiosktresen legte, um sie zu bezahlen: da erst sah ich auf das Bild unter dem vertrauten Schriftzug aus Frakturbuchstaben. Ich weiß bis heute nicht, um was es in den Zeilen unter dem aus Gemüse geformten Gesicht ging, weil ich die gesamte obere Hälfte der Titelseite auslassen musste, um den Arcimboldo nicht mehr mit Blicken streifen zu müssen. Es ist tatsächlich Ekel, den ich empfinde, wenn Arcimboldo malt. Und das war, so lange schon hatte ich keinen mehr zu Gesicht bekommen, dass mir das gestern unweigerlich klar wurde: schon immer so gewesen; jedenfalls, so lange ich mich erinnern kann. Die erste Begegnung mit einem Gemüsegesicht war demnach im Kunstunterricht. Man sollte die nach herrschender Ansicht meisterlich komponierten Gemälde des Italieners mit Kasein-Tempera auf grundierten Holzplatten nachempfinden. Ich brachte leider nichts zustande, denn ich fand die Vorbilder einfach nur fürchterlich. Allein die Augen: Wenn ein so einer anguckte, mit seinem Weintraubenblick hinter den Wülsten aus pickligen Cornichons, die ihm die Lider wären. Das schleifende Geräusch seines Atmens ganz hinauf durch das engporig schwammartige Fruchtfleisch einer Aubergine. Dass es ihm ein Leben lang schon auf den Lippen brennt, weil die in seinem Fall aus Peperoncini sind. (Und wie wächsern sich das anfühlen müsste, auf solchen zu küssen; gleich nun, ob als Normalfrau, oder als eine aus Arcimboldos grünem Labor, weil die dann ja, im Zweifel unter ihrer Bluse zwei Köpfe Romanesco herzuzeigen hätte, und ihre Lippen wären dann vielleicht gerade noch die ideale Ergänzung zu den seinen, weil sie kühlend wirken könnten, auf seinen ewig brennenden Kuss – aus Minzblättern? Ist processed food wie Joghurt erlaubt?)

Beim Mittagessen mit Götz Offergeld konnte ich mich manchmal nur schwer konzentrieren, weil ich nebenher noch damit beschäftigt war, die Gedanken an Arcimboldos Gemüsegesichter abzuwehren. Besonders das eine, vorwiegend aus Tomaten und anderen roten Früchten zusammengesetzte, wo die Zähne aus Kirschen sind: Wenn der erst zubeißt, dass die Kerne splittern – Gänsehaut der unguten Art, als ob ich auf dem Stiel eines Stieleises herumkauen müsste!

Dabei saßen wir im Café Einstein Unter den Linden, das, seit Stefan Landwehr und Boris Radczun (Google ergänzt automatisch zu »Boris Radczun Nachname«) es beinahe stillschweigend übernommen haben, zum neuen Treffpunkt für mittägliche Besprechungen geworden ist. Man sitzt dort halt wie in Paris im Café de Flore. Preise dementsprechend. Essen aber mindestens genauso gut. Also ziemlich gut! Besonders die Ente. Götz trank Bier. Das, also Bier zum Mittagessen und überhaupt, das Sich-im-Einstein-Unter-den-Linden-verabreden, gehört bekanntlich zu seinem politischen Programm, denn wie er uns allen mit einer SMS am 24. Dezember mitgeteilt hatte, will er jetzt Bürgermeister werden. Hendrik Lakeberg, der Wasser trank, beurteilt die Chancen einer Kandidatur seines Verlegers als gut. Ansonsten kam von ihm nicht mehr viel, wohl weil er in Gedanken schon an dem Essay schrieb, den er uns zu Anfang des Gespräches vorgeschlagen hatte. Thema: Der weiße Mann ist am Ende. 60 Jahre nach Norman Mailers The White Negro. So ungefähr.

Zwischendurch machte ich Offergeld den Vorschlag, eine im Fahrwasser von Beef und Wolf positionierte Zeitschrift herauszubringen mit dem Titel Pils. Die Zeitschrift für den Mann, der gern in Kneipen geht. Mit so Themen wie: »Kleiner Feigling Ja oder Nein – eine Frage der Haltung«, »Futschie deluxe – aus Bio-Cola und mit Rum aus Martinique«, »Hotspot Düsseldorf: An der längsten Theke der Welt«.

Der Privatmann Offergeld fand das lustig und vielversprechend. Der Geschäftsmann eher so medium.

Danach planten wir das Frauenheft. Das es ja schon gab am Markt, und dessen Themen sich von daher tendenziell mühseliger finden ließen. Vor allem: wie nur die Charybdis des Feminismus umschiffen wieder einmal? Lakeberg zeigte auf dem Display seines Telefons die aktuelle Titelseite der Glamour aus den USA herum: die sogenannte Lena Dunham zeigte dort im Kreise von Freundinnen und Kolleginnen ihre nackten Oberschenkel vor, mit Grübchen ihrer Orangenhaut besetzt, so tief diese auch unter anderem, das man Erbsen drin verstecken konnte, ohne diese jemals wiederzufinden – schon war ich wieder in meiner Angstwelt gefangen. Mit lustigen Gesprächen hatte ich es also lediglich geschafft Arcimboldo für einige Zeit zurückzudrängen. Aber er war noch immer präsent.

Erst als wir nach vier Stunden alles, wirklich alles besprochen hatten, und es schlicht keinen Grund mehr gab, nicht nach Hause zu gehen, gingen wir nach Hause. Ein jeder zu sich.

Müde. Eventuell ein Anflug von Lust auf Protestschlaf. Es war ja auch schon wieder dunkel. Und ich noch immer auf Frankfurter Zeit, wo die Sonne ja, gefühlt, einige Stunden später unterzugehen pflegte. Außerdem kalt. In der Post ein Buch mit Besonderen Liebesbriefen aus der Zeit. Einer von mir. Außergewöhnlich hübsch gestalteter Umschlag. Lauter grüne Herzen. Eines in Rot. Mit Prägung sogar: Arche. Wie passend. Wie schön.

4.1.

Im Himmel hing ganz tief ein Flugzeug, wie an den Wolken festgefroren. Ganz vorn in meiner Reihe hing ein Freak über seinem Textblatt und flüsterte die Lyrics eines mitreißenden Songs, den aber nur er über seine schallisolierten Headphones zu hören bekam. Nervte ein bisschen, war aber okay, weil er, der Freak also, dieses Seinen-Song-üben-müssen vor Antritt der Fahrt ganz artig den Umsitzenden angekündigt hatte. So dann auch mir. Und außerdem saßen wir alle zusammen nicht in einem Ruheabteil, bei dem, so eines hatte ich für die Hinfahrt irrtümlich reserviert gehabt, über den Fenstern ein Fries aufgeklebt ist aus Piktogrammköpfen, die im Profil ausgeschnitten ermahnend die Psst-Geste zeigen. Also durfte der Freak schon vom Prinzip unseres Abteilwagens her leise Geräusche machen. Sogar lautere noch als ein herkömmliches Psst. Wobei sich wahrscheinlich keiner von uns bei der Zusage richtig hatte vorstellen können, wie das dann werden würde mit ihm, dem mitten unter uns im Flüsterton performenden Freak.

Aber hätte man auf eine Probe seines Probierens bestehen dürfen? Seltsam, dass man sich dann mit verquältem Gemüt auf die gemachte Zusage besinnt, und sich unterschwellig den Kontrolleur herbeiwünscht. Dass der dann und final das Proben im Flüsterton untersagt, während er dem Freak das ausgedruckte Onlineticket zwickt – mit seiner Zange noch aus alten Dampfrosstagen. Ihn eventuell, diese Hoffnung schwang bei mir zumindest seidenleicht dahinter fühlbar mit: mit einem oldschool, bundesbahnschaffnerhaft erhobenen Zeigefinger darauf hinweisen könnte, dass »ein ICE kein Probenkeller ist«. Oder ähnliches dergleichen.

Wer Kinder dabei hat, die noch lauter schreien, als der Freak flüstern kann, den lässt das alles kalt. Freilich klingt ein Buchvorlesen aus rätselhaftem Grund auch labsalhafter in meinen Ohren als die im Bühnenflüstern vorgetragenen Refrainzeilen des Freaks, bei dessen Combo, Gruppe, Truppe, Band oder Formation es sich, so war ich mir nach einigen Probedurchläufen seines Songs, der mittlerweile auch schon halb zu unserem geworden war, zu meinem zumindest, so sicher wie das Amen in der Kirche: um eine Rage-Against-The-Machine- oder Marc-Ribot-hafte Formzertrümmerungsinstanz handelte, deren von ihr just selbst zertrümmerte Formrestbrocken umgehend und von ihm, dem Freak vermittels des Refraingesangs zu diesem bombensicheren Ungetüm von einem Monsterlied zusammengeleimt würden, von dessen Konturen ich zumindest während seiner Probe eine konkrete Vorstellung hatte gewinnen können. Das Bilderbuch, das dem unsichtbaren Kinde vorgelesen wurde, blieb mir hingegen schleierhaft.

 »Die sind so arm, dass sie sich nicht einmal Schuhe kaufen können«, erklärte die Großmutter.
Das Kind, empört: »Die sind doch noch klein!«
»Ja, aber die Eltern sind arm. Deshalb haben die Kinder auch kein Geld mehr.«
Dann, rasch ging es zurück aufs klassische Kinderbuchterrain: »Das ist gar kein Vogel, das ist der Fuß von der Hexe!«

Vor dem Fenster hatte sich das malerisch, weil in eine nicht zu hohe, nicht zu flache Hügelkette hinein entstandene Eisenach herausgeputzt, um von mir wahrgenommen zu werden. Ich sah es nämlich zum ersten Mal. Gerade heute, da alles hinter Frankfurt von einer dünnen Schneeschicht bedeckt war, sah Eisenach sehr hübsch aus und auf mich wirkte es dort auch lebenswert. Rasch spielte ich die Jahreszeiten durch, dann fuhr der ICE schon wieder weiter. Erfurt kannte ich schon, hatte mich aber trotzdem darauf gefreut, weil: bloß angenehme Erinnerungen. Auch weil Erik hier so glücklich war und ist. Nach den Heiligen Drei Königen würde ich mich bei Boris Lochthofen melden müssen, um die Sache mit dem Relaunch von Thüringen voranzutreiben. Wahljahr 2017 – wann, wenn nicht jetzt! (»Herrliches Eisenach«/»Märchenhaches Eisenhaft«/»Eisenhaft, hier werden Märchen mit Köpfchen gemacht«—s-trike!)

Nach seinem Schläfchen brach der Mann im gelben Unterhemd, der in der Zeit vor seinem Schlaf noch Freak gewesen war, in Richtung Zugspitze auf, wo er sich offensichtlich einen Wagen weiter, im kleinen Laden des Bordbistrots, dort zwei ganze Plastiktüten hatte vollmachen lassen mit Snacks, von deren Wohlgeschmack und Knusprigkeit er, zumindest klang es jetzt für uns danach, schon in Gedanken schwelgte. Denn beim Vorübergehen mit seinen Tüten machte er mit dem Mund Geräusche wie bei einer Weinprobe, aber halt ohne Wein.

Delitzsch: Der extrem weite (flach sind sie ja alle!) See und ringsum Ödnis war noch nicht einmal ein schwacher Trost für mich, der ich heute um die Kinzigtalsperre geprellt mich finden musste. Dafür reiste ich in einem sogenannten Sprinter schräg durch den Osten hinauf nach Berlin. Nun ja, die alte Route war mir auch lieb. Wenn nicht lieber – immerhin hatte es um Fulda herum noch etwas Schnee gegeben zum Angucken. Jetzt war der weg. Und aus der flach und immer nur noch flacheren, von Pfützen durchsiebten Einöde entstand bald, allzu bald schon The Empire of Siff, Berlin. Aus nackten Bäumen, triefend noch von schwarzem Lack, dahinter Dächer in den Farben unabgeschrubbter Möhren. Noch sah man die Menschen nicht.

Ich kenne gar nicht einmal so wenige Menschen, die hier leben und die sich, wenn sie zutraulich geworden, mir gegenüber mit dem mehr oder weniger gleichlautenden Problem offenbaren: sie können sich hier in Berlin schlecht bis gar nicht konzentrieren. Sind im Grunde nicht arbeitsfähig, beziehungsweise kriegen nur das Nötigste hin. Der Rest ihrer Energie geht fürs Energiesammeln beziehungsweise Regenerieren flöten. Sie, denn zur beinahe unisono klingenden Klage gehört ein gleichwohl oder übel geäußerter Verdacht: Glauben, dass es an den Menschen hier liegt. Das Problem vieler Menschen hier in Berlin wären demnach viele Menschen hier in Berlin. Unlösbar also. Von daher Punkt Punkt Punkt. Gut für die Reiseindustrie. Vermutlich ist deswegen der nichtfertigwerdenwollende Flughafen. Unter anderem. Zeichenhaft! Oder halt auch gerade nicht.

Ganz dunkel ist es erst dort wieder, wo ich aussteigen darf. Dunkel und schwarz, weil hier alles glitschig ist vom kalten Regen, aber deshalb halt auch null Schnee. Dafür ein Wind wie ausgedacht. Gibt es aber nur wenige auf der Erde: Freunde des Windes. Windgourmets, die beispielsweise auf Ferien in Chicago sparen. Der Wetterfrosch im Fernsehen fährt aber genießerisch mit beiden Händen an den langen roten Linien seiner Europakarte rauf und runter, und weist anhand dieser Klimaschründe auf die in den nächsten Tagen drohenden Stürme hin. Man hört es schon. Die ehrwürdigen Mauern des Gemäuers ächzen wie im Hörspiel. Auf dem Weg zum Supermarkt fällt mir Regen ins Gesicht und ich stelle fest, dass es nichts bringt, rechts abzubiegen in den kleinen Park, weil es dort ebenfalls regnet.

Dafür gibt es bei Kaiser’s heute Glückskekse geschenkt, weil von der Silvesteraktion noch ein halber Karton übrig ist.

Auf meinem Papierstreifen steht: »Ein Tag ohne Dich ist wie ein Glückskeks ohne Zettel«. Wenn mein Leben ein Roman wäre, würde ich den Satz – was schade gewesen wäre.

3.1.

Kaum dass wir aufgelegt hatten, kam von meiner Mutter noch eine Nachricht: Mein Füller war wieder aufgetaucht! Sie schickt ihn mit der Post nach Berlin. Mal schauen, wer von uns beiden eher dort eintrifft: er oder ich (mit dem ICE). Seltsamerweise wollte und wollte mir nicht einfallen, wo sich das Briefzentrum in Stuttgart befindet. Hier in Frankfurt kannte ich es ja mittlerweile zumindest von außen.

Auf jeden Fall aber fängt das Jahr somit gut an, ich las die Nachricht vom wiedergefundenen Füller nur zwischendurch und eingeschoben in meine Lektüre des großen Textes von Reinhard Mey, der in der Zeitung unter der selten vergebenen Rubrik »Ereignisse und Gestalten« gebracht worden war. Er erzählt den Anfang seines Lebensweges im Jahr 1967. Sehr schön und, wie beinahe immer, wenn es um die Ereignisse aus einer Zeit vor den Neunzigerjahren aus heutiger Perspektive geht, auch ganz schön abenteuerlich (Leben mit fast ohne Geld!). Vor allem kann er, Reinhard Mey, halt wirklich gut schreiben. Freiwillig würde man das ja nicht unbedingt lesen wollen, wenn ein Musiker seinen Werdegang beschreibt; also ich jedenfalls nicht (aber auf der Seite war schwarz-weiß das Bild eines sturmumtosten Helikopters abgebildet gewesen und darüber, von viel Weiß umgeben, nackt und bloß die Worte »Sturm und Drang«, die hatten mich angelockt; wobei das ja, wenn ich es allein so beschreibe, auch wieder tief blicken lässt. Also gerade nicht tief – oder nicht gerade).

Die Amaryllis war aufgegangen. Eine zweihälsige Blume mit insgesamt vier Blüten, alle in rot, die, als ich hier kurz vor Weihnachten eingetroffen war, noch sämtlich in grün verschalten Knospen steckten. Wenn ich in der Bahnhofsunterführung oder sonstwo ausgewachsene Amaryllis in ihren langen Kartons aus Holland oder Indonesien liegen sehe, bekomme ich fast immer Lust, mir eine zu kaufen, um in ihren Stiel hineinzubeissen, weil diese Stiele etwas Zwiebeliges auf mich ausstrahlen. Bei den kleinen hier ist das anders, aber die wachsen ja auch aus einem mit Erde gefüllten Topf und von daher gibt es keine Schnittfläche zu sehen, die mich zum Stengelbiss verführen könnte.

Am Himmel war eine lehmfarbene Wolke erschienen, der Himmel war durch sie allein zu einem Himmel auf einem Gemälde aus den Zwanzigerjahren geworden und wir hörten das Köln Concert von Keith Jarrett, alle Sätze, bis es dunkel war.

2.1.

Dringende Nachricht von meiner Mutter: »Haben eben dein Interv. in SWR 2 gehört«. Es ist noch nicht einmal sieben Uhr. Mein erster Gedanke ist nicht: Warum wird diese Sendung denn so früh gesendet?, sondern: Warum sind meine Eltern denn schon so früh auf? Umsonst gesorgt, am Telefon- sie geht sofort ran - klingt meine Mutter nicht nur munter, sondern auch gesund. Neujahrsgrüße, kurzer Abriss ihrer Silvestergeschichte: Bis um halb drei in der Früh war bei den Nachbarn von gegenüber noch gezecht worden, dabei wurden die Fotos vom Peru-Urlaub betrachtet — auf einem der Fotos, meine Mutter beschreibt es sehr genau, ist eins der dort heimischen Meerschweinchen zu sehen, mit einem für Peru-Urlauber ungewohnten Gesichtsausdruck, so als ob es sich erschreckt habe im Moment des mit Blitzlicht Fotografiertwerdens, doch kommt dieser Gesichtsausdruck, ich weiß das, denn ich war selbst schon dort im Lande der Inka, vom Gebratenwerden, denn Meerschweinchen werden dort, man glaubt es kaum, wie bei uns die Hendl verzehrt. Ich fragte meine Mutter, ob sie sich noch daran erinnere, dass dieses Meerschwein dem Nachbarn in Cuzco serviert worden sei, denn dort, in Cuzco, einem malerischen Andendorf am Ende des runway of the gods, hatte auch ich das eine oder andere cui, wie die possierlichen Kleinsäuger dort genannt werden, verdrückt.

»Cui — aha«, fiel meiner Mutter dazu ein. »Man nennt sie so, weil sie diese Geräusche machen: cui, cui, cui.«

Absolut. Beziehungsweise höchstwahrscheinlich. Es ging dann noch um die Abwesenheit einer Schneebar an Silvester vor dem Haus der Nachbarn. Weil es nicht geschneit hatte. Wieder einmal, wie man - wie ich fand: leider - sagen muss. Eben gar nicht leider, wie meine Mutter fand, denn, wie sie mich bereits vor Weihnachten ermahnt hatte, war das lediglich eine trügerische Erinnerung meinerseits, dass es früher an Weihnachten und Silvester immer und andauernd geschneit habe; sie, die diese von mir erinnerten Weihnachten und Silvester größtenteils mit mir zusammen verbracht habe, hatte die nämlich als größtenteils schneelos beziehungsweise kaum verschneit erlebt. So halt auch, sie war schließlich noch immer vor Ort, im Heimerdingen dieses Jahres, das nun ein vergangenes war.

Unterdessen hatte es hier in der Gass‘ unter dem Messeturm angefangen, schleimig zu schneien. Das Telefongespräch mit meiner Mutter hatte ich begonnen bei gelblichem Licht, ganz typisch an einem Morgen, wenn es zu schneien droht. Als ich die ersten Flocken trudeln sah, ging ich mit der Stimme meiner Mutter am Ohr in der Wohnung auf und ab und sah, dass dort im Hinterhof ein ganz anderer Schnee fiel als auf der Fassadenseite: dichter, trockener und - bei Schnee versteht sich das ja eigentlich von selbst, und trotzdem muss es hingeschrieben werden - reiner. Das kleine Rasenstück neben dem Fabrikgebäude, in dem ich einst meine Milchbar eröffnet haben würde, schien mir ohne meine Brille besehen bereits so dicht an dicht mit Flocken überzuckert wie eine Schwarzwälder Kirschtorte ohne Kirschen und mit nur ganz wenigen Schokoladenstreuseln.

Da drin herum hüpften zwei Amseln auf der Suche nach steifgefrorenen Regenwürmern oder solchen Schnecken, die es nicht mehr rechtzeitig unters Gebüsch geschafft hatten. In Berlin, so las ich, sollte es zwei Grad haben, dazu Nebel. Mich fror.

1.1.

Still wie am Neujahrsmorgen: Eine stehende Redewendung in welcher Sprache noch gleich? Auf jeden Fall ist es so still, als ob das an jedem Neujahrsmorgen so zu sein habe und einfach so ist. Schnee liegt auf den Dächern von Autos und Häusern. Ein kleines Räumfahrzeug gibt es auch. Von kurz vor Mitternacht an hatte sich der Nachthimmel in gelblichen Nebel verfärbt, der dann – man knallt hier in Frankfurt vergleichsweise disziplinierter als in Berlin, das Feuerwerk war nach zwanzig Minuten vorbei – in Form von stehenden Wolken durch unseren Hinterhof geweht wurde. Unheimlich, wie dann die sich beruhigende Nacht von vereinzelten Schlägen wiederhallte. Salvenhaftes Geknatter.

Zusammen im Bett liegen und sich dann an die schrecklichsten Betten erinnern, in denen man jemals gelegen hatte. Betten in fremden Ländern, Betten auf Reisen zumeist. Aber auch deutsche darunter. Im Traum hatte ich dann mit dem Relaunch eines Fühstücksflockenunternehmens zu tun. Also nicht allein mit deren Produkten, sondern vor allem auch mit der Kultur des Hauses, mit seiner Architektur vor allem. Mein Arbeitsplatz, insofern der sich überhaupt klar von meinem andauernden Herumstehen auf der allabendlichen Gartenparty, die dort zu den wesentlichen Bestandteilen der Unternehmenskultur gehörte, unterscheiden ließ, war an einem langen Tresen am Aufgang zur Sky Lobby, wohin ich die Nadel im Tonabnehmer eines Kofferplattenspielers zu tauschen gekommen war. Währenddessen nahm ich einen Telefonanruf von Tamara Rothstein an, die mir, noch während sie am Telefon mit mir sprach, mit verschlossen wirkendem Gesicht in den Arm einer Begleiterin untergehakt, entgegenschritt, woraufhin ich sie telefonisch darum bat, »sowas in Zukunft zu unterlassen«. Die müslihaften Mischungen waren in silbernen Tüten verpackt, die mich doch sehr an die Corporate Identity von Seitenbacher erinnerten. Zu sehr, und das sprach ich auch offen aus. Die Arbeit ging mir leicht von der Hand. Ich arbeitete mit Götz Offergeld zusammen, der Müslifabrikant selbst hielt sich den Traum über im Hintergrund (wie es schien). Ich weiß noch, wie da eine mich an die Chefstewardess Beatrice erinnernde Chefmüslimischerin mir aus einer silbernen Tüte ein appetitlich gelbes Gelee auf meine Müslimischung quetschte, auffordernderweise, und dass ich mich bei dem Aroma dieses Gelees an einen Antigrippesaft aus meiner Kindheit hatte erinnert gefühlt, einen dünnflüssigen Schluck aus braunen Glasampullen jeden Morgen, von denen meine Mutter immer beide Spitzen abbrach, sodass ich dann aus ihrer Hand meinen nach dem Traumgelee schmeckenden Saft aus der Ampulle schlürfen konnte.

In dem kleinen Interview mit dem Südwestfunk, das gestern Nachmittag aufgezeichnet wurde, fragte der Redakteur sehr viele gute Fragen. Beispielsweise las er mir eine Liste vor von Themen, die er aus den Tagebucheinträgen 2016 exzerpiert hatte. So untereinander geschrieben, klang diese Abfolge sogenannter Themen maximal wirr, also wirrstens, also sehr lustig, lustigst also, aber auf seine Frage, die ungefähr lautete: Wie kommen Sie darauf, was wählen Sie aus, blieb ich ihm die Antwort zur Hälfte wohl schuldig, weil ich ihm wahrheitsgemäß sagte, das Leben sei einfach so.